Joes
erster Tag
Am
6. Januar waren die beiden Kammern des US-Parlaments zusammengekommen,
um den Wahlsieg Joe Bidens zu bestätigen. Aber sie hatten die Rechnung
ohne den (Alt)Wirt gemacht. In einer wirren Rede sprach Trump vom
„Diebstahl“ der Wahl und forderte sein Anhänger auf, zum Kapitol zu
ziehen. 800 von ihnen blieben aber nicht dort stehen, sondern drangen
in das Gebäude ein. Dabei kam es zu haarsträubenden Szenen: Auf
Polizisten wurde mit Trump-Fahnen eingeschlagen, Abgeordnete flohen in
Panik, ihre Büros wurden besetzt und verwüstet, im Plenarsaal „tagten“
die „Proud Boys“/rechtsextreme Hooligans und Q-Anon Anhänger, und auf
einem Video sieht man Vizepräsident Pence und einen Offizier mit dem
Zweitexemplar des „Atomkoffers“/den „nuclear football“ die Treppe
hinuntereilen. Der Besitzer des Erstexemplars saß derweilen im Weißen
Haus, zeigte viel Verständnis für die Wut der Demonstranten und
forderte sie erst spät auf, „friedlich zu bleiben und nach Hause zu
gehen“. Der Chefankläger im Impeachment-Verfahren sagte später, der
Präsident habe die Fernsehbilder vom Sturm aufs Kapitol „genossen“.
Heftige
Kritik gab es am Verhalten der Sicherheitskräfte: „schlecht
vorbereitet, spät reagiert, auffällig zahm“ war der Tenor der Kritik.
Barrikaden wurden nicht verteidigt, sondern zur Seite geräumt, und es
soll sogar Selfies mit den Eindringlingen gegeben haben. Die
Nationalgarde wurde mit Verspätung alarmiert und zunächst eingesetzt,
um der Verkehrspolizei zu helfen. Bei den „Black Lives“-Demos im
Frühsommer 2020 war man martialischer aufgetreten. Beim Sturm auf
Kapitol gab es insgesamt fünf Tote, ein Polizist und vier
Demonstranten.
Keiner der hl Drei Könige
Das
2. Impeachment im Februar hat Trump trotzdem überstanden. Und es gab
Anzeichen, dass er zum Widergänger werden könnte. Die Minirevolte
republikanischer Abgeordneter und Senatoren war nach Druck von der
Basis schnell beendet, und auch der Fraktionsführer der Republikaner
Mitch McConnell stimmte für „Nicht schuldig“, obwohl er Trump
„moralisch und praktisch“ für den Sturm aufs Kapitol verantwortlich
hält. Aber das sagte er erst nach der Abstimmung. Mitte Februar gab es
dann Gerüchte über ein geplantes Attentat auf das Kapitol während
Bidens Rede zur Lage der Nation, und am 28. Februar wird Trump in
Orlando/Florida seinen ersten öffentlichen Auftritt inszenieren,
vermutlich um die Republikaner wieder enger an die Kandare zu nehmen,
die Abweichler zu erschießen und seine Kandidatur (und wahrscheinlich
gleich auch seine Wiederwahl) für das Jahr 2024 anzukündigen.
Im
August 2020 haben wir Ihnen Alexej Nawalny auf einem „Urlaubsfoto“
präsentiert. Er sitzt auf einer Parkbank im Schwarzwald, um sich von
den Folgen des Giftanschlags zu erholen, der, entweder von ihm selbst
oder in der Charité Berlin, aber nicht vom russischen
Inlandsgeheimdienst FSB verübt worden ist. Im Januar trat dann ein,
was er Ende des Jahres schon getwittert hatte:
„…
sie werden versuchen, mich ins Gefängnis zu bringen, weil ich nicht
gestorben bin“.
Das
ließ sich Putin nicht zweimal sagen. Nach einem spektakulären Rückflug
auf einem Sitz in der „glücklichen Reihe 13“ wurde er gleich nach der
Passkontrolle wegen angeblicher Verletzung von Bewährungsauflagen
festgenommen. Dazu hätte man aber die russischen Behörden ins
Krankenzimmer der Charité und – auf die besagte Parkbank schicken
müssen. Um seine Unterstützer auszutricksen, hatte man ein
Großaufgebot von Polizei und Sondereinsatzkräften auf dem vorgesehenen
Landeflugplatz platziert, dann aber die Maschine kurzfristig
umgeleitet. Aber um das Aufgebot zu beschäftigen, wurde am ersten
Flughafen auf einige Mitarbeiter Nawalnys zugegriffen.
Dann
ging es Schlag auf Schlag in dem ungleichen „Duell“ zwischen
Staatschef und seinem Kritiker. Zwei Tage nach der Festnahme löste
Nawalny sein Versprechen ein, „Wladimir Putin zu besuchen“. Sein Team
stellte ein Video auf Youtube, in dem Putin (höchst)persönlich
angegriffen wird, in dem über „angebliche Reichtümer, Geliebte, Lügen
und Seilschaften des Präsidenten“ gesprochen wird.
Kristallisationspunkt der Bloßstellung: der „Palast“ am Schwarzen
Meer, zwar nicht Putins Eigentum, aber ihm von einem „komplexen
Netzwerk“ von Sympathisanten zur Verfügung gestellt.
Putins Versailles
Die
Fotos sollen in einem waghalsigen Kommandounternehmen à la James Bond
von einer Drohne geschossen worden sein, die von einem Gummiboot aus
gestartet worden war. Das Video soll übrigens noch in Deutschland
geschnitten worden sein, aber Nawalny wollte vor der Veröffentlichung
zurück in Russland sein, um den Vorwurf zu vermeiden, er fürchte sich
vor den Konsequenzen.
Die
ließen dann nicht auf sich warten. Noch am Tage nach seiner Ankunft
wurde er (gewissermaßen zur Einstimmung) zu 30 Tagen verurteilt, die
er in einer Anstalt mit der (inoffiziellen) Bezeichnung „Matrosenruhe“
absitzt. Statt zur Ruhe aber rief er zu
landesweiten
Protesten auf, die „über zehn Zeitzonen hinweg und bei Temperaturen
bis zu minus 51 Grad“ Tausende von Menschen auf die Straße brachten.
Die Sicherheitskräfte gingen mehr als unverhältnismäßig vor und nahmen
3512 Menschen fest, für den Westen der Anlass, die Ereignisse „mit
Sorge“ zu beobachten, die „harschen Methoden“ zu kritisieren, und den
„Ruf nach Sanktionen“ laut werden zu lassen.
Nawalny
war in der Vergangenheit kein „lupenreiner Demokrat“ und
Menschenrechtsaktivist. Er nahm an Märschen der (Ultra)Rechten teil,
würde die Annexion der Krim wohl eher nicht rückgängig machen und
scheute nicht vor fremdenfeindlichen Äußerungen gegen russische Bürger
aus dem Nordkaukasus zurück. Aber der Mensch kann sich ändern. Und zu
ändern scheint sich auch die Sicht der Bevölkerung auf ihn und die
„Ereignisse“. Während vorher eine Mehrheit glaubte, dass seine
Vergiftung nur eine „Inszenierung“ oder die „Provokation westlicher
Geheimdienst“ war, haben seine Verhaftung (und Verurteilung im
Februar), das Video und die Brutalität der Sicherheitskräfte ein
gewisses Umdenken bewirkt. In einem Land, wo die Wirtschaft in der
Krise ist und der Mangel herrscht, finden Kritiker der Korruption und
der Verschwendungssucht der Eliten (Stichwort: Goldene Kloobürste)
leichter Gehör. Man wird sehen, ob es Putin gelingt, Nawalny im
Straflager zum Schweigen zu bringen.
Für
einen Hörer des Bayrischen Rundfunks ist Nawalny ein Vollpfosten, weil
er nach Russland zurückkehrte und ein „Krawallmacher“, dem es nur um
Selbstdarstellung geht. Dass so jemand ins Gefängnis gehört, hat er
zwar nicht direkt gesagt, vermutlich aber mitgemeint.
Die
SZ hat der Heimreise Nawalnys einen Leitartikel mit dem
Titel „Nawalny führt Putin vor“ gewidmet. Den scheint auch Putin
gelesen zu haben, und er hat ihm nicht gefallen. Im Februar ließ er
seinen Kritiker die ganze Härte des Gesetzes spüren.
Hoffentlich
nicht mehr!
Zweiter Versuch
AI-Nachrichten
- Pressefreiheit:
Im Jahre 2020 hat sich die Zahl der Attacken gegen Journalisten in
Deutschland verdoppelt. Es gab 252 Straftaten, darunter 22
Körperverletzungen und 33 Sachbeschädigungen. Die meisten Fälle kamen
aus dem rechten Milieu und bei Demonstrationen von Querdenkern. Ein
Sprecher des Journalistenverbandes kritisierte, dass die Polizei bei
diesbezüglichen Vorfällen „nur zögerlich dazwischengegangen“ sei“.
- Versammlungsfreiheit:
Eine solche Zögerlichkeit kann man der polnischen Polizei nicht gerade
vorwerfen. Sie geht gegen friedliche Demonstranten und
Demonstrantinnen immer aggressiver vor, setzt Unmengen von Tränengas
und „neue Schlagstöcke mit Teleskoparmen“ ein. Das bekamen auch die
Frauen zu spüren, die im Herbst 2020 gegen die Verschärfung des
Abtreibungsverbotes demonstrierten. Als beispielsweise eine
Abgeordnete, die sich nach festgenommenen Demonstrantinnen erkundigen
wollte, einem Polizisten ihren Abgeordnetenausweis zeigte, sprühte der
ihr Tränengas ins Gesicht. Vereinzelten Protesten von Kommandeuren
gegen den Missbrauch der Polizei als „prügelnder Arm der Partei“ PiS,
wurde finanziell begegnet. Es gab Sonderzahlungen für „erfahrenen
Polizisten“. Was „Erfahrung“ in diesem Zusammenhang bedeutet, kann man
sich vorstellen.
- Politische
Gefangene: Die Thailänderin Anchan Preleert, die Audioclips mit
kritischen Kommentaren über König und Monarchie auf den sozialen
Medien geteilt hat, wurde zu 43,5 Jahren Haft verurteilt. Die Frau ist
Mitte 60 und wird (nach dem Willen der Richter) ihren 100. Geburtstag
noch im Gefängnis verbringen. Sie wurde wegen „Majestätsbeleidigung“
verurteilt, und dazu holte man ein Gesetz aus der untersten Schublade,
dessen Anwendung sogar der König schon untersagt hatte.
„Ich hätt‘ da was, Herr König!“
-
Todesstrafe: Im Juli 2020 hätte Ex-Präsident Trump, wenn es sie
je gegeben hätte, seine allerletzten AI-Wähler vergrault. Da führte er
die Hinrichtungen auf Bundesebene wieder ein, die auf einem Gesetz
beruhten, das die Bundesjustiz 17 Jahre lang ausgesetzt hatte. Dadurch
war in der Meinung Trumps ein gewisser Nachholbedarf entstanden, der
zu decken war. Also wurden in den letzten sechs Monaten seiner
Amtszeit 14 Menschen hingerichtet. Das letzte Opfer war Lisa
Montgomery, die nach einer abscheulichen Kindheit ein abscheuliches
Verbrechen begangen hatte. Eine Woche vor ihrer Hinrichtung bat sie
Trump um Gnade, aber, „Ach“, so sagte schon Schillers Jungfrau von
Orleans, „es geschehen keine Wunder mehr“. Mit Lisa Montgomery wurde
zum ersten Mal seit 68 Jahren in den USA wieder eine Frau
hingerichtet. Möge sie (und die anderen 13 Hingerichteten) Trump auf
seinen Golfrunden erscheinen und seine Schläge verwirren!
Kurznachrichten
-
Menschenrechtsorganisationen wie AI kritisieren „Israels
institutionalisierte Diskriminierung“. Hinter dem sperrigen Begriff
verbirgt sich die Weigerung des Landes, das sich rühmt,
„Impfweltmeister“ zu sein, den Palästinensern hochwertigen Impfstoff
in ausreichenden Mengen zur Verfügung zu stellen. Israel verweist auf
die Zuständigkeit der Autonomiebehörde, die Palästinenser auf Israels
Verantwortung als Besatzungsmacht. Am Ende des Monats soll Israel dann
5.000 Impfdosen für medizinisches Personal bereitgestellt haben.
-
Eine „Spurensuche mit Hindernissen“ wurde die Mission der WHO genannt,
die den Ursprung des Coronavirus in Wuhan/China untersuchen wollte.
Den Experten, die sich schon auf den Weg gemacht hatten, wurde
zunächst die Einreise verweigert, weil Peking mit den „internen
Vorbereitungen“ nicht fertig geworden war, dann wurde jeder Einzelne
von ihnen einer gründlichen Gesichts- und Körperkontrolle unterzogen
(Vorsicht: Teilsatire), und schließlich wurde sichergestellt, dass man
nichts finden sollte, was Peking nicht preisgeben wollte. So sollten
beispielsweise die Nachforschung zu den ersten Patienten und dem Markt
in Wuhan ausschließlich chinesische Wissenschaftler übernehmen. Im
Februar gab es Gerüchte, dass Peking wichtige Rohdaten zurückgehalten
habe, Gerüchte, denen Mitglieder der Delegation aber eilfertig
widersprachen. Wir sind gespannt auf die Veröffentlichung des
Berichts.
-
Die irische Regierung hat sich für den Tod von Tausenden von Kindern
in Mutter-Kind-Heimen entschuldigt. In den Jahren von 1922 bis 1998
habe die Kindersterblichkeit in diesen Heimen, die (theoretisch) von
der Regierung kontrolliert und von religiösen/meist katholischen
Organisationen geleitet worden, bei 15 Prozent gelegen. Die Frauen,
die dort entbunden hätten, seien wegen ihrer außerehelichen
Schwangerschaft stigmatisiert worden, selbst wenn diese das Ergebnis
einer Vergewaltigung waren. Eine Frau, die das Heim überlebt hatte,
wählte eine drastische Formulierung: „Das war unser Holocaust.“
-
Wasser auf die Mühlen von Gegnern der EU und der deutschen
Entwicklungshilfe dürften Berichte sein, dass die Gelder „aus Berlin
und Brüssel munter weiterfließen“, obwohl einige Regime in Afrika
immer repressiver werden. So wurden in Uganda
54
Demonstranten zusammengeschossen, die gegen die Inhaftierung des
Oppositionskandidaten Bob Wine protestiert hatten, in Tansania die
Präsidentschaftswahlen gefälscht und Kritiker zu Hunderten verhaftet
und gefoltert. Bob Wine zieht eine bittere Bilanz:
„Mittlerweile
wissen wir, ohne die Hilfe des Westens gäbe es diesen Diktator schon
lange nicht mehr. Diese Länder sind Mittäter, sie interessieren sich
nicht für Werte und Menschen, sondern nur für Geschäfte.“
Für
Simbabwe hat Deutschland einen Mittelweg gewählt: die Regierung erhält
keine Finanzmittel mehr, es werden nur noch “regierungsferne
Maßnahmen“/lokale Projekte unterstützt.
-
Schlechte Noten erhielten einige EU-Staaten vom
UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR für die Behandlung von Flüchtlingen. Es
wäre „systematische Praxis“, dass Flüchtlinge abgeschoben werden, ohne
deren Anliegen im Einzelfall zu prüfen. Die Griechen zwingen Boote zur
Umkehr in die Türkei, die Kroaten prügeln die Menschen nach Bosnien
zurück, die Ungarn schieben ohne rechtmäßiges Verfahren nach Serbien
ab – und das unter tatkräftiger Mitwirkung der EU-Grenzschutzagentur
Frontex. Im Dezember 2020 hatte das oberste EU-Gericht weite Teile des
ungarischen Asylgesetzes für rechtswidrig erklärt. Als Folge zog sich
Frontex im Januar von seinem Einsatz in Ungarn zurück.
-
Mehr als unerfreulich ist der Sicherheitsreport der Münchner Polizei
für das Jahr 2020. Es gab 60 körperliche Attacken mit rassistischem,
antisemitischem oder schwulenfeindlichem Hintergrund, aber manchmal
genügte auch ein Streit um den Parkplatz, ein asiatisches (und damit
Covid-19 trächtiges) Aussehen oder ein Konflikt um die Maskenpflicht,
um zuzuschlagen. Und in einem Drittel der Fälle wurden nach dem Opfer
gleich auch noch die Sicherheitskräfte angegangen. „Auffallend viel
Hass“, kommentierte die SZ.
-
Ein extremer Vertreter dieser Clique von Hasskriminellen und
Verschwörungstheoretikern scheint der Vater des Attentäters in der
Shishabar von Hanau zu sein. Die Sprecherin der „Initiative 19.
Februar“, die sich um die Aufklärung des Attentats bemüht, hat ihn
„eine tickende Zeitbombe“ genannt, weil er, der sich in seiner Ehre
und seinen Grundrechten verletzt fühlt, damit drohte, „die
Wiederherstellung (derselben) würde mehrere Menschenleben kosten“.
Eine Verwandte hatte im Mai 2020 bei der Polizei angegeben, dass sich
das Verhalten des Vaters „sehr dem seines Sohnes vor der Tat ähnele“.
Derzeit streift er mit einem Schäferhund durch das Viertel und
verlangt die Rückgabe der Waffen seines Sohnes. Im Februar haben die
Hinterbliebenen der Opfer gegen ihn Strafanzeige wegen Beihilfe zum
Mord gestellt. Außerdem erhoben sie schwere Vorwürfe gegen die
Ermittlungsbehörden, die sich der Bundespräsident bei der Gedenkfeier
insofern zu eigen machte, dass er eine lückenlose Aufklärung von
Fehlern beim Polizeieinsatz zur „Bringschuld des Staates“ erklärte.
-
Wie, so fragt man sich, ist (im Alltag) mit Extremisten umzugehen?
Erschießen geht nicht – auch wenn ein deutscher Bürgermeister schon
einmal mit dem Gedanken spielte, den großen Waffenschein zu
beantragen, und bekehren funktioniert nur selten. Die Beobachterin des
Prozesses gegen den Mörder von Walter Lübcke hat für sich und uns eine
Lehre gezogen:
„Diese
Lehre kann nur sein, den Feinden der Demokratie zu widersprechen,
überall, immer. Damit sie sich nicht als Handlanger der schweigenden
Mehrheit fühlen. Das hat nichts mit Mut zu tun. Es gehört sich
einfach.“
Doch,
mit Mut hat es schon zu tun. Und, ehrlich gesagt, den haben wir nicht
immer.
-
Im Bundestag kam es zum Jahrestag der Befreiung des KZs Auschwitz zu
einem eindrucksvollen Auftritt zweier jüdischer Frauen. Die jüngere,
Maria Weisband, erzählte von den Belastungen, denen eine Jüdin in
Deutschland ausgesetzt sei, davon, wie die Polizei ihr geraten hatte,
bei der Gründung eines Stammtisches das Wort „jüdisch“ wegzulassen,
und was es bedeute, dass man zum Beten an Männern mit
Maschinenpistolen vorbeigehen müsse. Charlotte Knobloch, die ältere,
appellierte an die Abgeordneten „auf unser Land aufzupassen“. Und dann
blickte sie zur AfD und sprach sie direkt an:
„Ich
kann nicht so tun, als kümmerte es mich nicht, dass Sie hier sitzen.
Sie werden weiter für Ihr Deutschland kämpfen, und wir werden weiter
für unser Deutschland kämpfen – und ich sage Ihnen: Sie haben Ihren
Kampf vor 76 Jahren verloren.“
Nach
dieser Passage gab es keinen Applaus aus den Reihen der AfD.
Zwei kraftvolle Rednerinnen im Bundestag
Erfolgsmeldungen
- ansatzweise
-
Im Iran sprach sich Präsident Rohani für ein freies Internet aus.
Anlass war ein Verfahren gegen seinen eigenen Kommunikationsminister,
das von der erzkonservativen Justiz und von Hardlinern im Parlament
angestrengt worden war. Diese möchten das Internet einschränken, weil
es „gesellschaftliche Unsittlichkeiten“ fördere. Rohani hingegen
meint, das Internet sei „für die Menschen wie Sauerstoff“, und es
„wäre absolut falsch, dies nun einschränken zu wollen“. Rohani darf
bei den Wahlen im Juni 2021 nicht mehr antreten. Dann wird man sehen,
ob den Iranern auf dem Informationssektor noch Luft zum Atmen bleibt.
-
In Seoul/Südkorea verurteilte ein Gericht Japans Kriegsverbrechen an
den sogenannten „Trostfrauen“ und sprach ihnen eine Entschädigung von
je 75.000 Euro zu. Die Klägerinnen waren im 2. Weltkrieg gezwungen
worden, japanische Soldaten zu „trösten“, d.h. ihnen Sex-Dienste zu
leisten. Im Jahre 2015 hatte sich Japan entschuldigt und acht
Millionen Euro in einen Opferhilfe-Fonds eingezahlt. Damit war für
Japan die Sache „endgültig und unumkehrbar“ geregelt. Die Klägerinnen
fühlten sich „als Privatleute nicht ausreichend gewürdigt“ und
beharrten auf einer individuellen Entschädigung. Da Japan das Urteil
als „völlig inakzeptabel“ bezeichnet hat, werden die Frauen die
Auszahlung der Entschädigung wohl nicht mehr erleben.
Lee Young-Su, eine der Klägerinnen
-
Ein niederländisches Gericht hat das Tochterunternehmen von Shell in
Nigeria dazu verurteilt, mehrere Bauern für Ölverschmutzung zu
entschädigen. Das Urteil, so ein AI-Sprecher, habe „große Relevanz“,
weil auch dem Mutterkonzern eine „Sorgfaltspflicht“ auferlegt wurde
und er damit „für alle Unternehmensaktivitäten auch in anderen
Staaten“ verantwortlich gemacht werden könne. Mit dem Urteil
verknüpfen sich Erinnerungen an einen der schlimmsten Justizskandale
Afrikas. Im Jahre 1995 wurde der Menschenrechtler Ken Saro-Wiwa, der
gegen die Verseuchung des Niger-Deltas gekämpft hatte, mit acht
anderen Aktivisten von der nigerianischen Justiz zum Tode verurteilt
und gehängt.
-
Mit der Rechten geben, was man links genommen hat, zeichnet den Umgang
des Bamf/Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit dem Kirchenasyl
aus. Einerseits droht immer mehr Helfern ein Prozess, andererseits
wird das Amt die Abschiebefristen wieder von 18 auf sechs Monate
verringern, d.h. dass Deutschland für einen Flüchtling, der über ein
sicheres Drittland eingereist ist, zuständig wird, wenn es nicht
gelingt, ihn innerhalb von sechs Monaten zurückzuführen. Die Frist von
18 Monaten hatte die Gewährung des Kirchenasyl massiv erschwert. Das
Verfahren gegen die Äbtissin Mechthild Thürmer, die wir Ihnen im JB
2020 vorgestellt haben, scheint noch zu laufen, im März 2021 soll sie
den Göttinger Friedenspreis bekommen. Da kann man nur hoffen, dass sie
den nicht wie chinesische Friedensnobelpreisträger im Gefängnis
entgegennehmen muss.
Im
Februar erreichte die Helferkreise im Landkreis Miesbach eine
erfreuliche Nachricht. Vor drei Jahren hatte man in Fischbachau ein
Kirchenasyl für einen Iraker eingerichtet, der über Italien eingereist
war. Jetzt kam die Nachricht, dass er als Asylbewerber anerkannt wurde
– sogar ohne mündliche Verhandlung. In Ilmenau/Sach-sen hat er die
Probezeit am Krankenhaus bestanden und möchte sich zum Facharzt
ausbilden lassen. Wenn ihn Italien in den Irak abgeschoben hätte, wäre
er vielleicht schon einer amerikanischen Drohne oder einer iranischen
Miliz zum Opfer gefallen.
Kuriosa
-
In den USA haben sich die Republikaner zwei ganz „scharfe Bräute“ –
ich weiß, der Ausdruck ist politisch nicht korrekt, aber es geht nicht
anders – ins Repräsentantenhaus geholt. Aus Colorado kam Lauren
Boebert, die sich ihre Diäten bisher ausschließlich damit verdient
hat, jedem, der es wissen wollte (oder auch nicht) zu erklären, dass
sie ihre Pistole auch im Plenarsaal tragen werde. Zur ersten Sitzung
ging sie demonstrativ um den Metalldetektor herum. Und aus Georgia kam
Marjorie Taylor Greene: In der Vergangenheit hat sie in den sozialen
Medien verbreitet, dass die Schulmassaker von Waffengegnern inszeniert
wurden und dass man für Barack Obama schon das Podest für den Galgen
vorbereite. Ihre ersten Auftritte zeigten, dass sie sich nicht
geändert hat. Am Tage der Amtseinführung Bidens beantragte sie gegen
ihn ein Amtsenthebungsverfahren. Der Antrag wurde von keinem weiteren
Abgeordneten unterstützt, brachte ihr aber sicherlich ein Tweet von
Trump ein. Der soll auch dafür gesorgt haben, dass eine
Fraktionssitzung der Republikaner zum Thema „Greene“ kurzfristig
abgesagt wurde. Das Foto der beiden Damen belassen wir lieber beim
FBI.
-
Im Münchner Hofgarten haben 17 Coronaleugner den Gefangenenchor aus
Verdis Oper „Nabucco“ angestimmt. Da die Veranstaltung nicht
angemeldet war und weder Mindestabstände eingehalten noch Masken
getragen wurden, wird nun wegen des Verstoßes gegen das Versammlungs-
und des Infektionsschutzgesetzes gegen die Sänger ermittelt. Die 2.
Strophe werden sie u.U. im Hof von Stadelheim singen müssen. (Vorsicht
Satire!)
Coronaleugner hinter Schloss und Riegel
-
Kurz vor dem Sturm auf das Kapitol hatte am Jahresende der Sturm auf
(den Landkreis) Miesbach stattgefunden. Die Feiertage, das Wetter, die
Schneeverhältnisse und die Coronamüdigkeit hatten Massen von
Ausflüglern in die touristischen Hotspots gespült. Da der Inzidenzwert
auf über 200 gestiegen war, wurde vom Landratsamt ein Ausflugsverbot
erlassen. Das kann man akzeptieren oder auch nicht, aber inakzeptabel
war das Schild am Ortseingang von Miesbach, das die Behördensprache in
den derben Jargon der Haberfeldtreiber des 19. Jahrhunderts
übersetzte.
Sooo nicht!
Inakzeptabel
aber auch die Anwürfe gegen Landrat Olaf von Löwis of Menar, dem wegen
seines Nachnamens vorgeworfen wurde, dass es einem Ausländer nicht
zustehe, in Deutschland Verbote zu erlassen.
Zur
Ehrenrettung der Miesbacher sei aber auch erwähnt, dass man nach
Entfernung des Stinkefingerschildes ein Herz mit einer
Inklusionseinladung aufgestellt hat. Leider hat man dieses Schild
(fast) genauso schnell entfernt wie seinen Vorgänger.
Februar 2021
„Das einzige wirkliche Gefängnis ist die Angst.
Und die einzige wirkliche Freiheit ist die Freiheit von Angst.“
Aung Sang Suu Kyi
Es
geht, wie er Name der Spruchgeberin schon verrät, nicht um die Angst
vor der Freiheit der Querdenker, die im März auf dem Marienplatz in
München maskenfrei und in bester Stimmung Polonaise tanzten, sondern
um den Militärputsch in Myanmar, der das Land pünktlich zum
Monatsersten heimsuchte. Die „Mutter Suu“, wie die inoffizielle
Staatschefin vom Volk genannt wird, hatte noch im Dezember 2019 den
Einsatz der Generäle gegen die Rohingyas als „unangemessene Gewalt in
Einzelfällen“ verharmlost, die Gunst der Militärs aber eingebüßt, als
sie es wagte, im November 2020 die Wahlen zu gewinnen. Jetzt wirft man
ihr abwechselnd Wahlbetrug, Hochverrat, Verstöße gegen das
Telekommunikationsgesetz und Anstiftung zum Aufruhr vor. Derzeit steht
sie an einem „unbekannten Ort“ unter Hausarrest. Dass dieser Ort
irgendwo in Peking ist, sollte man im Bereich „alternative Fakten“
ablegen. Fakt aber ist, dass die Empörung über den Putsch weltweit
wäre, wenn nicht die „Paten“ China und Russland ihre schützenden (und
raffgierigen) Hände über die Generäle gelegt hätten. Der Putsch, so
die chinesische Nachrichtenagentur, sei eine“ größere
Kabinettsumbildung“ und damit eine „innere Angelegenheit“ des Landes.
Die
Problembeschreibung als „innere Angelegenheit“ wurde von weiten Teilen
der Bevölkerung aufgegriffen, allerdings mit einer anderen
Zielrichtung. Es kam zu Massenprotesten mit dem Drei-Finger-Gruß des
Films „Die Tribute von Panem“ und zu einem Generalstreik und
Demonstrationen von ganzen Berufsgruppen.
Protest der Lehrer
Obwohl
die Demonstranten mit großer Disziplin vorgingen, reagierte das
Militär wie zu erwarten war. Es gab viele Verhaftungen und im März war
die Zahl der Erschossenen schon dreistellig. Es ist „ein Krieg der
Armee gegen das Volk“, und unser Außenminister, der sonst in seiner
Wortwahl die Diplomatie in Reinkultur verkörpert, sprach von „einem
unerträglichen Ausmaß“ an Morden. Das Ausland reagierte mit
Sanktionen, eine UN-Resolution wurde von China und Russland blockiert.
Von wem denn sonst, wenn es um Demokratie und Menschenrechte geht?
Fortsetzung folgt.
Im
Juni kamen zu den Vorwürfen gegen Aung San Suu Kyi noch ein Verfahren
wegen Gier und Bestechlichkeit dazu. Ziel der Junta ist
offensichtlich, „die Staatsrätin für den Rest ihres Lebens von
politischer Betätigung auszuschließen und womöglich lebenslang hinter
Gitter zu bringen“.
Sie
haben Bedarf an weiteren Unruheherden? Nein? Liefern wir trotzdem.
-
Russland. Es kam zu heftigen Zusammenstößen zwischen den
Sicherheitskräften (verstärkt durch die Nationalgarde) und
Demonstranten, die nicht nur für Nawalny, sondern auch gegen Armut und
Ungleichheit protestierten. Die Medien, die noch nicht auf
Regierungskurs geschaltet sind, übten harsche Kritik an der Festnahme
oppositioneller Journalisten. Nawalny wurde zu einer Arbeitslagerhaft
von dreieinhalb Jahren verurteilt, zehn Monate Hausarrest wurden ihm
(gnädigerweise) angerechnet.
Dann
hatte Europa seinen Auftritt. Der EU-Außenbeauftragte wollte bei
seinem Besuch in Moskau die Forderung nach der Freilassung Nawalnys
überbringen, wurde aber unmittelbar nach der Pressekonferenz mit der
Nachricht abgewatscht, dass Russland drei westliche Diplomaten
ausgewiesen habe, weil sie an den Nawalny-Protesten teilgenommen
hätten. Und überhaupt, so Außenminister Lawrow (knallhart wie immer),
sei Russland bereit, die Beziehungen zur EU ganz abzubrechen. Dann
erließ der EGMR eine einstweilige Verfügung, in der er Nawalnys
Freilassung forderte, weil es im Lager ein Risiko für seine Gesundheit
und sein Leben gäbe, eine Behauptung, die von russischer Seite als
„unbegründete und schamlose Einmischung“ abgetan wurde. Anfang März
gab es dann Sanktionen gegen vier hochrangige Beamte, deren Wirkung
von der SZ stark relativiert wurden.
„Russland
wurde übersanktioniert bis zur Wirkungslosigkeit. … Entweder muss
die EU kräftiger zuschlagen (also Nord Stream 2 stoppen), oder sie
muss andere Hebel finden.“
z.B.
„die Beziehungen zu Russland ganz abzubrechen“. Geht wohl genauso
wenig wie umgekehrt!
-
Belarus: Nach monatelangen Massenprotesten räumte Oppositionsführerin
Tichannowskaja eine vorläufige Niederlage gegen Machthaber Lukaschenko
ein. „Ich muss zugeben, wir haben die Straße verloren“, räumte sie
ein. Wir fügen respektvoll hinzu: „Aber ihr habt lange durchgehalten.“
Zwei der letzten Opfer der Staatsjustiz wurden die Radiojournalistin
Andrejewa und ihre Kamerafrau Tschulzowa. Sie hatten im November 2020,
vom 14. Stock eines Wohnhauses aus, die Szene gefilmt und kommentiert,
in der Roman Bondarenko von maskierten Männern zu Tode geprügelt
worden war. Vom Gericht wurden sie wegen „Koordinierung des Protestes“
– und das vom 14. Stock aus – zu zwei Jahren Straflager verurteilt.
Zwei
Frauen im Käfig
Erwischt
hat es auch zwei hochrangige Vertreter der beiden großen Kirchen. Das
ist umso erstaunlicher, weil die Kirchenleitungen in der Vergangenheit
völlig unpolitisch agiert hatten. Nach den Wahlen hat der orthodoxe
Metropolit Pawel (dem Verlierer) Lukaschenko zum Wahlsieg gratuliert,
sich dann aber kurz darauf mit Opfern von Polizeigewalt getroffen.
Sein Kollege von der katholischen Kirche, Erzbischof Kondrusiewicz,
äußerte schnell Kritik an den Machthabern. Dieses Verhalten ist nicht
zuletzt dem Druck der Basis zu verdanken, die als Christen an den
Massenprotesten teilnahmen, Verhaftete unterstützten und
Friedensgebete veranstalteten. Der Metropolit wurde vom Moskauer
Patriarchat, dem er unterstellt ist, nach Russland versetzt, der
Erzbischof nach einer Auslandsreise an der Grenze abgewiesen. Kurz vor
Weihnachten durfte er nach Intervention des Papstes wieder einreisen.
(Verstörende)
Kurznachrichten
-
Zur Wahrung der Bürgerrechte und zur besseren Verbrechensbekämpfung
hat Brasiliens Präsident Bolsonaro die Steuer auf Waffenimporte
abgeschafft. Damit „werden die Knarren billiger, in einem Land, das
ohnehin schon zu den gewalttätigsten der Welt gehört“. Kritiker
behaupten, dass er präventiv seine Anhänger bewaffnet, damit sie
eingreifen können, wenn er die Wahlen verlieren sollte. Sie dürfen
dreimal raten, wer Bolsonaros Vorbild ist.
-
„Ich bin eine Geisel und diese Villa ist in ein Gefängnis verwandelt
worden“. So äußerte sich Sheikha Latifa, die Tochter des Emirs von
Dubai, der seinen Ehefrauen und Töchtern ein übler Familientyrann ist,
sobald sie Anstalten machen, sich aus ihren goldenen Käfigen
abzusetzen. Latifas Schwester Shamsa ließ er 2002 aus Cambridge
entführen, seine Ehefrau Haya, ebenfalls flüchtig, erreichte in einem
Prozess vor einem Gericht in London, dass er für „Entführungen, Folter
und Morddrohungen“ verantwortlich sei, und Latifa selbst wurde 2018
nach einem filmreifen Fluchtversuch in einem Gummiboot in
internationalen Gewässern „gekapert“ und nach Dubai zurückgebracht. Im
Nebenberuf betätigt sich der Emir als Dichter und kommentierte die
Flucht seiner (sechsten) Ehefrau im Stil der Erzählungen aus 1001er
Nacht: „Du Verräterin, Du hast das kostbarste Vertrauen verraten, und
Dein Spiel wurde enthüllt.“ Vom Verhalten einmal abgesehen, wer so
dichtet, sollte nicht einmal eine Frau bekommen. Im April forderten
Menschenrechtsexperten der UN ein Lebenszeichen von der Prinzessin, im
Mai kursierten Fotos, die sie beim Kaffeetrinken in einem
Einkaufszentrum zeigen. Ihr Lächeln wirkt mehr als verhalten.
Latifa
(Mitte) in Freiheit?
-
Die US-Regierung veröffentlichte mit Verspätung den CIA-Bericht zur
Ermordung des saudischen Journalisten Khashoggi im Jahre 2018. Der
Bericht kommt zu dem Schluss, dass der saudische Kronprinz bin
Salman/MbS die Tötung billigte. Das wusste eh schon jeder, aber
solange Trump Präsident war, durfte man es nicht sagen. Den
Kronprinzen nennt man übrigens „Abu Minshar/Vater der Knochensäge“.
Warum – möchte ich Ihnen ersparen! Als Biden gefragt wurde, ob man
gegen MbS noch vorgehen würde, wich er aus.
Im
März haben ihn die „Reporter ohne Grenzen“ in Deutschland angezeigt.
Vom deutschen Strafgesetzbuch für Völkerrecht könnte man durchaus
wegen eines „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ ermitteln, aber da
gibt es ein Hintertürchen: Von Ermittlungen kann man absehen, „wenn
sich der Beschuldigte nicht im Inland aufhält und ein solcher
Aufenthalt auch nicht zu erwarten ist“. Der Staatsanwalt wird dieses
Hintertürchen nehmen. Die Wette gilt!
-
Bei einem Einsatz gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK im Nordirak
ist das türkische Militär in einer Höhle auf die Leichen von 13
Menschen gestoßen. Das Militär spricht von unbewaffneten Zivilisten,
die hingerichtet wurden, die PKK von gefangenen Soldaten, Polizisten
und Geheimdienstlern, die bei Kämpfen ums Leben gekommen seien. „Die
Angaben beider Seiten konnten nicht unabhängig überprüft werden.“
-
Einen Tag vor Weihnachten fand man in München-Freimann zwei
Kompottgläser, deren Inhalt als „Wurfbrandsatz“/Molotowcocktails
eingestuft wurden – und das in der Nähe einer Moschee. Verstörend ist
aber nicht nur der Fundort, sondern auch die Einordnung durch die
Polizei. Sie ging zunächst von linksextremen Tatverdächtigen aus, weil
sich in der Nähe des Fundorts nicht nur ein Auslieferungslager von
BMW, sondern auch Bahnanlagen mit Lokomotiven befinden – und
Linksextreme ja hinlänglich dafür bekannt sind, dass sie BMWs ablehnen
und mit Lokomotiven nicht spielen, sondern sie in die Luft jagen. Erst
die Intervention eines grünen Stadtrats veranlasste die Kripo, die
Augen auch nach rechts zu richten, wo man Moscheen (und Synagogen)
nicht so gerne sieht.
-
„Debattenkultur ungenügend“ – so muss man das Verhalten der AfD in
deutschen Landtagen bewerten. Die Losung heißt „Auffallen und Regeln
brechen um jeden Preis“. Und das geht am besten, durch Provokationen,
Zwischenrufe und Beleidigungen. So musste sich Malu Dreyer, die
Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz sagen lassen, dass sie (und
nicht etwa Covid-19) für die vielen Toten in den Altersheimen
verantwortlich sei. Und Muhterem Aras, die Landtagspräsidentin von
Baden-Würt-temberg, musste AfD’ler schon dreimal von der Polizei aus
dem Plenarsaal entfernen lassen, weil sie ihre Autorität als
Sitzungsleiterin in Frage gestellt hatten. Aber ein „autochthoner
Deutscher, der zu einem hellhäutigen Volk gehört, das seit
Jahrhunderten hier ansässig ist“, kann sich doch von einer Präsidentin
mit einem solchen Namen nicht zur Ordnung rufen lassen!
Dass
AfD’ler nicht nur Täter, sondern auch Opfer sein können, ist nicht die
Regel, sondern eher die Ausnahme – aber trotzdem nicht zu akzeptieren.
Auf dem Marktplatz im schwäbischen Schorndorf haben Antifa-Leute einen
AfD-Infostand zerstört und ein Parteimitglied verletzt. Auf der
Webseite der Antifa hörte sich das so an: „In Schorndorf haben mutige
(!) Antifas einen AfD-Infostand besucht und so zurückgelassen, wie es
sich gehört“. Hirnrissigkeit ist kein Alleinstellungsmerkmal der
Rechten. Da möchte ich zur Auflockerung auf meinen Auftritt beim
AfD-Stand in Miesbach hinweisen. Ich bin (mit etwas Herzklopfen) zu
den beiden AfD’lern hingegangen und habe etwa folgendes gesagt: „Ich
möchte mich auf keine Diskussion einlassen, aber ihr solltet euch
schämen und umkehren.“ Ich glaube, die haben gemeint, ich sei von der
Heilsarmee.
-
Mehr als unfreundlich gehen manche Schüler mit ihren Lehrern (und
Lehrerinnen) um. Laut einer Forsa-Studie sind im Jahre 2020 satte 32
Prozent der Lehrkräfte über das Internet belästigt oder bedroht
worden. Vom Cybermobbing betroffen sind auch die Schüler selbst – aber
eher von Seiten der Mitschüler als von Seiten ihrer Lehrer.
-
Und im badischen Singen, wurde ein 11-jähriger Sinto, bei dem man ein
“kleines Messer“ entdeckt hatte, von zwei Polizisten abgeführt, die
Hände in Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Im März wurde gegen
die beiden Polizisten ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.
AI-Meldungen
(die übliche Mischung)
-
“Menschenrechtlerin verurteilt – Frauenrechtlerin freigelassen“, eine
Schlagzeilenabfolge innerhalb von fünf Tagen, nicht untypisch für eine
Welt, wo man Abweichler(innen) zunächst einmal ins Gefängnis steckt,
um sie dann bei Gelegenheit wieder freizulassen – selten vorzeitig,
oft nur unter Auflagen und manchmal auch gebrochen. Verurteilt wegen
„Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“/Arbeit in einer
prokurdischen Zeitung wurde in der Türkei unsere alte Bekannte, die
Menschenrechtsanwältin Eren Keskin, vorzeitig aber unter strengen
Auflagen freigelassen wurde in Saudi-Arabien Loujain al-Hathloul, die
durch ihre Kampagne für ein Ende des Fahrverbots für Frauen bekannt
wurde, ein Fahrverbot, das der Kronprinz kurze Zeit später
(gnädiglichst) aufhob. Damit Loujain aber nicht auf dumme Gedanken
kommt, verhängte man gegen sie ein Reiseverbot von fünf Jahren. Ob sie
jetzt wenigstens um den Block fahren darf, weiß man noch nicht. Im
März hat ein Berufungsgericht, trotz unseres Einspruchs beim König,
die Auflagen bestätigt.
In
Haft bleibt in Hongkong der Verleger Jimmy Lai. Unter dem neuen
Sicherheitsgesetz kann man derzeit in Hongkong jeden einsperren, der
mit der Demokratiebewegung liebäugelt – und der “lange Arm der KP
Chinas reicht inzwischen bis nach Deutschland“. Bei einer Kundgebung
in Hamburg sind Teilnehmer von (regimetreuen) Gegendemonstranten
„mutmaßlich zum Zwecke der Einschüchterung fotografiert worden“. Einer
der Artikel des Gesetzes besagt übrigens, dass es für weltweit jeden
gelte, der einen dieser Straftatbestände (Gefährdung der nationalen
Sicherheit, Spaltung des Landes etc.), erfülle. Ob da schon die Kritik
an der Unterdrückung von Minderheiten darunterfällt? Im Mai wurde dann
Jimmy Lai zu weiteren 14 Monaten verhaftet. Gott sei Dank hat die
Justiz eine Demo von 2019 ausgraben können, sonst hätte man ihn glatt
freilassen müssen. Auch bei Joshua Wong, dem „Gesicht der
Demokratiebewegung“ hat man weitere zehn Monate draufgesattelt, weil
er im Juni 2020 an einer Mahnwache für die Opfer des Tiananmen-Platzes
von 1989 teilgenommen hatte.
-
Gerichtsurteile: Da haben uns einige befriedigt, andere eher
verärgert. In Belgien wurde der iranische Diplomat Assadollah A. zu 20
Jahren Haft verurteilt. Er wurde für die Planung und
Materialbeschaffung für ein Attentat auf Exil-Iraner in Frankreich
2018 verantwortlich gemacht. In Koblenz kam es zu einem „historischen
Schuldspruch gegen einen syrischen Folterhelfer“. Eyad A. hatte für
„ein Greifkommando gearbeitet, das Syriens Foltersystem mit Opfern
fütterte“. „Historisch“ ist das Verfahren deswegen, weil sich erstmals
weltweit Mitglieder syrischer Geheimdienste nach dem Weltrechtsprinzip
verantworten mussten, das es ermöglicht, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit an jedem Ort der Welt zu ahnden. Präsident Assad (und
andere) sollten also bei der Wahl ihrer Urlaubsziele vorsichtig sein.
Eine Entscheidung des BGH untermauert dieses Urteil. Kriegsverbrecher
und Völkermörder genießen in Deutschland keine Immunität, selbst wenn
sie Angehörige ausländischer Streitkräfte oder ausländische
Hoheitsträger sind. An US-Soldaten wird man sich eher nicht
heranwagen.
Bestimmte
Urlaubsziele zu meiden könnte auch einmal israelischen Politikern und
Hamas-Leuten zu raten sein, denn der Internationale Gerichtshof hat
sich für Kriegsverbrechen israelischer Soldaten und für Terrorangriffe
aus dem Gazastreifen zuständig erklärt.
Gefreut
hat uns der Freispruch von Sigrid Maurer, Fraktionschefin der Grünen
im Wiener Parlament. Sie hatte vor zwei Jahren sexistische
Beleidigungen erhalten und diese auf Facebook öffentlich gemacht. Die
Beleidigungen stammten vom Laptop eines Mannes, der als „Bierwirt“
bekannt ist. Der Mann zeigte sie wegen übler Nachrede an und führte
an, die Obszönitäten seien von einem Kunden namens „Willi“ verfasst
worden waren. Als sich besagter Willi nach einigem Zögern einstellte,
sagte er, er sei es nicht gewesen. Und als ein neuer Anwalt dem
Bierwirt riet, seine Klage wegen Aussichtslosigkeit zurückzuziehen,
kam er dem nach. Das Gericht legte zum Freispruch sogar noch einen
drauf, denn es bezeichnete das A-Wort, mit dem Frau Maurer ihren
Kontrahenten in einem privaten Chat bedacht hatte, „angesichts der
Perversitäten … als gerechtfertigt“, wenn auch „unglücklich gewählt“.
Ende
April erschoss der „Bierwirt“ dann seine Ex-Frau und leistete damit
seinen „Beitrag“ zur Diskussion über Femizide, die derzeit in
Österreich mit großer Intensität geführt wird, denn laut Statistik ist
Österreich das einzige EU-Land, in dem mehr Frauen als Männer Opfer
von Gewaltverbrechen werden.
-
Todesstrafe: „In Virginias langer Geschichte hat dieser Staat mehr
Menschen hingerichtet als jeder andere Bundesstaat“, so erklärten
Gouverneur und Parlament die Abschaffung der Todesstrafe in diesem
Bundesstaat, der neben Texas zu den hartleibigsten Vollstreckern der
Todesstrafe in den USA zählte. Die Maßnahme könnte Signalwirkung
haben, denn Virginia ist der erste Bundesstaat im konservativen Süden,
der diese „archaische Praxis“ aufgibt. Sie spiegelt auch den
Bewusstseinswandel, den die amerikanische Gesellschaft, nicht zuletzt
im Gefolge der „Black Lives Matter-Bewegung“, durchmacht: die
Todesstrafe ist in den USA längst nicht mehr (so) populär, Präsident
Biden lehnt sie ab. Da erinnere ich mich an eine Aktion vor der
früheren US-Kaserne in Bad Tölz aus der grauen Vorzeit von
AI-Miesbach: Wir verteilten Flugblätter gegen die Todesstrafe an
Soldaten und deren Frauen und erhielten häufig die Antwort: „It serves
them right/Es geschieht ihnen recht.“
Erfolgsmeldungen
– die gab es auch
-
In Nigeria herrscht Hochkonjunktur bei Überfällen auf Schulen und
Entführungen von Schülern und Lehrern. Man hat bereits Probleme, die
Schulorte und die Zahl der Entführten auseinander zu halten. Umso
erfreulicher ist, dass zwei dieser Entführungsfälle im Februar und
März mit der Freilassung der Kinder und Lehrer endeten. Dass an Boko
Haram oder an eine andere „bewaffnete Bande“ Lösegeld bezahlt wurde,
ist wahrscheinlich, lädt zu Nachahmungstaten ein – und ist trotzdem
nicht zu umgehen.
Sehr
befreit schauen sie nicht aus!
-
Auf Kaution freigelassen wurde auch die indische Klimaaktivistin Disha
Ravi. Sie hatte Kampagnenmaterial zu den Bauernprotesten mit Greta
Thunberg geteilt und zwei Zeilen dieses Materials bearbeitet. Im
Gerichtssaal wurde daraus eine Anklage wegen „Hochverrats“ und
„Kriegsführung gegen Indien“ fabriziert. Nach einer Woche Haft befand
das Gericht, dass „die Beweise dürftig und unzureichend seien“. Aber
immerhin ist es gelungen, Regierungskritiker weiter einzuschüchtern.
-
Während Donald Trump den Herrschern in Ägypten und Saudi-Arabien
signalisiert hatte, dass es ihm egal sei, wie sie mit ihren Untertanen
umspringen, wird unter Joe Biden nicht nur über Dollars, sondern
(zumindest was die Außenpolitik betrifft) auch über Werte gesprochen.
Und siehe da, die haben bereits Wirkung: In Ägypten kamen inhaftierte
Aktivisten frei, Saudi-Arabien wandelte einige Todesstrafen in
Haftstrafen um – und ließ, wie erwähnt, Loujain al-Hathloul frei.
-
Und dann gab es noch einen Festakt in der Kölner Synagoge. Bei dieser
Feierstunde wurde der 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland
gedacht, und Präsident Steinmeier fand die passenden Worte, als er auf
den Beitrag des Judentums zum „Aufbruch Deutschlands in die Moderne“,
aber auch auf die (fortdauernde) Gefährdung jüdischer Existenz in
unserem Lande hinwies.
„Die
Bundesrepublik Deutschland ist nur vollkommen bei sich, wenn Juden
sich hier vollkommen zu Hause fühlen.“
Zur
Erinnerung an düstere Zeiten ein Foto aus einer Bilderserie mit den
Habseligkeiten, die man den KZ-Häftlingen abgenommen hat.
Die
letzten Dinge
Kuriosa
– es wäre ja eigentlich Fasching gewesen
-
Ein 44-jähriger Anwalt ist (nach einer ersten Abfuhr) vor den
Bundesgerichtshof gezogen, weil er Diskriminierung wegen seines
(Mittel)Alters erfahren hat. Er wurde im August 2017 nicht zum
„Isarrauschen“ auf der Praterinsel zugelassen, weil der
Geschäftsführer Anweisung gegeben hatte, „ältere Semester“ abzuweisen,
und der Türsteher ihn (vielleicht mit einem Blick auf Bauch und
Falten) kurzerhand weggeschickt hatte. Er möchte 1000€ Schadenersatz,
der BGH ist noch „auf der Suche“, ob „altersmäßige Sortierung“ erlaubt
sei. Hat ja sonst nichts zu tun – der BGH!
-Arg
diskriminiert durch die Einschränkung der Grundrechte in der Pandemie
fühlten sich auch die etwa 100 Teilnehmer am 1. Bürgerstammtisch
Miesbach, die in teils wirren Redebeiträgen auf Politiker, Polizei und
Medien losgingen. In der Dunkelheit, ich kam aus Versehen hinzu und
hielt es nur fünf Minuten aus, konnte man nicht sehen, ob die
Maskenpflicht, wie von den Veranstaltern behauptet, tatsächlich
eingehalten wurde. Der Merkur konnte es sich nicht
verkneifen, seinen kritischen Artikel mit einem besonders dümmlichen
Zitat des Hauptredners zu beenden. Der meinte:
„Ich
sammle keine Fakten mehr, ich will zurück zur Intuition. Wir alle
haben das göttliche Licht in uns.“
Ich
weiß nicht, wie das göttliche Licht leuchtet, aber intuitiv würde ich
sagen – so nicht!
Und
darauf das Foto von der Polonaise am Marienplatz in München!
-
Da haben wir viel mehr Sympathie mit den bayrischen Schulen, die den
Ausfall der Faschingsferien etwas abmildern wollten, z.B. keine
Hausaufgaben aufgeben, weniger Videokonferenzen abhalten – kurz, den
Schülern „eine kleine Verschnaufpause“ gönnen. Das Kultusministerium
war nicht „amused“. Es wurden Schulen abtelefoniert, ob die Lehrer
auch auf ihren Plätzen (am Laptop) waren, und die Schulämter wurden
angehalten zu „petzen“, ob die Schulen etwa „Unterricht light“
machten. Da wird sich dann der Schulrat oder Schulleiter als Putzfrau
verkleidet haben, um sich (unverdächtig) ein Bild zu verschaffen.
März
2021
„Hoffnung
ist nicht der Glaube daran, dass etwas gut ausgeht.
Sondern
es ist die Gewissheit, dass etwas Sinn hat.
Egal
wie es ausgeht.“
Václav
Havel
Dem
glauben wir es!
Krisengebiete,
Krisenopfer
- Myanmar:
Der „Krieg der Armee gegen das Volk“ ging mit großer Härte weiter. Es
kam zu regelrechten Jagdszenen auf Demonstranten, zu Exekutionen auf
offener Straße, die von Polizeikollegen bejubelt, von den
Protestierern minutiös gefilmt werden. China hält seine schützende
Hand über der Junta, verhinderte (mit Russland und Indien) eine
schärfere UN-Resolution, forderte aber die Einstellung „aller Akte der
Gewalt“, als es Brandattacken auf chinesische Fabriken gab. Mit den
Gewalttätern waren natürlich die Demonstranten gemeint. Ob die
Brandattacken „antichinesischen Ressentiments“ geschuldet sind oder,
so eine (durchaus stichhaltige) „Verschwörungstheorie“, ein
schmutziger Trick der Junta ist, um die Repression zu verstärken,
blieb offen. Den „Tag der Streitkräfte“ Ende März feierte das Militär
und die Polizei in gebührender Weise: Man ging mit gezielten
Kopfschüssen gegen (unzulänglich) bewaffnete Zivilisten vor, es soll
114 Tote gegeben haben. Der russische Vize-Verteidigungsminister, der
sich die Parade angeschaut hatte, war nicht darunter.
Asymmetrische
Kriegsführung
Alle,
die bei der UN mit Menschenrechten befasst sind, forderten die
internationale Gemeinschaft zum Handeln auf: im Gespräch sind
schärfere Sanktionen, ein Waffenembargo und der Boycott der
Geschäftsverbindungen, die von der Junta betrieben werden. Die
Geldfabrik im Louisenthal, die bisher das Material für den Druck der
Landeswährung Kyat geliefert hatte, verhängte (nach heftigen
Protesten) einen Lieferstopp. „Die Gewaltexzesse waren einfach zu
viel“, meinte der Vorstandschef. Das meinen wir auch!
- Fall
Nawalny: Da kam es von Seiten der USA und der EU zu
„symbolischen Sanktiönchen“ gegen Russland. Einige „hochrangige“
Regierungsvertreter und Justizbeamte wurden mit Einreise- und
Vermögenssperren belegt, Präsident Putin aber, bei dem es was zu holen
gäbe, blieb ausgespart. Dann gab es tagelang kein Lebenszeichen von
Nawalny. Dann kam auf Instagram die Nachricht, dass er in die
„Besserungsanstalt 2“ in Pokrow verlegt worden ist. Die Anstalt gilt
als besonders streng, und Nawalny bezeichnete sie als „echtes
Konzentrationslager“, wo die Häftlinge „es nicht wagten, den Kopf zu
drehen“. Er selbst werde „durch Schlafentzug gefoltert“.
Für
uns AI’ler etwas verstörend war die Nachricht, dass AI Nawalny den
Status eines (gewaltlosen) „Gewissensgefangenen“ entzogen habe, weil
er in der Vergangenheit in Videos zum Hass aufgerufen und Gewalt
(gegen kaukasische Terroristen) nicht ausgeschlossen habe. Nach
heftiger Kritik bemühte sich AI um Schadensbegrenzung: Man entzog ihm
zwar das Attribut „gewaltlos“, stufte seine Haft aber weiterhin als
„rein politisch motiviert“ ein und verblieb bei der Forderung nach
sofortiger Freilassung. Damit können wir leben – und weiter
protestieren.
Die
SZ, die schon öfter gegen Nawalny „gestänkert“/auf die
dunklen Seiten seiner Vergangenheit hingewiesen hatte, hat der
Entscheidung von AI einen langen Artikel gewidmet.
- Russland:
Bleiben wir in der Heimat Nawalnys. Dort zeigte die Moskauer Polizei,
wie man mit Leuten umspringt, die mit der Regierungspartei „Einiges
Russland“ nicht einer Meinung sind. Die oppositionellen Politiker und
Journalisten aus 50 russischen Regionen, die in einem Hotel zu einem
zweitägigen Forum zusammengekommen waren, hatten gerade mal Zeit, sich
zu begrüßen, dann wurde die Versammlung nach einer halben Stunde
unsanft aufgelöst. Es gab 200 Festnahmen. Grund für die schnelle
Aussendung der Polizei könnten die schlechten Umfragewerte der
Regierungspartei sein. Und im Herbst sind Wahlen zur Staatsduma.
- Ungarn:
Dort verlor der „letzte landesweite, unabhängige Radiosender
Klubrádio“ seine Lizenz, der jüngste Schlag, den das Regime in
Budapest gegen die kümmerlichen Restbestände an freien Medien im Lande
führte. Da wir nicht von Viktor Orbán abhängen, übergeben wir das Wort
an András Arató, den Leiter des Senders:
„Bis
heute weiß die EU keine Antwort darauf, dass einige Regierungen
grundlegende demokratische Werte missachten und ihr Land in Richtung
populistisch-nationalistischer Halbdiktatur führen, gleichzeitig
aber das Geld der europäischen Steuerzahler einkassieren und
größtenteils dazu verwenden, ihre Klientel zu mästen.“
Orbán,
so der pessimistische Ausblick einer deutschen Journalistin auf die
Zukunft des Landes, „ist gekommen, um zu bleiben“. Nach den langen
Jahren russischer Besatzung hat das Ungarn nicht verdient.
- Philippinen:
Präsident Duterte hat dort erneut zur Menschenjagd aufgerufen.
Zielgruppe sind Aktivisten der Zivilgesellschaft, die ihre Anhänger
für „linke“ Themen mobilisieren, als da sind: Kampf gegen städtisches
Elend und Wohnungsnot, Einsatz für Arbeiterrechte – für Duterte ein
klarer Fall von kommunistischer Rebellion. Den Auftakt hat er in der
Manier des Vollstreckers gegeben:
„Tötet
sie, und stellt sicher, dass ihr sie wirklich tötet und fertigmacht,
falls sie noch am Leben sind. … Vergesst Menschenrechte. Das ist ein
Befehl. Ich bin bereit, (dafür) ins Gefängnis zu gehen.“
Da
gehört er auch hin!
- USA:
In Minneapolis begann das Hauptverfahren gegen den Ex-Polizisten, der
im Mai 2020 dem wehrlosen George Floyd neuneinhalb Minuten die Luft
abgedrückt hatte. Er ist wegen Mordes verschiedener Grade und
Totschlag angeklagt, was ihm im Höchstfall 75 Jahre einbringen könnte.
Die Verteidigung plädiert auf „Nicht schuldig“, weil Floyd Widerstand
geleistet habe, gesundheitlich vorbelastet war und Rückstände eines
Opiats im Blut aufwies. Ob sie Floyds „I can’t breathe“ als Akt des
Widerstandes sieht und grundsätzlich der Meinung ist, dass ein weißer
Polizist keinen Schwarzen umbringen kann, bleibe dahingestellt. Der
Polizist wurde im Juni zu 22,5 Jahren Haft verurteilt und legte
Berufung ein.
- China:
Darf in diesem illustren Kreis natürlich nicht fehlen, damit aus der
leichten Brise, die dem Land gegenwärtig und weltweit entgegen bläst,
ein heftiger Gegenwind wird, der allerdings wohl nicht aus Deutschland
kommen wird. In Frankreich ist ein Buch mit dem Titel „Überlebende des
chinesischen Gulags“ erschienen, in dem die Uigurin Gulbahar
Haltiwaji, die schon seit Jahren mit ihrer Familie in Frankreich lebt,
wieder nach China gelockt wurde, dort zwei Jahre verschollen blieb,
vom Straflager in ein Umerziehungslager kam, dort zu einem
„Geständnis“ gezwungen wurde und nur durch die Intervention des
französischen Außenministeriums nach drei Jahren freikam. Ihr Bericht
ist weder jugend- noch altersfrei. Erwähnt sei nur die Grippeimpfung,
deren sich uigurische Frauen, die die „Berufsschulen“ besuchen,
zweimal im Jahr unterziehen müssen. Es ist zu vermuten, dass solche
„Impfungen“ mit dem dramatischen Geburtenrückgang in Xinjiang
zusammenhängen.
Eine
„Terroristin“ erzählt.
Der
Genozid an den Uiguren rief (endlich) die EU auf den Plan. Sie
verhängte einstimmig (!) Strafmaßnahmen gegen vier Funktionäre und
eine Organisation. Der Chef der KP in Xinjiang, der schon in Tibet
„aufgeräumt“ hatte, war leider nicht darunter. Die Reaktion aus Peking
kam schon 90 Minuten (!) später. Sie war eher „unverhältnismäßig“ und
härter als Brüssel erwartet hatte. Gegen zehn Europäer und vier
Institutionen wurde ein Einreiseverbot erlassen. Unter den
sanktionierten Politikern ist auch der grüne Europaabgeordnete
Reinhard Bütikofer, der die Strafe wie folgt kommentierte: „Was sollen
sie mir denn antun? Mein Vermögen in China einfrieren?“ Dass das
Investitionsabkommen, das die Bundesregierung entgegen aller Warnungen
durchgepeitscht hatte, noch vom EU-Parlament ratifiziert wird, ist, so
die SZ, „jetzt undenkbar“. Das warten wir aber noch ab! Im Mai stimmte
das Parlament mit überwältigender Mehrheit einer Entschließung zu, das
Abkommen bis auf Weiteres auf Eis zulegen. Da liegt es gut!
Die
Drachenpiekserin
Dann
hat Peking die Corona-Schockstarre genutzt, um für Hongkong eine
Wahlrechtsreform zu beschließen, die mit einem Wahlrecht nichts mehr
zu tun hat. Die Reform soll dafür sorgen, dass zukünftig nur noch
„echte Patrioten“ in Hongkongs Parlament sitzen sollen und dass
garantiert ist, dass die Liebe auch dem richtigen Vaterland gilt, hat
man 70 von 90 Sitzen an Peking-treue Gruppierungen vergeben und die
Kandidaten für die verbleibenden 20 Sitze einer Vorsortierung
unterworfen.
Ausgelassen
haben wir jetzt den Senegal und die Slowakei, aber so viel sei gesagt:
Auch dort geht es (menschenrechtlich) derzeit drunter und drüber.
AI-Nachrichten
(ohne Anspruch auf Vollständigkeit)
- Waffenhandel:
Das Urteil gegen zwei (untergeordnete) Mitarbeiter der Firma Heckler
& Koch, wurde vom Bundesgerichtshof bestätigt. Die beiden
Angeklagten hatten, selbstredend ohne Wissen der Firmenleitung,
illegal Waffen in vier Unruheprovinzen in Mexiko geliefert. Für die
Firma schmerzlicher dürften die drei Millionen „Vermögensabschöpfung“
sein, die man an die Staatskasse zahlen muss, aber da das
Unternehmen
jetzt doch den Zuschlag für das neue Sturmgewehr der Bundeswehr
bekommen hat, ist die Strafe wohl eher in die Rubrik „Peanuts“
einzuordnen.
- Haft
ohne Anklage: Im Februar war von der Sheikha Latifa die Rede,
die von ihrem Vater in Dubai festgehalten wird. Nicht besser erging es
der saudischen Prinzessin Basmah Bint al-Saud, die seit zwei Jahren
ohne Anklage im Gefängnis hockt. Sie wurde vom Kronprinzen Mohammed
bin Salman kaltgestellt, vermutlich weil sie Positionen vertreten
hatte, die ihm nicht passen: Kritik am Krieg in Jemen, Forderung nach
einer konstitutionellen Monarchie, Einsatz gegen die frauenfeindlichen
Vormundschaftsregeln. Hoffentlich schickt ihr MbS nicht die
Kettensägemannschaft in die Zelle.
- Blockade
der Seenotrettung: Luciana Lamorgese, die Salvini als
italienische Innenministerin nachfolgte, hatte im Umgang mit den
Seenotrettern im Mittelmeer eine „Wende“ versprochen. In Wahrheit
blockiert sie die NGOs noch stärker als ihr Vorgänger – nur etwas
eleganter. Sie arbeitet nicht mehr mit strafrechtlichen Mitteln,
sondern setzt auf „langwierige bürokratische Verfahren“/ Schikanen.
Die NGOs werden einfach gehindert, ihre Einsätze zu fahren. Zwischen
Oktober und Dezember 2020 waren sieben Schiffe gleichzeitig blockiert,
Salvini hat maximal vier Boote geschafft. Im Juli wird die Genfer
Flüchtlingskonvention übrigens 70 Jahre alt.
-
Der Internationale Strafgerichtshof geht nun offiziell
Verdachtsfällen im Nahostkonflikt nach. Untersucht werden sollen auf
Seiten Israels der Verdacht auf Kriegsverbrechen im Gazakrieg von 2014
und der Siedlungsbau im Westjordanland, auf Seiten der Palästinenser
der Raketenbeschuss israelischer Zivilisten. Keine leichte Aufgabe,
denn für Israel waren die Handlungen seiner Soldaten „heldenhaft und
moralisch“, für die Palästinenser war der Raketenbeschuss „legitimer
Widerstand“.
-
Aber jetzt sind wir endlich beim Fußball. Da hat AI dem
Fifa-Präsidenten Infantino etwas in die Suppe gespuckt, die er mit
überzogenen Komplimenten für das WM-Gastgeberland Katar gewürzt hatte.
Zwar erkennt auch AI an, dass das Land in Sachen Menschenrechte etwas
auf den Weg gebracht hat, weist aber auch darauf hin, dass
versprochene Reformen „allzu häufig nur unzureichend umgesetzt“ würden
und Arbeitsmigranten „nach wie vor ausgebeutet und missbraucht
werden“.
Die
deutsche Nationalmannschaft hat dem Slogan „Mit dem Fußball für die
Menschenrechte“ mit einem Foto Rechnung getragen, dessen Wirkung der
DFB aber durch eine Vermarktung des Fotos im Stil einer Werbeagentur
arg geschmälert hat.
Trotzdem
ist uns lieber, dass die Nationalmannschaft vor dem Spiel gegen Island
für die Menschenrechte posiert und nicht die 1. Strophe der
Nationalhymne gesungen hat.
-
Der Amnesty Report für das Jahr 2020 hat klar herausgestellt,
dass sich die Menschenrechtslage
in manchen Ländern mit der Pandemie massiv verschlechtert hat. Es
verstärkten sich Ungleichheit (bei der Zuteilung von Impfstoffen),
Diskriminierung (besonders von verwundbaren Gruppen wie Frauen und
Flüchtlinge) und Unterdrückung (von Stimmen, die Missstände
anprangerten). Der Report war wesentlich eindeutiger, als der Bericht,
den die WHO zum Ursprung des Coronavirus veröffentlicht hat. Aber
immerhin hat ihr Chef, der letztes Jahr noch in Peking gekatzbuckelt
hat, China kritisiert, weil das Land der Expertenkommission zu wenige
Daten zur Verfügung gestellt habe.
Kurznachrichten
-
Präsident Erdogan ist aus der „Istanbul- Konvention“ ausgetreten. Am
Frauentag hatte er den Frauen noch gratuliert, die „mit ihrer Liebe,
ihren Bemühungen und Opfern die Hoffnung der Menschlichkeit sind“. Das
Wort „Opfer“ hat er allerdings nicht auf den Tod der 400 Frauen
bezogen, die 2020 in der Türkei von ihren Partnern oder anderen
männlichen Angehörigen umgebracht worden waren. Die Konvention von
2011 schafft verbindliche Rechtsnormen zur Bekämpfung von Gewalt gegen
Frauen. Für die muslimischen Traditionalisten im Land aber zerstört
sie die traditionelle Familienkultur - also, dass man Ehre durch Mord
wieder herstellen kann – und fördert die Homosexualität. Dem Druck
dieser Kreise hat Erdogan nachgegeben, schließlich sind 2023 wichtige
Wahlen, und der Rückhalt für ihn und seine Partei nimmt ab. Wenn man
die Opferzahlen sieht, hat man schon Verständnis, dass Frauen lieber
lesbisch werden.
-
Bleiben wir beim Thema Homosexualität und wenden wir uns dem Vatikan
zu. Nein, es geht nicht um den Missbrauch, sondern um ein Schreiben
der Glaubenskongre- gation, das die Segnungsfeiern für homosexuelle
Paare untersagt, weil eine solche Verbindung nicht „den Plänen Gottes“
entspricht. Und zum lieben Gott hat Rom ja bekanntlich eine
Standleitung! Erwartbar, erstaunlich und erfreulich waren die
Reaktionen in Deutschland. Erwartbar, weil die konservativen Bischöfe
das Papier begrüßten (wie sie auch eine erneute Verurteilung Galileis
begrüßen würden), erstaunlich, weil der Widerstand im Klerus
lutherische Dimensionen erreichte („Hier stehe ich, ich kann nicht
anders!“), erfreulich, weil selbst Georg Bätzing, der Vorsitzende der
Bischofskonferenz, einräumte, das Papier gebe nur den derzeitigen
Stand der kirchlichen Lehre wieder. Diese Lehre, und dabei verwies er
auf den Synodalen Weg, könne aber weiterentwickelt werden. Ungehorsam
in der katholischen Kirche? Wie lange geht das gut?
-
Die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig hat (in 2. Instanz)
Ermittlungen gegen die Partei „Die Rechte“ wegen antisemitischer
Volksverhetzung eingeleitet. Die Partei hatte im November 2020 zu
einer Demonstration vor der jüdischen Synagoge in Braunschweig
eingeladen. Die Synagoge zur Erinnerung an die Pogromnacht von 1938
abzufackeln, stand vermutlich nicht auf dem Programm, aber das
Zeitfenster war für die Klägerin (und das zu Recht) „purer Judenhass“.
Die Demo sollte nämlich in der Zeit von 19.33 bis 19.45 Uhr
stattfinden, wurde aber letztlich abgesagt. Zur Synagoge kamen mehrere
hundert Menschen, um ihre Solidarität mit der jüdischen Gemeinde zu
zeigen.
-
Bei der Münchner Polizei sind im letzten Jahr 426 Fälle von
Hasskriminalität gemeldet worden, darunter 57 Körperverletzungsdelikte
– doppelt so viele wie 2019. Corona wirke wie ein
„Brandbeschleuniger“, deshalb sind viele Menschen asiatischen
Aussehens von den Attacken betroffen, wie z.B. die indonesische
Studentin, die in einem Supermarkt übel beschimpft wird – auf
Englisch, damit sie es auch sicher versteht.
-
Verkehrte Welt in Kassel: Bei einer Demo von 20 000 Querdenkern hat
die Polizei nicht eingegriffen, obwohl die Demonstranten (wie üblich)
gegen Maskenpflicht und Abstandsgebot verstießen und sogar Polizisten
und Journalisten tätlich angriffen. Das Argument, es hätte viele
Verletzte gegeben, wenn die Polizei massiv eingegriffen hätte, kann
man akzeptieren. Kein Verständnis aber hat man für das knallharte
Vorgehen der Polizei gegen die Leute, die sich den Querdenkern in den
Weg stellen wollten. Die wurden samt ihren Fahrrädern unsanft von der
Straße geschubst. Wenn’s nicht so viele sind (und die Leute eher
friedlich auftreten), kann man auch eingreifen.
-
Der AfD-Aktivist Stefan Bauer hat die Impfstoffe mit Zyklon B
verglichen, dem Gas, mit dem die Nazis in ihren KZs systematisch
Menschen töteten. Den Kurzfilm, in dem er diese Äußerung tätigte, hat
er sinnigerweise in der Gedenkstätte des KZs Mauthausen gedreht. Das
war selbst seiner Partei zu viel, der Vorstand entzog Bauer seine
Mitgliedsrechte. In den Stadtrat von Rosenheim könnte er trotz
Parteiausschluss nachrücken.
Kuriosa
-
Als man Präsident Biden fragte, ob sich Russland in die US-Wahlen vom
November 2020 eingemischt habe, bejahte er auch die Frage, ob er Putin
für einen „Killer“ halte. Das war zwar nicht „die hohe Schule der
Diplomatie“, aber die Wahrheit. Wer zu Putin in Opposition steht, auch
von Deutschland aus, lebt gefährlich.
-
Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach seinem Abgang meldete
Ex-Präsident Trump ziemlich unverhohlen seine Kandidatur für das Jahr
2024 an. Da er 2016 und auch 2020 gegen die Demokraten gesiegt habe,
könne er „sogar entscheiden, sie ein drittes Mal zu schlagen“. Zu
seiner Kraftmeierei mag beigetragen haben, dass im Konferenzhotel
seine (teil)vergoldete Statue stand.
Trump
in Gold - made in Mexiko
-
Die AfD-Fraktionschefin im bayrischen Landtag wollte vom
Geschäftsführer der Main-Klinik in Ochsenfurt wissen, ob es zuträfe,
dass „ein großer … Teil der Covid-Patienten einen
Migrationshintergrund“ hätte. Der Geschäftsführer, der offensichtlich
verkannt hatte, dass die Anfrage allein der Sorge um das Wohl der
Flüchtlinge entsprang, entgegnete ihr, dass er erfahren habe, dass
„ein großer … Teil Ihrer Fraktion an einer moralischen und
intellektuellen Dysfunktion“ leide. Wir teilen die Meinung der AfD,
diese Antwort sei „unseriös“ – nicht!
Erfolgsmeldungen
- sind nicht viele, sollen aber nicht fehlen.
-
In China wurde nach dem Tod mehrerer Schüler das Verbot der
Prügelstrafe weiter verschärft. Lehrer, die weiter prügeln, sollen
jetzt konsequenter belangt werden. Auch dürfen Schüler nicht mehr
gezwungen werden, stundenlang zu stehen oder auf dem Boden zu knien.
Letzteres gab es früher in Bayern auch: Da erhielt man ein Holzscheit
als „Unterlage“.
-
In Afghanistan wurde ein Verbot wieder aufgehoben: Mädchen dürfen
jetzt in Schulen und in der Öffentlichkeit wieder singen. Das Verbot
war in vorauseilendem Gehorsam auf die Machtübernahme der Taliban
erlassen worden, aber wenn es wirklich dazu kommt, ist das Singverbot
für Mädchen nur ein Randproblem. Da dürfen sie, wenn überhaupt, nur
mehr zuhause singen.
-
Der „Nürnberger Menschenrechtspreis“ 2021 geht an Sayragul Sauytbay,
die sich nach ihrer Flucht aus einem chinesischen Umerziehungslager
jetzt von Schweden aus für die muslimischen Minderheiten in China
einsetzt und „Verbrechen an Uiguren und Kasachen“ aufdeckt. Ein
wichtiges Kriterium für die Jury war dabei, dass die Preisträgerin
„nicht in unmittelbarer Gefahr“ sei. Peking hat noch etwas Zeit, ein
Tötungskommando zusammenzustellen, denn der Preis wird erst 2022
verliehen.
Herzlichen
Glückwunsch und Alles Gute
-
Zum Schluss eine Nachricht, die bereits zum April überleitet. Kinder
und Jugendliche aus Portugal klagen vor dem Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte/EGMR in Strasburg gegen die Regierungen von 33
europäischen Staaten und verlangen einen wirksamen Klimaschutz. Der
Gerichtshof hat es den Klägern erspart, zuerst den nationalen
Gerichtsweg zu durchlaufen und hat dem Sachverhalt eine erhöhte
Dringlichkeit eingeräumt. Im April hat das Bundesverfassungsgericht
der Klage von deutschen Umweltorganisationen stattgegeben und die
Bundesregierung zu einer Nachbesserung des Klimagesetzes verpflichtet.
Karlsruher
Mai-Botschaft
April
2021
„April
ist der grausamste Monat, treibt
Flieder
aus toter Erde, mischt
Erinnern
und Begehren, schreckt
Dumpfe
Wurzeln mit Frühlingsregen.“
T.S.
Eliot, Das öde Land
Wenn
ein Monat den Flieder hervorbringt, dann kann er doch gar nicht so
grausam sein, aber solche Widersprüche werden nicht nur von Dichtern,
sondern auch von der Wirklichkeit produziert.
„Ödland“
ist Deutschland nicht, aber was so an den Rändern dumpf dahinwurzelt,
hätte einen „Frühlingsregen“ bitter nötig.
- Rassismus
im Sport: Im Juni wird im ZDF der Film „Schwarze Adler“ gezeigt.
Da geht es um farbige Fußballspieler, die in der Nationalmannschaft –
weißes Trikot, schwarzer Bundesadler – spielten, zum Tore schießen gut
genug waren, aber immer wieder rassistischen Anwürfen ausgesetzt
waren. So musste sich Erwin Kostedde, ein Stürmer-As der 1970er Jahre,
nach der gängigen Begrüßung mit Affenlauten und Bananenwürfen, auch
noch sagen lassen: „… der Schwatte, dat hätt et bei Hitler nie
gegeben“. Und noch heute stellen sich viele Fans ihr Traumteam so vor,
wie es die SZ getitelt hat: „Elf weiße Freunde müsst ihr sein.“
- Linksaußen:
Sachsen hat auf die Zunahme linker Gewalttaten mit der Gründung der
„Soko Linx“ reagiert. Es hatte einen Überfall auf einen Jungfunktionär
der NPD gegeben, bei dem Personen in Polizeiwesten seine Wohnung
stürmten und mit Hämmern seine Knöchel bearbeiteten. Und dem Inhaber
einer Neonazi-Kneipe wurden von Mitgliedern der „Gruppe E.“ Teile der
Einrichtung demoliert und auf den Wirt und seine Besucher
eingeprügelt. Bei manchen Delikten war die Beweislage recht dünn, aber
selbst Sympathisanten räumen ein, dass „ein Teil der linken Szene zu
offensiver Gewalt neigt“. Von der Gründung einer „Soko Rexts“ hat man
in Sachsen allerdings noch nicht gehört.
- Rechtsaußen:
In Stuttgart hat der Prozess gegen die „Gruppe S“ begonnen, der
vorgeworfen wird, durch Anschläge auf Moscheen einen Bürgerkrieg
entfachen und das daraus entstehende Chaos zu einem politischen
Umsturz nutzen zu wollen. Der Führer der Gruppe, Werner S., hatte im
Februar 2020 zu einem Treffen in Minden eingeladen, um „bei Brot und
Wein Krieg zu besprechen“. Festgenommen wurden damals nur die zwölf
Angeklagten, aber den Treueschwur „bis in den Tod“ leisteten Werner S.
Vertreter der gesamten „rechtsextremistischen Mischszene“- Mitglieder
von Bürgerwehren, Prepper, Reichsbürger. Die Verteidigung bezeichnete
die Drohbotschaften als „maßlose Übertreibungen eines Haufens
Pfadfinder“.
- Islamistische
Homophobie: In Dresden begann der Prozess gegen den Syrer
Abdullah al-H., der im Oktober 2020 ein schwules Paar angegriffen,
einen Mann getötet und seinen Partner schwer verletzt hatte. Er sah in
ihnen „Feinde Gottes“ und „Repräsentanten einer ungläubigen
Gesellschaft“. Der Überfall fand fünf Tage nach seiner Entlassung aus
dem Gefängnis statt, wo er an einem Programm zur Deradikalisierung
teilgenommen hatte. Als ihn ein Gutachter auf die drohende „sehr lange
Haftstrafe“ hinwies, meinte er nur: „Wenn Allah das will, komme ich
frei.“ Nein, Allah will das nicht – zumindest nicht so schnell, außer
man hat in der Wüste ein Reservat für unbelehrbare IS-Anhänger
geschaffen.
- Coronaleugner:
Sie bringen zwar keine Schwulen um, aber verrückt sind sie auch – und
das immer mehr von ihnen. Da wird auf Demos „die NS-Zeit verharmlost
und die Shoah relativiert, wird zum Umsturz aufgerufen und Politikern
und Virologen mit einer Neuauflage der Nürnberger
Kriegsverbrecherprozesse gedroht“. Dazu kommen, wie in Stuttgart
geschehen, Angriffe auf Journalisten. In München kam es am 24. April
zu einer seltsamen Koinzidenz: AI hielt am Europaplatz eine Mahnwache
für Alexej Nawalny, die Querdenker demonstrierten „Für Wahrheit, für
Klarheit“ am Harras. Dieser Slogan hätte gut zur AI-Veranstaltung
gepasst, und Mahnwachen müsste man eher gegen die Querdenker
einrichten.
Mahnwache
vor dem russischen Konsulat
Fortschreibungen
– in Stichworten, die weh tun
- Nawalny:
Ende März geht er in den Hungerstreik. – Verlegung auf die
Krankenstation – Man droht ihm mit Zwangsernährung. – Ärzte seines
Vertrauens dürfen ihn (zunächst) nicht untersuchen, raten ihm aber,
den Hungerstreik zu beenden. – Nach dem Hungerstreik erhalten zwei
zivile Ärztegruppen Zugang zu ihm. - Bei Protesten gegen seine
Inhaftierung werden 1700 Menschen in 97 russischen Städten verhaftet.
– Nawalnys Organisationen, darunter seine Anti-Korruptionsstiftung,
werden wegen „Extremismus“ verboten. Stiftungen zur Förderung der
Korruption sind weiter zugelassen. (Vorsicht: keine Satire!)
- Myanmar:
Die Regierungstruppen werden mit Lastwagen eines chinesischen
Herstellers (Sinotruk) zu ihren Einsätzen gebracht, dessen
Großaktionär MAN ist. Ein Firmensprecher erklärt, erst durch die
Anfrage der SZ davon erfahren zu haben. – Die
amtierende Miss Grand Myanmar Han Lay hat bei einem
Schönheitswettbewerb in Bangkok die Junta scharf kritisiert, in ihre
Heimat ist sie lieber nicht zurückgekehrt. – Die Junta geht verstärkt
auf Prominente los, für die Verhaftung des Sängers Paing Takhon
rückten acht Lastwägen (Marke Sinotruk?) und 50 Soldaten aus.
Han
Lai
Paing Takhon
–
Ein „Botschafter ohne Land“ ist derzeit Myanmars Vertreter bei der UN.
Nach einer Attacke auf seine eigene Regierung zeigte er den
Drei-Finger-Gruß der Opposition. – Das Militär geht auch mit Panzern
gegen Demonstranten vor. Die Zahl der erschossenen Zivilisten stieg
auf über 700. Für die Herausgabe der Leichen fordert die Polizei Geld
von den Angehörigen. – Die ASEAN-Staaten forderten auf einem Treffen
in Jakarta, zu dem Min Aung Hlaing, der Führer der Junta, im Anzug (!)
angereist war, mit gebührender Vorsicht ein Ende der Gewalt. Der
General gab sich versöhnlich, vielleicht aus Angst, von Interpol
festgenommen zu werden.
AI-Nachrichten
- Iran:
Die britisch-iranische Doppelstaatlerin Nazanin Zaghari-Ratcliffe
wurde wegen Propaganda gegen das Regime zu einer weiteren Haftstrafe
von einem Jahr verurteilt. Fünf Jahre Haft hat sie schon hinter sich.
Ihr Schicksal ist „Verhandlungsmasse“ im Geschacher um das
Atomabkommen und die Aufhebung der Sanktionen.
- Kirgisistan:
Wir begrüßen freudlos einen Neuzugang in unseren Jahresbericht. Am
helllichten Tag wurde in der Hauptstadt Bischek Aizada Kanatbekowa
entführt und ermordet. Ihr Entführer hatte erklärt, es habe
Heiratspläne gegeben, die Familie sprach von Belästigung.
Brautentführungen und Zwangsheiraten sind ein verbreite-tes Übel im
Lande und läuft unter dem Namen „Ala-Kachuu/Nehmen und Wegrennen“. Vom
Gesetz her verboten, kommt es selten zu Anzeigen und Strafverfolgung.
- Marokko/Spanien:
Die spanische Menschenrechtsaktivistin Helena Maleno hat ein Video
veröffentlicht, das ihre Zwangsabschiebung von Tanger nach Barcelona
zeigt. Sie galt in Marokko als „Engel der Illegalen“ und in beiden
Ländern als „unbequeme Zeugin“. Ihr Handy wurde eine Art
Notrufzentrale für Flüchtlinge. „Sie rufen mich an, wenn ihnen auf dem
Meer das Trinkwasser ausgeht.“
- Deutschland:
Da ist man (bisher) mit Bruder Abraham Sauer von der Abtei
Münsterschwarzach schon etwas gnädiger umgesprungen. Er war der
Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt/Kirchenasyl angeklagt und wurde
freigesprochen, weil er „sein Handeln auf Glaubens- und
Gewissensgründe gestützt habe und er damit frei von Schuld sei“.
Allerdings ging die Richterin davon aus, dass es nicht bei einer
Instanz bleiben würde, und auch damit hatte sie Recht. Die
Staatsanwaltschaft Würzburg schwankt nur noch, ob sie in Berufung oder
(nur) in Revision gehen soll.
- Türkei:
Gefängnistore, die sich nach außen öffnen – selbst das ist derzeit in
der Türkei möglich, wo Erdogan gerade „ein paar Lichtblitze Richtung
Europa sendet“ und deshalb ein Urteil des EGMR nicht gut ignorieren
kann. Die Richter hatten erklärt, dass die Freiheitsrechte des
Schriftstellers Ahmet Altan verletzt worden seien und dass es keine
Beweise für die Terrorismus-Vorwürfe gäbe. Altan war ursprünglich zu
erschwerter lebenslanger Haft verurteilt worden und hat viereinhalb
Jahre abgesessen. Die Voraussage im Titel seines Gefängnistagebuches
„Ich werde die Welt nie wiedersehen“ hat sich somit nicht erfüllt –
wenigstens zunächst einmal.
- Todesstrafe:
Die Anzahl der vollstreckten Todesstrafen ist laut AI im Jahre 2020
deutlich zurückgegangen. Mit 483 Hinrichtungen – das sind 483 zu viel
– sei „die geringste registrierte Anzahl der vergangenen zehn Jahre“
zu verzeichnen. In Saudi-Arabien beispielsweise seien die Zahlen um 85
Prozent gefallen. Ob das posthum dem Mord an Khashoggi zu verdanken
ist, dass man nicht mehr so leichtfertig mit der Knochensäge loszieht,
bzw. den Galgen errichtet?
Kurznachrichten
– dem Monatsspruch gemäß nach „Grausamkeit“ geordnet
-
In den Nahen Osten kehrte nach einem Jahr relativer Ruhe die Gewalt
zurück. Auslöser gab es auf beiden Seiten: die israelische Polizei
sperrte einen Platz in Jerusalem, auf dem die Palästinenser
traditionell das Fastenbrechen feiern, Palästinenser verprügelten
orthodoxe Juden und zeigten es stolz auf Tiktok, israelische
Bauprojekte gefährden palästinensische Bewohner in Ostjerusalem und
aus dem Gazastreifen flogen die ersten Raketen.
-
Knapp elf Monate nach dem Tod von George Floyd ist in Minnesota erneut
ein Afroamerikaner getötet worden. Im Rahmen einer Verkehrskontrolle
kam es zu einem Handgemenge, bei dem eine Polizistin ihre Pistole mit
einem Taser verwechselt haben soll. Die Frau arbeitet seit 26 Jahren
bei der Polizei, so dass die Verwechslung einige Rätsel aufgibt.
Vielleicht sollte man bei ihr das von Biden geforderte „red flag
law/rote Flagge Gesetz“ zur Anwendung bringen, das es ermöglichen
soll, „bei einem Gericht die Beschlagnahmung von Schusswaffen zu
beantragen, wenn vom Besitzer Gefahr ausgeht“.
-
Wir haben schon mehrmals auf den chinesischen Riesenkraken
hingewiesen, der mit seinen Tentakeln auf die Welt zugreift, um ihr,
so Parteichef Xi Jinping, „Chinas Geschichte gut zu erzählen“ und, das
ist zu ergänzen, um schlechte Erzählungen zu verhindern. Da hat ein
Hamburger Verlag auf Einspruch des chinesischen Konsulats hin, in
einem Kinderbuch die Stelle gestrichen, wo der Held davon spricht,
dass „das (Corona)Virus aus China stammt“. Chinesische Studenten, die
im Ausland studieren, werden aufgefordert, ihre Landsleute zu
denunzieren, wenn sie sich im Seminar „il-loyal“ zu ihrem Land
verhalten haben. Und im 4. Teil der amerikanischen Filmserie
„Tranformers“, die von einem chinesischen Investor mitfinanziert
wurde, wird die US-Regierung als Haufen krimineller Chaoten
dargestellt, während die chinesische Regierung kontrolliert und
effizient erscheint.
-
In Deutschland wurde ein Hassredegesetz verabschiedet, das die
Verbreiter von Drohungen und Hetzattacken „ans Licht holen soll“.
Dabei vertraut man auf die „freiwillige Kooperation der Plattformen,
die die Daten der Täter gefälligst herausrücken sollen. Tareq Alaow
schien dieses Vertrauen nicht zu teilen, als er seine Kandidatur zum
Bundestag zurückzog. Der Syrer hatte sich in seiner Heimat beim Roten
Halbmond engagiert und sich in Deutschland für Flüchtlinge eingesetzt.
Seine Kandidatur brachte ihm in den (a)sozialen Medien eine „hohe
Bedrohungslage für ihn und ihm nahestehende Menschen“ ein, der er sich
nicht mehr aussetzen wollte. Da hätte er ja gleich wieder nach Syrien
zurückkehren können!
-
Von der Aufkündigung der Istanbul-Konvention, aber ohne verprügelt zu
werden, war auch Ursula von der Leyen betroffen, als man ihr bei ihrem
Besuch in Ankara nur das Sofa aber keinen Stuhl anbot. Es war noch
nicht ausgemacht, ob für die fragwürdige Sitzordnung Erdogan oder ihr
Begleiter, der EU-Ratspräsident Charles Michel, verantwortlich war.
Uschi jedenfalls fühlte sich „verletzt und allein“. Kann man ihr
irgendwie nachfühlen!
Sofagate
in Ankara
Im
Mai behauptete der türkische Außenminister, die Sitzordnung sei auf
Wunsch der Protokollbeamten des EU-Rates gewählt worden. Wir trauen es
beiden Männern zu, stellen aber die Recherchen wegen Nichtigkeit ein.
Erfolgsmeldungen
– na ja, wie man’s nimmt
-
Unter dem Titel „Eine Stadt atmet auf“ hat der Merkur das
Urteil im Prozess um die Tötung von George Floyd kommentiert. Der
Polizist wurde in allen drei Anklagepunkten für schuldig befunden. Das
Urteil ist gerecht, ein Freispruch hätte der Stadt Minneapolis und
ganz Amerika möglicherweise ein blutiges Jahr beschert. Ob sich die
Hoffnung von Präsident Biden „dies kann ein Moment sehr großer
Veränderung sein“ erfüllt, ist abzuwarten.
-
Großbritannien hat dem Aktivisten Nathan Law, der noch rechtzeitig aus
Hongkong geflohen war, politisches Asyl gewährt. Law hatte 2016 sein
Abgeordnetenmandat verloren, weil er zwar den Amtseid gesprochen, aber
mit einer kleinen Rede ergänzt hatte, in der er die „Unterdrückung der
öffentlichen Meinung“ kritisiert hatte. Die Fernsehübertragung der
Vereidigungszeremonie wurde abgebrochen. Der chinesische Außenminister
war über die Asylgewährung nicht „amused“. Vermutlich wird Peking
jetzt bei Putin nachfragen, wie man mit Regimegegnern im Ausland
umgehen soll.
-
Zu einem Zwischenfall kam es auch im deutschen Bundestag. In der
Debatte über das Infektionsschutzgesetz hatte es den Anschein, als
klatsche die AfD an der falschen Stelle, was vom
CDU-Fraktionsvorsitzenden Ralph Brinkman schonungslos ausgebeutet
wurde. Er hatte von der Möglichkeit gesprochen, dass es keine
„Notstandsregelung“/Notbremse geben könnte, was der AfD gefiel, aber
als sie dazu zum Applaus ansetzte, war Brinkmann schon bei den Folgen:
„…
dann werden Menschen krank werden, dann werden Menschen sterben, und
dass die AfD bei diesem Satz klatscht, zeigt die Fratze, die diese
Partei in diesem Bundestag hat.“
-
AKK, unsere Verteidigungsministerin, sprach von einer „tiefen
Verpflichtung der Bundesrepublik“, gefährdete afghanische
„Ortskräfte“, die für die Bundeswehr gearbeitet hatten, nach
Deutschland zu holen – wenn sie das wollten. Man kann nur hoffen, dass
die Gefährdungslage großzügig ausgelegt wird, dass die Familien mit
einbezogen werden und dass man nicht wartet, bis die Taliban aus ihren
Startlöchern kommen.
Im
Mai kam Kritik am staatlichen Aufnahmeprogramm auf, weil die darin
geforderte „individuelle Gefährdungslage“ selten nachzuweisen ist, da
sie oft auf nächtlichen Anrufen und anonymen Drohungen in den sozialen
Medien beruht. Und als Ende Juni die letzten deutschen Soldaten
Afghanistan verließen, wurde bekannt, dass es „offenbar an praktischen
Mitteln (sprich Flugzeugen) fehlt, damit die gefährdeten Ortskräfte
das Land verlassen können“. Da bleibt uns mehr als die Spucke weg.
Dann
kam der Protest: Ein Hauptmann der Bundeswehr, Marcus Grotian, begann
bei seinen Kameraden Geld zu sammeln, und eine „Viererkoalition“ von
Abgeordneten erinnerte die Kanzlerin an unsere „Fürsorgepflicht“. Ob
der Brief aus Miesbach, den die Integrationsbeauftragte der Stadt
entworfen und den Ai-Miesbach mitunterschrieben hat, dann den
Ausschlag gegeben hat, dass mehr Vernunft und Menschlichkeit einziehen
konnten, lassen wir einmal offen. Jedenfalls fiel die
„Zwei-Jahres-Frist“ weg, die nur solchen Afghanen die Ausreise
ermöglicht hätte, die seit 2019 für die Bundeswehr gearbeitet hatten,
und, als im Juli die Taliban das Land zu überrennen begannen, wurde
auch Geld für Charterflüge locker gemacht.
-
Zu erinnern ist zum Schluss an den Theologen Hans Küng, dessen
Anliegen es war, die Freiheit des Denkens zu verteidigen und Menschen
verschiedener Religionen zu versöhnen. Er möge jetzt den Frieden
finden, der ihm in seinem Leben nicht immer vergönnt war.
Die
Gedanken sind frei
Mai
2021
„Im
Galarock des heiteren Verschwenders,
ein
Blumenzepter in der schmalen Hand,
fährt
nun der Mai, der Mozart des Kalenders,
aus
seiner Kutsche grüßend übers Land.“
Erich
Kästner, Der Mai
Ich
wollte mich nicht der Tradition entziehen, den Mai in Hochstimmung zu
beginnen. Deshalb soll wenigstens am Anfang Mozart stehen, obwohl
Beethovens Schicksalssymphonie („Da, da, da, da!“) viel besser gepasst
hätte, denn der Monat lieferte einige Konflikte, die Deutschland
lieber vergessen und die Welt lieber nicht erlebt hätte.
Konflikte
- Da
tauchte mit dem Versöhnungsangebot an Namibia ein deutsches
Kolonialverbrechen aus der Versenkung auf, dass man jahrzehntelang
erfolgreich aus der Erinnerung verdrängt hatte, den Genozid an den
Herero und Nama im Jahre 1904. Da wurden Menschen in wasserlose Wüsten
getrieben oder in Konzentrationslager verschleppt. Der Kolonialheld
Carl Peters ließ seine schwarze „Beischläferin“ aufhängen, weil sie
ein Verhältnis mit seinem Diener hatte. Die Kolonie Kamerun trug den
Beinamen „Fünfundzwanzigerland“, weil die einheimischen schon für
geringfügige Vergehen 25 Schläge mit der Nilpferdpeitsche abbekamen.
Das Bild eines wohlwollenden Kolonialreiches war ein Trugbild, eine
Entschuldigung, die jetzt Präsident Steinmeier in Windhoek/Namibia
abgeben soll, ist mehr als überfällig. Außerdem soll ein
Millliardenbetrag für soziale Projekte zur Verfügung gestellt werden
von dem allerdings kein Rechtsanspruch auf Entschädigung abzuleiten
sei. Für die betroffenen Volksgruppen, deren Vertreter nicht an den
Gesprächen beteiligt waren, ist das nur „ein Tropfen auf dem heißen
Stein“.
(K)ein
Platz an der Sonne
- Da
ist die „Aufarbeitung“ des französischen Anteils am Völkermord
an den Tutsi im Ruanda des Jahres 1994 durch eine Kommission von
Historikern. Das Ergebnis des Abschlussberichtes: Frankreich habe sich
zu lange „blind“ auf die Seite des Hutu-Regimes gestellt, die
Vorbereitung des Völkermordes als „ethnischen Konflikt“ abgetan und
(zusammen mit der internationalen Gemeinschaft) „Hunderttausende von
Opfern in der Hölle im Stich gelassen“. Eine Komplizenschaft mit den
Tätern sei Frankreich aber nicht anzulasten. Präsident Macron hat (dem
entsprechend) bei einem Besuch in Ruanda die Frage nach einer
Entschuldigung mit einem klaren „Jein“ beantwortet.
-
Und da eskalierte der Konflikt zwischen Israel und den
Palästinensern, von der SZ wie folgt zusammengefasst:
„Dieser
Krieg wird ohne wirkliches strategisches Ziel allein mit dem Willen
zur gegenseitigen Verletzung und Abschreckung geführt. Und er wird
von beiden Seiten auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen.“
So
absurd wie die „Kriegsziele“ ist auch die Bilanz des
Waffenstillstands, der an Pfingsten zwar nicht durch Eingriff des Hl.
Geistes, aber durch ein Telefonat Bidens mit Netanjahu, in dem von
Seiten der USA erstmals der Begriff „Waffenstillstand“ erwähnt wurde
und durch Vermittlung Ägyptens, das immer dann „zur Stelle ist, wenn
es knallt“ - und beim Wiederaufbau im Gazastreifen gute Geschäfte
tätigt. Absurd deswegen, weil sich beide Seiten, die Palästinenser bei
243 Toten, die Israelis bei zwölf Toten, als Sieger sehen, die Hamas,
weil sie die Solidarität aller Palästinenser für sich mobilisieren
konnte, Israel, weil man durch „massive Militärschläge neue
Spielregeln“ (?) mit den Gaza-Islamisten durchsetzen konnte.
Der
Schriftsteller David Grossmann resigniert in einem Interview:
„In
dieser Situation absoluter Finsternis ist es nahezu aussichtslos,
für Frieden zu werben. … Und es ist ebenso schwierig, Akteure zu
finden, die den Friedensprozess wieder beleben könnten.“
Botschaften
vom „lunatic fringe/Narrensaum“
Das
ist die treffende Übersetzung des englischen Begriffs für radikale
Randgruppen, die auch im Mai wieder die Straßen und sozialen Medien
säumten. Aber da wir ihnen im April schon (viel zu viel) Platz
eingeräumt hatten, wollen wir ins auf eine kürzere Narrenschau
beschränken, obwohl es im Merkur und in der SZ
satte 21 Artikel zu ihrem närrischen Treiben gegeben hätte.
-
Die Polizei schnappte den mutmaßlichen Urheber der Drohmails, die er
unter dem Zombienamen NSU 2.0 seit 2018 an Personen des öffentlichen
Lebens verschickte, u.a. an die Rechtsanwältin, die Hinterbliebene von
Mordopfern der ersten NSU vertreten hatte. Da er Daten verwendete, die
zum Teil von einem hessischen Polizeicomputer stammten, gerieten
Polizisten selbst in Verdacht. Jetzt wurde die Polizei vom Mitwisser
zum unfreiwilligen Helfer herabgestuft, die einem Mann auf den Leim
gegangen war, der „überzeugend geschauspielert“ hatte und den
Polizeijargon perfekt beherrschte. Als Reaktion wurde in den
Polizeirevieren der Datenschutz verschärft, so dass es nicht mehr so
einfach ist, auf die Anfrage „Ich möchte Frau X. eine Hassmail senden.
Kann ich bitte ihre Mailadresse haben?“ eine positive Antwort zu
bekommen. Zur Aufhellung der Stimmung eine Karikatur.
-
Dem NSU 2.0 Täter seelenverwandt ist der syrische Flüchtling und
Oberleutnant der Bundeswehr Franco A., dessen Prozess in Frankfurt
begonnen hat. Ihm wird vorgeworfen, Terrorakte gegen Politiker geplant
zu haben, die er dann einem anerkannten Asylbewerber unterschieben
wollte, „um einen Bewusstseinswandel innerhalb der Gesellschaft
gegenüber der Asylpolitik der Regierung herbeizuführen“, kurz: Um das
Volk gegen Flüchtlinge aufzuhetzen. Franco A., alias David Benjamin,
führte ein Doppelleben, pendelte zwischen seiner Kaserne in
Illkirch/Nähe Strasburg und seiner Asylunterkunft in Erding hin und
her und bezog neben seinem Sold auch Gelder nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz. Ich finde, solche Schläue hat mildernde
Umstände verdient. (Vorsicht Satire!)
-
Keine mildernden Umstände darf es im Lande der Shoah für
Antisemitismus geben. Zwar muss es erlaubt sein, auch als Deutscher
die israelische Siedlungspolitik und die Behandlung der Palästinenser
zu kritisieren, aber es geht nicht an, das Existenzrecht des Staates
Israel und das Bleiberecht von Juden in Deutschland in Frage zu
stellen. Wenn israelische Fahnen verbrannt, Synagogen und Kippaträger
angegriffen werden und „Scheiß Juden“ skandiert wird, dann ist das
nicht mehr politischen Meinungsäußerung, sondern purer Judenhass, den
wir weder bei islamistischen Wutbürgern noch bei den 15 bis 20 Prozent
deutscher Antisemiten akzeptieren. „Im Hass vereint“ waren, Allah sei
Dank, nicht alle Muslime. Der Vorsitzende des Zentralrates
distanzierte sich von den „widerlichen Attacken auf unsere jüdischen
Mitbürger“. Und wir Deutsche sollten dankbar sein, dass Juden den Mut
hatten, sich nach der Shoah wieder in Deutschland niederzulassen.
Mahnung
an beide Seiten
-
Im Gegensatz zur Justiz, die bei Soldaten und Polizisten bisweilen
eher auf dem rechten Auge blind ist, so die SZ-Journalistin, die den
NSU-Prozess 1.0 begleitet hatte, fällt anderen – ich sage nicht wem –
der Blick auf den linken „Narrensaum“ eher schwer. Der treibt nicht
nur in Leipzig-Connewitz sein Unwesen, sondern hat in einer Baugrube
vor einem Umspannwerk der Münchner Stadtwerke ein Feuer gelegt, das 50
Leitungen beschädigte und zeitweise 20 000 Haushalte von der
Stromversorgung abkoppelte. Einem Bekennerschreiben zufolge wollte man
dem Unternehmen Rohde & Schwarz, das auch Technik für die
militärische Luftfahrt liefert, „den Saft abdrehen“. Die „Gewalt gegen
Sachen“ hat auch Menschen gefährdet, die aus gesundheitlichen Gründen,
z.B. um ihre Sauerstoffgeräte zu betreiben, auf Elektrizität
angewiesen sind. Für die linken Brandstifter gehören die wohl auch zu
den Rüstungsgütern.
Coronablüten
-
Auf der Nachrichten-Plattform Telegram tauchte eine unverhohlene
Morddrohung gegen Alexander Radwan, den CSU-Vorsitzenden im Landkreis
Miesbach, auf: „Erinnert den Drecksack doch mal an Walter Lübcke, der
so plötzlich von uns ging … .“ Diese und ähnliche Aussagen, die die
Coronamaßnahmen in Frage stellen, wurden mit der Unternehmerinitiative
„Wir stehen zusammen“ in Verbindung gebracht, die sich (natürlich) von
den allergröbsten Äußerungen bis ins Unendliche distanziert.
-
Nicht nur Politiker werden wegen Corona angepöbelt, sondern auch
Lehrkräfte. In einer Befragung gaben 22 Prozent von ihnen an, dass sie
an der eigenen Schule im „Zusammenhang mit der Durchsetzung von
Infektionsschutzmaßnahmen“ beleidigt oder bedroht wurden. Ist ja auch
verständlich, schließlich ist der Virus dem Chemielabor eines
deutschen Gymnasiums entsprungen.
-
Während bei den Coronawellen des letzten Jahres das Problem „häusliche
Gewalt“ in den Medien eher „niederschwellig“ behandelt wurde, zeigt
die Kriminalstatistik von 2020, dass die Übergriffe gegen Kinder
deutlich zugenommen haben. Strittig (aber für Kinder irrelevant) ist
nur noch, ob die Pandemie direkt oder nur indirekt dazu beigetragen
hat. Die Statistik zeigt auch, dass die Zahl der Tötungsdelikte in
gemeinsamen Haushalten nach Jahren des Rückgangs wieder gestiegen ist.
Bei den weiblichen Opfern stieg die Zahl der aufgeklärten
Tötungsdelikte von 2019 auf 2020 um 28,3 Prozent.
-
In München hat sich ein hochkarätiges Bündnis aus kirchlichen Gruppen,
Flüchtlingsinitiativen, Parteipolitikern und Künstlern gebildet, das
einen Abschiebestopp während der Pandemie gefordert hat. Die Forderung
entbehrt nicht einer gewissen Logik:
„Gerade
ist wegen der Pandemie hier das Oktoberfest abgesagt worden und
gleichzeitig wird abgeschoben.“
Die
bayrische Staatsregierung hatte 2020 mehr als 1300 Menschen in
Corona-Risikogebiete (und Problemstaaten) abgeschoben. In Afghanistan
sollen schon einige der abgeschobenen Flüchtlinge aus Verzweiflung
Selbstmord begangen haben.
Kurznachrichten
– weniger „Nachtmusik“ eher „Requiem“
-
Noch schlimmer dran als deutsche Kinder sind Kinder in Afghanistan Bei
einem Anschlag nahe einer Schule in Kabul wurden mehr als 60 Menschen
getötet. Das Attentat wurde in einem Stadtviertel verübt, in dem viele
Hazara leben, eine schiitische Minderheit, die häufig Opfer von
Anschlägen sind. Und es wurde am Nachmittag verübt, weil da vor allem
Schülerinnen unterrichtet werden.
Ein
Opfer der Gotteskrieger
Nadia
Nashir, die Vorsitzende des Afghanischen Frauenvereins, setzt auf die
„toughen jungen Frauen“, die sich auch von den Taliban nicht
einschüchtern lassen. Ich möchte mir lieber nicht ausmalen, was von
dieser Zuversicht in einem Jahr noch übrig ist. Ich wünschte mir nur,
dass die Gotteskrieger alle der Teufel holt.
-
In der Nähe der Stadt Kamloops/Kanada wurden die Überreste von 215
Kindern kanadischer Ureinwohner gefunden, nach denen jahrzehntelang
gesucht worden war. Sie waren aus ihren Familien gerissen und in
Internate gesteckt worden, um aus ihnen anständige Kanadier (und
Kapitalisten!) zu machen. Gewalt und sexueller Missbrauch waren an der
Tagesordnung, viele Kinder litten und starben an Hunger und
Tuberkulose. Das Internat in Kanloops wurde zunächst von der
katholischen Kirche, dann von der Regierung betrieben. Als man im Juni
weitere Gräber entdeckte, gingen in Indigenen-Gebieten mehrere
katholische Kirchen in Flammen auf. Nach der Entdeckung von weiteren
751 unmarkierten Gräbern hat Premierminister Trudeau den Papst
aufgefordert, „sich bei indigenen Kanadiern auf kanadischem Boden zu
entschuldigen“. Ob er ihm das Flugticket bereits geschickt hat, wissen
wir nicht. Im Juli waren es bereits mehr als 1500 Gräber, darunter
wahrscheinlich auch Erwachsene. Der Abschlussbericht einer Kommission
sprach von einem „kulturellen Genozid“.
-
In Frankreich haben 20 Ex-Generäle in einer ultrarechten Zeitung vor
einem „Zerfall“ des Landes gewarnt. Schuld seien der „Islamismus und
Horden der Banlieue“, aber auch linke Kreise, die kritische Analysen
der französischen Kolonialzeit verbreiteten. Die
Verteidigungsministerin hat von einer Aktion von „Achtzigjährigen in
Hauspantoffeln“ gesprochen. Nicht auszudenken, wie der Brandbrief der
Generäle ausgefallen wäre, wenn sie schon gewusst hätten, dass
Frankreich gegen die Schweiz im Fußball verliert. Die Niederlage
hätten man dann wohl den farbigen Spielern in der Mannschaft und dem
jüdischen Kapital auf den Schweizer Bankkonten angelastet.
-
Ein Flugzeug zu entführen, war früher Terroristen vorbehalten. Dass es
Luftpiraterie auch von Staats wegen gibt, hat der zählebige Diktator
von Belarus demonstriert. Er ließ einen Kampfjet aufsteigen, der eine
irische Verkehrsmaschine, die auf dem Weg von Athen nach
Vilnius/Litauen war, in Minsk zur Notlandung. Als Grund wurde eine
„potentielle Sicherheitsbedrohung an Bord“ angegeben. Eine Bombe hat
man natürlich nicht gefunden, wohl aber den Blogger Roman
Protassewitsch, der sich bei Lukaschenko unbeliebt gemacht hatte, weil
er auf dem Telegram-Kanal Nexta Videos über Folteropfer und
Polizeigewalt gesendet hatte. Er wurde sofort verhaftet, seine
russische Verlobte der Vollständigkeit halber gleich mitgenommen.
Roman
Protassewitsch und Sofia Sapega
In
mehreren Fernsehauftritten legte er „Geständnisse“ ab, beim ersten
Auftritt „sichtlich nervös“, beim 3. Auftritt „erstaunlich gelöst“.
Beim 2. Auftritt gab er von sich, dass er Lukaschenko „respektiere“
und ihm vertraue „das Richtige zu tun“. Ein Schuft ist, der (bei
solchen Inszenierungen) was Böses denkt! Auch auf einer
Pressekonferenz im Juni „fühlte er sich ausgezeichnet“. Als nächstes
wird er sagen (müssen), dass er sowieso in Minsk einen Zwischenstopp
hätte machen wollen.
Es
ist schwer zu entscheiden, an wen der Peis für Niedertracht zu
vergeben ist. An Russland, das möglicherweise in Athen „Amtshilfe“
geleistet hat und die Entführung „zumindest abgesegnet“ hat, an die
Chefredakteurin des kremltreuen Senders RT, die die Entführung mit
„schön erledigt“ kommentierte oder doch an Lukaschenko selbst, der ein
deutliches Signal an alle geflohenen Oppositionellen gab, sie sollten
sich nirgendwo sicher fühlen dürfen.
Ich
fang‘ euch alle!
Im
Juni haben wir an den Staatsanwalt geschrieben, aber es wäre wohl
Wunschdenken zu behaupten, dass das Pärchen deswegen in den Hausarrest
verlegt worden ist. Seither gab es von Protassewitsch nur einen
dubiosen Auftritt auf Twitter.
Die
EU steht vor einem Dilemma: Es gilt, Sanktionen zu beschließen, die
unschuldige Bürger von Belarus nicht in Mitleidenschaft ziehen. Im
Juni einigte man sich auf Einreiseverbote und Vermögenssperren für
weitere 80 Mitglieder der Staatsführung und Boykottmaßnahmen im
Wirtschaftsbereich.
-
Ein Flüchtlingsdrama in mehreren Akten ereignete sich an der Küste der
spanischen Enklave Ceuta/Nordafrika.
--
Hintergrund: die Spannungen zwischen Spanien und Marokko wegen der
Westsahara
--
Auslöser: die Behandlung des Chefs der westsaharauischen
Unabhängigkeitsbewegung in einem spanischen Krankenhaus, Öffnung der
Grenze durch Marokko
--
Fluchtbewegung: Tausende von Flüchtlingen schwimmen nach „Europa“
--
Reaktion der spanischen Grenzbeamten: Einsatz von Tränengas, Stoß von
den Klippen, Massenrückführungen ohne Prüfung eines Asylanspruchs,
spektakuläre Rettung eines Babys
Rettung
im Meer vor Ceuta
Das
Baby und seine Familie haben überlebt und befinden sich in einem
Auffangzentrum in Spanien.
--
Im August hatte Spanien (klammheimlich) schon mit der Abschiebung von
Minderjährigen nach Marokko begonnen, da setzte ein spanisches Gericht
mit einer Eilentscheidung die Rückführungen „für mindestens 72
Stunden“ aus. Ob die „Galgenfrist“ nach jetzt 40 Tagen abgelaufen ist,
bleibt derzeit offen.
-
Die Polizeistatistik für München verzeichnet für das Jahr 2020 eine
deutliche Steigerung von Gewalt gegen Polizisten. 3322 Beamte wurden
Opfer von verbaler oder körperlicher Gewalt. Alkohol spielte eine
große Rolle – erst wurden die Flaschen leergesoffen und dann auf die
Polizei geworfen -, Querdenker-Demos waren häufig Schauplatz von
Spuck-Attacken, Schaulustige solidarisierten sich mit den
Demon-stranten. Auch unabhängig von Einsätzen konnte eine
Polizeiuniform zu Tätlichkeiten führen: So wurde ein Beamter auf dem
Weg zur Arbeit in einem U-Bahnhof angegriffen. Die Zahlen sind
vielsagend: 89 Prozent der Täter sind polizeibekannt, 84 Prozent
männlich, 40 Prozent Ausländer – bei einem Bevölkerungsanteil von 30
Prozent. Der Polizeipräsident sagt zu Recht: „In jeder Uniform steckt
ein Mensch.“ Aber immer mehr Menschen müssen erst daran erinnert
werden.
AI-Nachrichten
– auch nicht für die Maibaumdeko geeignet
-
Türkei. Der Kunstmäzen Osman Kavala, der wegen Spionage seit drei
Jahren in
U-Haft
sitzt, darf seinen „Wohnort“ nicht wechseln, obwohl bei einer
Verhandlung der Vorsitzende Richter sich für eine Freilassung
ausgesprochen hatte. Er wurde jedoch von seinen zwei Mit-Richtern
überstimmt. Ob sie beim Verlassen des Gerichtsgebäudes ein dickes
Kuvert ausgehändigt bekamen, wissen wir nicht. Ein Abgeordneter der
oppositionellen CHP sagte:
„Wir
sind Zeugen eines Prozesses, der als Schande in die Geschichte der
türkischen Justiz eingehen wird.“
-
Russland: Den „Internationalen Tag der Pressefreiheit“ hat die
russische Regierung auf ihre Art gefeiert. Jetzt hat man auch das
Online-Magazin Meduza, eins der wenigen unabhängigen
russischen Medien, zu einem „ausländischen Agenten“ erklärt, was zur
Folge hat, dass das Magazin über jedem Artikel auf das Agenten-Label
hinweisen muss, von russischen Unternehmen keine Anzeigen mehr bekommt
und seine Informationsquellen bei den Behörden verliert. Die
Medienberaterin Galina Ara-powa kommentierte die Entscheidung gegen
das Magazin (und die Lage der freien Presse) mit einem russischen
Sprichwort:
„Wir
dachten, wir hätten den Tiefpunkt erreicht, aber dann hörten wir
jemand von unten klopfen.“
Zu
Ausgleich das Bild des namibischen Künstlers Rudolf Seibeb.
Tag
der Pressefreiheit 2021
-
USA. Am 16. Mai haben wir noch an den Begnadigungsausschuss in
Austin/Texas appelliert, von der Hinrichtung von Quintin Jones
abzusehen, der als kaum Zwanzigjähriger 1999 einen Mord begangen
hatte, im Gefängnis aber seine Tat bereut hatte und zu einer
„mitfühlenden Person“ geworden war. Selbst die Schwester des Opfers
hatte um eine Begnadigung gebeten. Gouverneur Greg Abbott und sein
Ausschuss ließen dieses Mitgefühl vermissen. Quintin wurde am 19. Mai
hingerichtet. Beim Jüngsten Gericht, so es eins gibt, werden sie sich
wiedersehen.
-
Deutschland: Als er Nationaltorwart war, hielt er den Rekord für die
längste Serie ohne Gegentor. Das hat Jens Lehmann jetzt selbst
geschossen, als er Dennis Aogo, den Experten des Senders Sky, als
„Quotenschwarzen“ bezeichnete und sich erst im 2. Anlauf angemessen
entschuldigte. Seinen Posten im Aufsichtsrat bei Herta BSC ist er
(zunächst einmal) los.
Erfolgsmeldungen
– na endlich!
-
Zumindest gibt es bereits Dementis. Es war gemeldet worden, dass die
USA und der Iran je vier Gefangene austauschen/freikaufen wollten, die
im Iran wegen Spionage und in den USA wegen Sanktionsbrüchen in Haft
sind. Auch die inhaftierte Britin Nazanin Zaghari-Ratcliffe, die die
Iraner als Faustpfand benutzen, weil aus dem Jahre 1979 noch eine
offene Rechnung über 400 Millionen Pfund vorliegt, sollte freikommen.
Der Schah hatte damals in Großbritannien Panzer bestellt (und
bezahlt), die dann nicht geliefert wurden. Ein „Geschäftsabschluss“
wurde dementiert, aber Verhandlungen darüber wurden nicht in Abrede
gestellt. Frau Zaghari-Ratcliffe blieb in Haft.
-
In Ithaka/Bundesstaat New York strebt Bürgermeister Svante Myrick eine
ambitionierte Polizeireform an. Ein Jahr nach dem Tod von George Floyd
und weiteren Fällen von (tödlicher) Polizeigewalt sieht er das
Verhältnis zwischen Polizei und afroamerikanischer Bevölkerung massiv
gestört.
„Die
alte Polizeikultur ist sehr festgefahren. Wenn wir einen echten
Wandel wollen, braucht es einen dramatischen Bruch mit der
Vergangenheit.“
„Reform“
ist etwas untertrieben. Myrick möchte die Polizei auflösen und durch
eine Abteilung für öffentliche Sicherheit ersetzen, die aus
bewaffneten und unbewaffneten Mitarbeitern/Mediatoren bestehen sollen.
Der Protest gegen die „Reform“ war flächendeckend und kam von der
Polizeigewerkschaft, aber auch von der Black Lives Matter-Bewegung.
Man kann Myrick nur einen langen Atem und gute Leibwächter (außerhalb
der Polizei) wünschen.
-
Ein Menschenrechtsaktivist aus Kahl/Unterfranken, der dazu
aufgefordert hatte, von Abschiebung bedrohten Menschen Asyl zu
gewähren und sie notfalls zu verstecken, bleibt straffrei. Das Gericht
hat schon in 2. Instanz entschieden, dass der Aufruf zu „allgemein
gehalten“ sei, um als Aufruf „zur Durchführung einer rechtswidrigen
Tat“ gewertet zu werden. Wegen der Schwere des Vergehens und der
mangelnden Auslastung der Gerichte in Unterfranken, ist der Freispruch
noch nicht rechtskräftig. (Vorsicht Satire!)
-
Einen „Segen unterm Regenbogen“ erhielten 110 gleichgeschlechtliche
Paare von mutigen Seelsorgern in Deutschland. Von einem römischen
Kardinal als potentielle Kirchenspalter bezeichnet, ihr Engagement vom
moderaten Teil der Kirchenspitze in Deutschland als „nicht hilfreich“
bezeichnet, im Internet mit Musterbriefen konfrontiert, in denen in
bewährter Blockwart- und Stasimanier zur Denunziation beim Bischof
oder direkt in Rom eingeladen wurde, sahen sich die Segenspender
heftiger Kritik ausgesetzt. Zuspruch erhielten sie von den
Basisgruppen in der Kirche, was erneut offenbarte, wie weit (Teile
der) Kirchenbasis und (Teile der) Amtskirche/Rom in bestimmten Fragen
schon auseinanderdriften. Die Paare (und der Herr des Regenbogens)
haben sich über die Segnung gefreut:
„Wir
wollen unsere Liebe nicht als Sünde bezeichnen lassen, wir wollen
uns nicht mehr ausgrenzen lassen.“
-
Mit einem „Kniefall für eine Heldin“ hat der bayrische
Ministerpräsident Markus Söder an den 100. Geburtstag von Sophie
Scholl erinnert. Wir wissen diese Geste zu schätzen, noch dazu, weil
sie von einem Mann kommt, der sonst nicht leicht auf die Knie geht.
Und wir hoffen, dass er für seinen Kniefall nicht so viel Häme erntet,
wie sein „Vorgänger“ Willy Brandt in Warschau.
Gedenken
an Sophie Scholl
Zum
Abschluss möchte ich das Bild vom Mai als „heiteren Verschwender“ noch
einmal im Zusammenhang mit der gerichtlichen Neuauflage der Miesbacher
Sparkassenaffäre aufgreifen, aber lediglich, um zu demonstrieren, wie
man mit Sprache umgehen kann. Man könnte beispielsweise sagen, dass
„sich in Miesbach die Compliance-Regeln/Richtlinienkonformität erst
mit Verspätung durchgesetzt haben“. Man könnte aber auch, wie ein
Verteidiger, von einem „bayrisch-barocken Handeln“ sprechen. Ich gebe
zu, dass so etwas eigentlich nicht in einen AI-Jahresbericht gehört,
aber dafür bin ich unversehens wieder kurz vor Mozart gelandet.
Juni
2021
Da
uns der Juni den längsten Tag des Jahres beschert, entspricht der
folgende Spruch zwar nicht der Jahreszeit, wohl aber (oft) der
Wirklichkeit:
„Die
meisten Probleme entstehen,
wenn
Männer unfähig sind,
in
einem Zimmer zu sitzen.“
Blaise
Pascal
„Freiluftaktivitäten“
- eher gegen als für.
- Antisemitismus:
Auf die Ulmer Synagoge wurde ein Brandanschlag verübt. Der mutmaßliche
Täter hat sich in die Türkei abgesetzt, wird aber voraussichtlich
nicht ausgeliefert. Um gegen den importierten Antisemitismus
vorzugehen, plant die Bundesregierung eine Erschwerung der
Einbürgerung. Eine erleichterte Ausbürgerung indigener Antisemiten ist
noch nicht geplant.
- Antiziganismus:
Sinti und Roma werden in Deutschland bis heute ausgegrenzt und
diskriminiert. Gegen keine andere Gruppe, so das Ergebnis des Berichts
einer Untersuchungskommission, gäbe es „ein so durchgehendes Bild der
Ablehnung“. Da sagt eine Lehrerin zu einem Mädchen, dass „der
Diebstahl zu seiner Kultur gehöre“, da wird ein Mann am Arbeitsplatz
aufgefordert, die Toilette zu reinigen, da müssen KZ-Opfer jahrelang
auf ihre Entschädigung warten. Viele Sinti und Roma empfinden ihr
Leben in der Bundesrepublik als „zweite Verfolgung“. Und dazu passend
ist in Berlin der Standort des Denkmals für die Mordopfer der Nazis
durch den Bau einer S-Bahn-Trasse gefährdet.
Kein
Platz für „Zigeuner“
Es
versteht sich von selbst, dass „Antiziganismus“ für die AfD ein
Fremdwort ist, im Gegensatz zum „Zigeuner“, den der Abgeordnete Markus
Frohnmaier in seiner Rede zum Untersuchungsbericht mehrmals verwendete
und auch weiterhin in seinem Wortschatz führen will.
- Islamophobie:
In Bayern wurden 2020 an die 132 islamfeindliche Straftaten
registriert, fünf mehr als im Vorjahr. An der Spitze der Pyramide das
Delikt der Volksverhetzung, überwiegend begangen von Bewohnern der
rechten Ecke, z.B. von der „Bürgerbewegung Pax Europa“, die offenbar
den Lateinunterricht nur gelegentlich besucht hat.
- Linksausleger:
Arg gelitten hat unsere Sympathie für die Hausbesetzerszene, als bei
einer Brandschutzbegehung des Hauses Rigaer Str. 34/Berlin, einer
Hochburg der militanten Linken, 80 Polizisten verletzt wurden, die die
Identität der Bewohner überprüfen wollten. Mit solchen
Endkampffantasien“ wird auch der konstruktive Widerstand gegen die
Immobilienhaie untergraben.
- Terrorismus:
In der Würzburger Altstadt stach ein Somalier mit dem Messer auf
Passanten ein und tötete drei Frauen. Noch ist nicht klar, ob seine
Psyche oder sein Verständnis von Religion gestört ist, aber davon
unabhängig ist es höchste Zeit, ihn „in ein Zimmer zu setzen“. Es ist
bedrückend, an die drei Frauen zu denken, die im Sarg vom Einkauf
zurückkommen, und unbegreiflich, wie kaputt ein Mensch sein kann/oder
gemacht worden ist.
Schlimmeres
verhindert hat durch sein mutiges Eingreifen der iranische
Asylbewerber Chia Rabiei. Er schlug mit dem Rucksack auf den Täter ein
und hinderte ihn dadurch, weitere Menschen zu attackieren.
Forderungen, dem „Helden von Würzburg“ dafür die deutsche
Staatsbürgerschaft zu geben, kollidieren mit dem deutschen
Einbürgerungsrecht. Chia wird vielleicht der Aufenthalt ermöglich,
ansonsten muss er sich mit einer Rettungsmedaille begnügen. In
Frankreich ist man da spontaner – und großzügiger.
Streifzüge
ins Ausland
Da
bei uns bereits die Diskussion anhebt, ob und wie weit wir wegen
Corona auf Reisen gehen dürfen, verreisen wir zunächst einmal
virtuell, allerdings in Länder, wo wir an sich gar nicht hinwollen.
- Äthiopien:
In der abtrünnigen Provinz Tigray wurden drei Mitarbeiter der
Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ ermordet. Im Juli hat die
Organisation deshalb die Arbeit in einigen Gebieten der Provinz
eingestellt. Kann man ihr nicht verdenken!
- Brasilien:
Dort holzt man den Regenwald ab und rüstet die Polizei auf. In keinem
anderen Land sterben so viele Menschen an Polizeikugeln. Und die
stammen auch aus deutschen Pistolen. Immerhin: Nach dem Mord an der
Stadträtin Marielle Franco, verübt mit einer Maschinenpistole von
Heckler & Koch, hat das Unternehmen erklärt, keine weiteren Waffen
nach Brasilien liefern zu wollen. Nicht so jedoch die amerikanische
Tochterfirma von Sig Sauer aus Eckernförde!
- USA:
Ein Bundesrichter in Kalifornien hat das (seit Jahrzehnten bestehende)
Verbot von Sturmgewehren in diesem Bundesstaat – aufgehoben. Seine
Begründung ist reif fürs Kabarett: Das Gewehr sei „wie ein Schweizer
Taschenmesser“ – die „perfekte Kombination“ einer Waffe für die
häusliche Verteidigung wie für den Einsatz im Heimatschutz. Seit
diesem Urteil blicke ich mein Schweizer Taschenmesser mit anderen
Augen an.
- China/Hongkong:
Binnen weniger Wochen hat das „Sicherheitsgesetz“ von 2020 die
demokratischen Restbestände in Hongkong vernichtet. Wer am 4. Juni,
dem Jahrestag des Massakers von 1989, eine Kerze anzündet, dem drohen
fünf Jahre Gefängnis, wer an irgendeinem Ort der Welt behauptet,
Hongkong sei nicht ein Teil Chinas, muss damit rechnen, bei der
nächsten Einreise verhaftet zu werden, und wer sich als Unternehmen an
amerikanische Sanktionen hält, die wegen Menschenrechtsverletzungen
verhängt wurden, findet sich vor dem Volksgericht wieder. Der Rat
„Weniger China“, den die SZ deutschen Unternehmen gibt, wird derzeit
aber eher nicht befolgt.
- Iran:
Da hat man mit Ebrahim Raisi wahrlich den Bock zum Gärtner/Präsidenten
gemacht. Aussichtsreiche Gegenkandidaten wurden vom Wächterrat
vorsortiert und als ungeeignet ausgeschieden, so dass Raisi, bei einer
Wahlbeteiligung von unter
50
Prozent einen „Erdrutschsieg“ feiern konnte. Auf Platz zwei und drei
kamen übrigens Mickey Mouse und Batman. Raisi war Mitglied des
„Komitees des Todes“ von 1988, das dafür sorgte, dass Tausende
politischer Häftlinge ohne Urteil in den Gefängnissen hingerichtet
wurden. Er war in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Justiz in
den letzten zwei Jahren (notgedrungen) die Vorzugsadresse bei unseren
Appellbriefen. AI hat ihm aber nie abgekauft, dass er, nach eigenen
Aussagen, „als Staatsanwalt und Richter immer ein entschiedener
Verfechter der Menschenrechte gewesen sei“ und fordert, dass man ihm
wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit den Prozess macht.
- Nordkorea:
Kim Jong-un, der gut genährte Machthaber des Landes, hatte seine
Landsleute schon im April dazu angehalten, sich auf einen „mühsamen
Marsch“ einzustellen. Diese Redewendung kennen sie schon von der
Hungersnot der 1990er Jahre. Für den aktuellen Versorgungsengpass
macht Kim die Taifune von 2020 und die Sanktionen verantwortlich.
Entscheidender aber ist wohl die strikte Anti-Corona-Politik. Das Land
schottet sich ab und lässt weder eine Unterstützung durch
Hilfsorganisationen noch von Südkorea zu. Nur Hilfsgüter aus China
werden akzeptiert. Kim hat in einem Brief an den Frauenbund an die
weibliche Bevölkerung appelliert, auf dem mühsamen Marsch gefälligst
gute Laune zu verbreiten. Er erwarte,
„dass
die ganze Gesellschaft durch das fröhliche Lachen und die heitere …
Lebensweise unserer Frauen vor Kraft und Optimismus strotzt.“
Ein
Land, das solche Frauen (und einen solchen Führer) hat, braucht auch
nichts zu essen. (Vorsicht: Satire!)
- Polen:
Anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des deutsch-polnischen
Nachbarschaftsvertrages fuhr Bundespräsident Steinmeier nach Polen.
Bartosz T. Wielinski, Redakteur bei der Zeitung „Gazeta Waborcza“, gab
ihm eine eher unerfreuliche Reiselektüre mit. Er zählte ihm die
Problemfelder auf, die zu einem „Polexit“ führen könnten, die Angriffe
auf eine unabhängige Justiz, die Missachtung von Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofes, die Gängelung der Medien, die Hetze gegen
die LGBTQ-Gemeinschaft, die Verschärfung des Gesetzes zur Abtreibung,
die Hetzkampagnen gegen Deutschland. Für Wielinski ist der
Nachbarschaftsvertrag „im Grunde tot“. So weit gehen wir natürlich
nicht, auch wenn wir der PiS-Regierung bei den Wahlen von 2023 einen
unsanften Abgang wünschen. Und natürlich bleibt es ein Land, wo wir
hinfahren wollen (und auch müssen).
- Russland:
Dort setzt man zunehmend auf Härte gegen Menschen und Gruppen, die
sich mit Putin und seiner Partei „Einiges Russland“ partout nicht
einigen wollen. Die SZ meint dazu:
„Wladimir
Putins Machtapparat hat längst von Scheindemokratie auf offene
Repression umgeschaltet“ …,
ohne
dafür von Gerhard Schröder verklagt zu werden. Oppositionelle wie
Andrej Piwowarow werden aus dem Flugzeug geholt - Was Lukaschenko
kann, können wir auch! -, Nawalnys Netzwerk wurde als „extremistisch“
eingestuft und damit al-Qaida gleichgesetzt, und die Insassen in
russischen Straflagern sollen jetzt beim Bau von Straßen und
Bahntrassen eingesetzt werden. Väterchen Stalin lässt grüßen.
- Ungarn:
Das Land hat wieder einmal Schlagzeilen gemacht, mit einem Gesetz, das
einerseits auf Zustimmung im Lande trifft, andererseits der
Europäischen Konvention der Menschenrechte widerspricht. Mit dem
LGBTQ-Gesetz werden härtere Strafen für Kindesmissbrauch mit dem
Verbot von Aufklärung über Homo- und Transsexualität für Jugendliche
und deren Darstellung in der Kunst „flott vermischt“. Die Zustimmung
im Lande, und das sollte man bei aller Kritik berücksichtigen, erklärt
sich aus der Skepsis vieler Ungarn gegenüber alternativer
Lebensmodellen und der Einstellung, dass sexuelle Aufklärung ins
Elternhaus gehört. Ob sie allerdings dort immer stattfindet, wage ich
zu bezweifeln. Und das gilt nicht nur für Ungarn!
Bei
allem Verständnis für die Abneigung der Ungarn gegen
westliche/deutsche Bevormundung, es hat uns gefreut, dass bei der
Fußball-EM einige Städte, wo keine EM-Spiele stattfanden, in den
Regenbogenfarben leuchteten, und Politiker, denen man es nicht auf
Anhieb zugetraut hätte, die Entscheidung der UEFA, die Arena in
München in ihrer normalen LED-Beleuchtung zu belassen, als Verstoß
gegen „Toleranz und Freiheit“ bezeichneten.
Regenbogler
AI-Nachrichten
-
In Hongkong musste die Zeitung „Apple Daily“, eines der letzten
kritischen Medien der Stadt, auf Druck Pekings ihr Erscheinen
einstellen. Im Vorfeld hatte man führende Mitarbeiter festgenommen,
Computer beschlagnahmt und die Konten eingefroren. Im
Pressefreiheitsindex der „Reporter ohne Grenzen“ ist Hongkong von
Platz 18 im Jahre 2002 auf Rang 80 abgerutscht. Die Trauer Pekings
über den Absturz hält sich in Grenzen.
-
Der russische Mathematiker Azat Miftakhov muss sechs Jahre in die
Strafkolonie. Grund für seine Verhaftung im Jahre 2019 war der
Vorwurf, er habe eine Fensterscheibe eines Gebäudes der Partei
„Einiges Russland“ eingeschlagen. Die war aber schon seit einem Jahr
kaputt. Das Urteil im Januar 2021 führte zu massiven Protesten von
Wissenschaftlern: 3200 Mathematiker aus 15 Ländern unterschrieben eine
Petition, 50 Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften
forderten seine Freilassung. Die wird auf sich warten lassen, denn
solche Leute kann man im Strafvollzug brauchen, um, wie erwähnt, die
Bahntrassen zu berechnen.
-
In Pakistan haben Menschenrechtlerinnen den Premierminister Imran Khan
attackiert. Als er auf die Vergewaltigungswelle in seinem Land
angesprochen wurde, wurde, kam er mit dem altvertrauten
Macho-Argument, Frauen sollten sich bedecken, dann werden sie nicht
vergewaltigt, denn nicht jeder Mann habe genügend Willenskraft, einer
unverhüllten Frau zu widerstehen. Dieses Entschuldigungsmuster stößt
in Pakistan zunehmend auf Ablehnung.
„Tritt
zurück, frauenfeindlicher Premier!“
-
Kirchenasyl: In Würzburg wurde die Franziskanerin Juliana Seelmann zu
einer „Bewährungsstrafe im untersten Bereich“/600 € verurteilt. Sie
hatte eine Nigerianerin ins Kirchenasyl genommen, der bei einer
Rückführung nach Italien erneut die Zwangsprostitution gedroht hätte.
Verstörend war die Begründung des Schuldspruchs durch den Richter:
„Wir leben in einer Demokratie, nicht in einem Gottesstaat.“ Da kann
man nur sagen: „Richter, ab in den Iran!“ Schwester Juliana hat gegen
das Urteil Rechtsmittel eingelegt. Schließlich sind wir im
christlichen Bayern! Unser Gruppenmitglied Hubert Heinhold hat dazu
einen Leserbrief geschrieben, den die SZ unter dem
Titel „Kirchenasyl ist ein Rechtsbruch, den die Verfassung
entschuldigt“ veröffentlicht hat.
-
Unter dem Titel „Ich bin keine Heldin. Mein langer Kampf für die
Gerechtigkeit“, hat Carla Del Ponte, die frühere Chefanklägerin am
IStGH in Den Haag, eine nüchterne Bilanz ihrer Tätigkeit gezogen: Das
Völkerrecht existiere zwar schon „seit den beiden Weltkriegen“, aber
es werde nicht/nur selektiv/mit großer Verzögerung angewandt, weil es
von den Großmächten seit Jahr und Tag blockiert wird. Und an die kommt
man nicht ran. Und zur Verurteilung kommen nur diejenigen, die für die
Großmächte nicht mehr von Interesse sind.
Justitia:
„Wollen würde ich schon mögen, aber …!“
Erfolgsmeldungen
– damit die Stimmung nicht ganz in den Keller fällt
Im
Juli gab es einmal eine Tagesschau, die eine Viertelstunde lang nur
schlechte Nachrichten brachte. Ich weiß nicht mehr, was die
Wetterkarte bot, aber wahrscheinlich wurde ein Sturmtief von den
britischen Inseln her angekündigt. Wir halten (ein wenig) dagegen und
fangen an – halten Sie sich gut fest - mit der
-
Reform des katholischen Kirchenrechts: Da wurde da zwar erneut mit
„Höllenstrafen“ bedacht, wer eine Frau zur Priesterin weiht bzw. sich
als Frau weihen lässt, aber es kam auch zu einer Aussage über sexuelle
Gewalt, die die Opfer nicht mehr außen vor ließ. Missbrauch wird
künftig nicht mehr nur als Verstoß gegen den Zölibat gewertet, sondern
zählt als Straftat „gegen Leben, Würde und Freiheit des Menschen“.
-
In El Salvador ist eine Frau vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen
worden, die wegen Abtreibung zunächst zu 30, später zu 10 Jahren Haft
verurteilt worden war. Sie hatte vor 10 Jahren ihr ungeborenes Kind
verloren, weil sie, nach Angaben ihrer Familie, beim Wäschewaschen
ausgerutscht war. El Salvador hat ein gnadenloses Abtreibungsgesetz
und bestraft auch Frauen, die eine Fehlgeburt erleiden, weil/wenn sie
nicht beweisen können, dass sie den Tod ihres ungeborenen Babys nicht
absichtlich herbeigeführt haben. Die Frau musste neun Jahre absitzen.
Entlassen wurde sie, weil sie, nach Meinung der Richter, „für die
Gesellschaft keine Gefahr mehr darstellt“. Das kann man vom Strafrecht
des Landes eher nicht sagen.
-
Eindrucksvolle Gesten der Solidarität mit Minderheiten gab es in Ulm
und München.
In
Ulm kam man zu einer spontanen Mahnwache vor der Synagoge zusammen und
in allen Kirchen wurde für die jüdische Gemeinde gebetet. In München
setzten an die 200 Menschen bei brütender Hitze ein Zeichen gegen
Judenhass, das die streitbare Charlotte Knobloch in die Worte fasste:
„Wir
gehören zu dieser Stadt, ohne Wenn und Aber. Wir sind hier, und wir
bleiben hier.“
-
Eine Bleibe gefunden hat auch die Syrerin Najd Boshi, die in einem
Flüchtlingsboot ihre Heimat verließ und jetzt als „erste Kapitänin …
der Seeschifffahrt auf dem Tegernsee“ Touristen über den See fährt.
Gute
Fahrt!
Juli
2021
„Aber
als die Büffelherden verschwanden, fielen die Herzen meiner Leute
zu Boden, und sie konnten sie nicht mehr aufheben. Danach ist
nichts mehr geschehen.“
Plenty
Coups, letzter Häuptling der Crow
Zitiert
wurde der Häuptling in einem Artikel zur Flutkatastrophe, wo so vielen
Menschen der Boden unter den Füßen weggespült wurde und die von vielen
als Vorstufe zu einer größeren Katastrophe, dem Klimawandel, gesehen
wird. Und, fährt der Häuptling fort,
„wenn
wir wollen, dass danach noch etwas geschieht, müssen wir alles
einsetzen, was uns ausmacht.“
Es
gibt bei uns Leute, die diesen Klimawandel nur deshalb als Bedrohung
empfinden, weil sie fürchten, es könnte dann noch mehr Afrikanern und
Irakern zu heiß werden, und sie zu uns kommen könnten, weil sie sich
hier Abkühlung erhofften. Die Abkühlung können sich die Flüchtlinge
schon heute holen, denn der Empfang, den wir Europäer ihnen bereiten,
kann eiskalt sein.
Asylgeschichten
-
Aus Rottenburg/Niederbayern soll ein blinder Asylbewerber wieder nach
Spanien zurückgeschoben werden, weil Spanien der EU-Mitgliedstaat ist,
den der Syrer Mheddin Saho bei seiner Flucht zuerst betreten hat.
Spanien ist auf behinderte Asylbewerber schlecht vorbereitet. Sogar
das Auswärtige Amt räumt ein, dass eine Unterbringung in einer „auf
die besonderen Bedürfnisse zugeschnittenen Unterkunft“ nicht
gewährleitstet ist. Mheddin ist voll integriert, studiert in München
und arbeitet nebenbei als Übersetzer. Im August ging er wieder ins
Kirchenasyl. Wer solche Menschen abschieben will, muss selber blind
sein.
-
Vielleicht ist er aber bei seinem Asylverfahren an den falschen
Richter geraten. Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt einen Richter
in Gießen für befangen erklärt. Der Richter sieht in der Migration ein
grundsätzliches Übel und eine „Gefahr für menschliches Leben“. Ein
erster Befangenheitsantrag aus dem Jahre 2017 wurde zurückgewiesen.
Man darf sich gar nicht vorstellen, wie viele Asylbewerber er nach
unbefangener Prüfung ihres Falles auf dem Gewissen hat.
-
Der österreichische Bundeskanzler will trotz des Vormarsches der
Taliban weiterhin Abschiebungen nach Afghanistan durchführen. Die
Probleme des Landes, so Kurz, müssten vor Ort gelöst werden. Das sahen
im August die Taliban ganz ähnlich. Bevor wir uns zu sehr über die
Össis aufregen: Noch am 3. August sollte von Deutschland aus eine
Sammelabschiebung stattfinden, aber dann fand man keine „sicheren
Orte“ mehr.
-
Im Mittelmeer kreuzt derzeit mit der Ocean Viking das einzige private
Rettungsschiff. Die anderen Schiffe werden mit fadenscheinigen Gründen
– zu viele Rettungswesten an Bord, unzureichendes Abwassersystem –
immer wieder am Auslaufen gehindert. Der Großteil der Seenotrettung
wird der libyschen Küstenwache überlassen, die die Flüchtlinge nach
Libyen zurückbringt – „bestenfalls“.
-
Drastisch verschärfen will die britische Innenministerin Priti Patel,
indische Abkunft und (deswegen) notorische Hardlinerin in
Migrationsfragen, das „kaputte Asylsystem“: lebenslange Haft für
Schleuser, Anklagen gegen Flüchtlinge die „wissentlich“ illegal
eingereist sind, Auffangzentren in Übersee. Beim letzten Punkt hat
auch die EU aufgehorcht, denn damit liebäugelt Brüssel schon lange.
Ein Sprecher von AI warnte, dass „der Gesetzentwurf das Recht auf Asyl
weltweit untergraben würde“.
-
AI hat auch die illegalen Zurückweisungen an der griechisch-türkischen
Grenze kritisiert und beruft sich dabei auf die Genfer
Flüchtlingskonvention, die heuer ihren
70.
Geburtstag mehr erleidet als begeht. Wie so viele Dokumente der
Völkergemeinschaft ist ihr Anliegen unverzichtbar, aber viele der 146
Staaten, die ihr beigetreten sind, „behalten sich vor, wie sie die
Konvention anwenden und wem sie Schutz gewähren“. Und wenn zu viele
Flüchtlinge kommen und die Stimmung im Lande kippt, dann werden
Internierungslager eingerichtet (Australien), Flüchtlinge
zurückgeschoben (Mittelmeer) und Asylverfahren ausgelagert – wenn
möglich auf den Mond!
Rechtsausleger,
ihre Helfer und ihre Opfer
-
Die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz, die seit drei Jahren von
Rechtsradika len bedroht wird, war deswegen umgezogen und hatte eine
neue und geheime Adresse bekommen. Diese Adresse war so geheim, dass
sie der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses zum Mordfall Walter
Lübcke gleich an alle Mitglieder des Ausschusses weiterleitete. Im
Ausschuss sitzen auch AfD’ler, und bei denen ist eine solche Adresse
bekanntlich gut aufgehoben. Bei anderen Daten ist man weniger
„verschwenderisch“: Die Akten des Verfassungsschutzes zur möglichen
Verstrickung von V-Leuten in die Morde der NSU werden weiter unter
Verschluss gehalten.
-
Die Flutkatastrophe hat nach dem Hochwasser auch Rechtsextremisten und
Querdenker in die betroffenen Orte gespült, in Reisebussen und
Fahrzeugen, die denen der Bundeswehr glichen. Sie nutzten die Not der
Menschen, um Falschmeldungen zu verbreiten, die Einsatzkräfte zu
behindern und die Botschaft abzuliefern, dass der Staat in der Not
nicht zu gebrauchen sein – was man ja schon bei der Verhängung der
Corona-Maßnahmen und der Propaganda für die Impfkampagne erlebt habe.
Was dem Fass den Boden ausschlug, war der Ausspruch des
Verschwörungsgurus Attila Hildmann, dass die Flut durch
„Wettermanipulation“ der Regierung herbeigeführt worden sei.
-
In Berlin wurde Erk Acarer, türkischer Journalist und Kritiker von
Präsident Erdogan, von drei Männern, mutmaßlich rechtsextreme Anhänger
des Regimes, attackiert. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die
Männer nicht nur aus Eigeninitiative, sondern auf staatlichen Auftrag
hin gehandelt hatten. Der Verfassungsschutz spricht von immerhin 11
000 türkischen Rechtsextremisten in Deutschland, die man
gegebenenfalls auf unliebsame Exilanten ansetzen kann. Einige Nutzer
zeigten im Netz ihre „Empathie“ für das Opfer: „Um in die Nachrichten
zu kommen, wird er sich selbst verprügelt haben lassen.“
-
Im Prozess gegen das „Rollkommando“ von Ballstädt/Thüringen kamen die
Täter mit einem hellblauen Auge davon. Neonazis hatten 2014 eine
Kirmesgesellschaft überfallen (und einige Leute verprügelt) und waren
zunächst zu angemessenen Haftstrafen verurteilt worden. Nachdem der
Bundesgerichtshof das Urteil wegen unzureichender Beweise aufgehoben
hatte, schloss die Staatsanwaltschaft im 2. Prozess einen Deal, um das
Verfahren nicht weiter hinauszuzögern: Die Schläger sollten
Bewährungsstrafen erhalten, wenn sie umfassende Geständnisse ablegten.
Juristisch scheint angesichts der verstrichenen Zeitspanne und der
schwierigen Beweislage ein „bestmögliches Ergebnis“ erzielt worden zu
sein, aber ein „Geschmäckle“ bleibt. Die Prügelei wurde als „Akt der
Selbstjustiz“ eingestuft, weil man in der Naziburg ein Fenster
eingeworfen hatte, das Verfahren wurde so lange verschleppt, dass die
Opfer die Täter nicht mehr identifizieren konnten, und die Richterin
warf den Medien und den Nebenklägern vor, ein fragwürdiges
Demokratieverständnis zu vertreten, weil man den Deal, so die SZ,
als „Triumph der Neonazis bewertet hatte.
Könnten
Sie vielleicht den Mann identifizieren?
-
Die Rechtsterroristin Susanne G. kam da etwas schlechter weg. Sie
hatte sich mit Material zum Bau einer Bombe eingedeckt und wollte
damit einen Amtsträger oder einen Muslim erledigen. Frau G. hatte
Kontakt zu den NSU-Helfern Ralf Wohlleben und André Eminger. Sie war
Physiotherapeutin, deshalb nannte Wohlleben sie „Susl mit den
Zauberhänden“. Mit diesen Händen hat sie auch scharfe Patronen in
Briefumschläge gesteckt und an Kommunalpolitiker, einen Moscheeverein
und eine Flüchtlingshelfergruppe verschickt. Frau G. wurde zu sechs
Jahren Gefängnis verurteilt, obwohl sie nach Meinung ihres Anwalts gar
nicht schuldig sein könnte. Seine Begründung: Sie sei eine Anhängerin
Hitlers, und dessen Partei „verbiete jede Gewalttat gegen den Staat“.
Gewalttaten durch den Staat waren erlaubt.
-
England bot zur Fußball-EM in Sachen Rassismus ein mehr als
zwiespältiges Schauspiel. Die Mannschaft ging vor allen ihren Spielen
auf die Knie nieder, um ein Zeichen gegen Rassismus und Ausgrenzung zu
setzen. Dagegen gab es Proteste, was Premier Johnson und seine
beinharte Innenministerin dazu veranlassten, ihr Verständnis nicht für
die Geste, sondern für den Unmut der Gegner der Kniebeugen zu äußern.
Dann kam das Elfmeterschießen. Drei schwarze Spieler vergaben, wurden
aber dafür Zielscheibe übelster Attacken im Netz. Da fehlte dann
selbst Johnson das Verständnis.
Marcus
Rashford, das Leben geht weiter.
AI-Nachrichten
-
Die Türkei hat eine Konvention verlassen, die „zum Schutz der Frauen
vor männlicher und häuslicher Gewalt“ gedacht ist. Sie wurde 2011 in
Istanbul erlassen, die Türkei war einer der ersten Staaten, der sie
unterzeichnet hat und ist jetzt der erste Staat, der austritt. Die
Begründung für den Austritt ist etwas abwegig. Die Konvention diene
bestimmten Gruppen dazu, „Homosexualität zu normalisieren“. In
Wirklichkeit geht Erdogan auf Stimmenfang in der islamistischen
Wählerschaft. Die Frauen versucht er, mit dem Versprechen eines
„Aktionsplans“ zu besänftigen. Der ist auch dringend notwendig: Im
Februar 2021 wurden in der Türkei 28 Frauen von Männern ermordet, 12
wurden unter verdächtigen Umständen tot aufgefunden.
Das
habe ich schon zum Frauentag im März erwähnt. Da wurde der Austritt
angekündigt, zum 1. Juli wurde er vollzogen. Alle Leser, die die
Doppelung gemerkt haben, ein Kompliment: Sie lesen nicht nur quer!
-
Bleiben wir, widerwillig, bei der Exekution von Frauen. Ein
Untersuchungsausschuss in Malta ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der
maltesische Staat mitverantwortlich sei für den Tod der Journalistin
Daphne Caruana Galizia. Die Regierung des (inzwischen abgetretenen)
Premiers Muscat habe dem „Big business“ unvertretbar nahegestanden und
damit für ein „Klima der Straflosigkeit“ gesorgt, in dem sich die
Mörder der Journalistin, die in die Geldgeschäfte von Politikern
hineingestochert hatte, sicher fühlten. Daphnes letzter Eintrag war:
„Schurken, wohin man schaut. Es ist zum Verzweifeln.“
-
In New York wurden vier Mitglieder des iranischen Geheimdienstes
angeklagt, die die Journalistin Masih Alinedschad in den USA kidnappen
und in den Iran verschleppen wollten. Alinedschad hatte in den
sozialen Medien, aus nur scheinbar sicherer Entfernung, eine Kampagne
gegen den Kopftuchzwang geführt, die im Iran mehreren Frauen, die dem
Aufruf gefolgt waren, langjährige Haftstrafen einbrachten. (Dazu
gehört auch unser derzeitiger „Iranfall“, zwei Frauen, die in der
U-Bahn unverschleiert Blumen verteilten. Doch davon später.) Habhaft
wurde man aber nur einer fünften Person, die bei der Beschaffung des
Geldes (für Privatdetektiv und Schnellboote) geholfen hatte, die
anderen vier halten sich mutmaßlich im I ran auf – und bereiten dort
die nächsten Entführungen von Kritikern aus ihrem Exil vor.
-
In Khashoggi-Manier sind palästinensische Sicherheitskräfte gegen
Nizar Banat vorgegangen, der im Westjordanland zu den bekanntesten
Kritikern von Präsident Abbas zählte. Er hatte die Palästinensische
Autonomiebehörde/PA mit Vorwürfen wegen Korruption und
Günstlingswirtschaft herausgefordert und war schließlich so weit
gegangen, die Europäer zu drängen, die Finanzhilfe für die PA
einzustellen. Und bei den Finanzen hört bekanntlich die Freundschaft
auf. Am 24. Juni drangen Sicherheitskräfte in Banats Haus ein, nahmen
ihn mit, und eine Stunde später war er tot. Banats Familie spricht von
einer „politischen Hinrichtung“, und selbst ein Oberst der
Sicherheitskräfte räumte ein, dass „das ein großer Fehler war“. Im
Westjordanland nehmen die Proteste gegen Abbas deutlich zu, manche
sprechen schon von einem „palästinensischen Frühling“. Ob es mit der
Hamas besser liefe, ist allerdings zu bezweifeln.
-
Lukaschenko verfährt mit seinen Gegnern immer mehr nach dem Grundsatz
„Wenn schon, denn schon“. Jetzt hat er Viktor Babariko, der ihn bei
den Wahlen im letzten Jahr mit guten Siegeschancen herausgefordert
hätte, und der deshalb von Lukaschenko vorsorglich „aus dem
(Publikums)Verkehr gezogen“ wurde, auf Dauer weggesperrt. Wegen
Korruption wurde Babaryko zu 14 Jahren Lagerhaft verurteilt, darf
keine führenden Ämter mehr ausüben und kann keine Berufung einlegen.
Im Juli „holte Lukaschenko dann zum Kahlschlag aus“: Es gab Razzien
gegen 16 unliebsame Organisationen, mehr als 40 NGOs wurden verboten,
die (im Lande verbliebenen) Mitglieder der MR-Organisation Wesna
verhaftet – eine „Säuberung“ von stalinistischen Dimensionen. Und im
Hintergrund Präsident Putin, der seinen „Zauberlehrling“ den
„verruchten Besen“ wohlwollend weiterschwingen lässt.
-
Wohin wünscht man sich Leute wie Lukaschenko? Nein, nicht dahin, wo
der Pfeffer wächst, sondern nach Den Haag. Dort wurden jetzt zwei
Männer wegen Beihilfe zu Mord, Verfolgung und Vertreibung verurteilt,
die seinerzeit zum engsten Zirkel des serbischen Präsidenten Milosevic
gehörten.
Nachrichten
aus aller Welt
- Ortskräfte:
Im Juli und im August wurde Afghanistan zum „Land der zwei
Geschwindigkeiten“. In Windeseile eroberten die Taliban eine Provinz
nach der anderen, und (fast genauso schnell) verließen die
ausländischen Truppen das Land. Wesentlich langsamer verlief die
Evakuierung der gefährdeten Ortskräfte. Es stellte sich heraus, dass
die deutschen Ministerien zu lange damit beschäftigt waren, die
Schutzberechtigten nach den Regeln der Bürokratie auszusieben, anstatt
einen Evakuierungsplan auszuarbeiten, der es ermöglicht hätte, diese
Menschen spätestens mit den letzten Bundeswehrsoldaten auszufliegen.
Deshalb kann man es einem Mann wie Ahmad Jawil Sultani, langjähriger
Übersetzer der Bundeswehr in Afghanistan, schwerlich verdenken, wenn
er es „bedauert, für die Bundeswehr gearbeitet zu haben“.
Zur
Klarstellung: An den Soldaten lag es nicht, die hätten die Afghanen
schon mitgenommen!
- Iran:
Zum „würdigen“ Nachfolger von Präsident Raisi als Chef der iranischen
Justiz wurde Gholamhossein Mohseni-Ejei ernannt. Wie sein Chef gilt er
als Hardliner, trat als Ankläger gegen Reformisten auf, war (wie
Raisi) in die „Kettenmorde“ von 1988 verwickelt, steht auf der
Sanktionsliste der USA, weil er verantwortlich war für die
Niederschlagung der „Grünen Revolution“ von 2009. Wir werden also
weiterhin hören von exzessiven Todesurteilen, Geheimverfahren und
Geiseldiplomatie. Auf dem Foto schaut er drein wie ein gütiger
Familienvater, aber weil er das nicht ist, drucken wir es auch nicht
ab.
- Polen:
Recht unkollegial hat sich der polnische Priester Dariusz Oko in der
deutschsprachigen Zeitschrift Theologisches zu
homosexuellen Kollegen geäußert. Er hat sie als „Plage“ bezeichnet und
mit der Mafia verglichen. Ein Kölner Gericht hat ihn darauf wegen
Volksverhetzung zu einer Geldstrafe von 4800 Euro verurteilt.
Ultrakonservative katholische Kreise sammeln jetzt Unterschriften für
eine Petition an Angela Merkel. Wir unterschreiben – nicht. Ein
polnischer Vizeminister sah in Okos Hetze eine „wissenschaftliche
Tätigkeit“ und warf der deutschen Justiz der Wissenschaft gegenüber
„freiheitsfeindliche Tendenzen“ vor.
- Niederlande:
Vielleicht hätte sich Hochwürden Oko seinen dummen Vergleich erspart,
wenn er etwas mehr Ahnung vom Treiben der wirklichen Mafia hätte. Die
hat in den Niederlanden den Kriminalreporter Peter R. de Vries
ermorden lassen. Er war ihr im Wege, weil er Vertrauensperson des
Kronzeugen eines Strafprozesses gegen eine Drogenbande war. Die Bande
ist nicht zimperlich: Bereits 2019 waren bereits der Bruder und der
Verteidiger des Kronzeugen ermordet worden. Richter und Staatsanwalt
in diesem Prozess werden bei einem Schuldspruch lebenslänglich
bekommen – Personenschutz.
- München:
Ein verstörendes Foto ist mit einer gewissen Verspätung bei Focus
online aufgetaucht. Ein Video aus der Bodycam einer Polizistin zeigt,
wie ein Kollege im Februar 2020 minutenlang auf dem Hals eines
53-jährigen Mannes kniet. Der Mann, Franzose und seit 20 Jahren in
München lebend, war bei einer Fahrkartenkontrolle mit Bahn- und
Polizeibeamten in Konflikt geraten, weil er zwar eine gültige
Fahrkarte besaß, diese aber mit einer handschriftlichen Notiz versehen
hatte. Im August wird ihm der Prozess gemacht - wegen
Körperverletzung, Beleidigung und tätlichen Angriffs auf
Vollstreckungsbeamte. Bei „Körperverletzung“ sollte man aber
nachhaken, auch hinsichtlich des Zugriffs der Polizei. Die hat
versprochen, eine Vorermittlung gegen den Beamten einzuleiten.
„French
lives matter, too“
Erfolgsmeldungen
– unter der AI-Lupe
-
In München hat sich ein breites Bündnis formiert, um gegen die
Verabschiedung des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes zu
protestieren. Als Folge der Großdemo von vor zwei Jahren, war das
Gesetz zwar dahingehend entschärft worden, dass man u.a. den Begriff
der „drohenden Gefahr“, der der Polizei das präventive Eingreifen
erleichtert hätte, klarer formulieren wollte, soll aber immer noch
eine „Zuverlässigkeitsprüfung“ enthalten, der man sich im Vorfeld
einer Veranstaltung zu unterziehen hat, z.B. ob man regelmäßig die
Staatspartei wählt. (Vorsicht Satire!) Nach Verabschiedung des
Gesetzes steht jetzt eine Klagewelle beim Bayrischen
Verfassungsgericht an. Hoffentlich sind die Richter „zuverlässig“.
Fortsetzung folgt im September – im Zusammenhang mit der IAA in
München!
-
In Honduras ist es fünf Jahre nach dem Mord an der Umweltaktivistin
Berta Cáceres zu einem weiteren Schuldspruch gekommen. Berta hatte
gegen den Bau eines Wasserkraftwerks durch die Firma Desa gekämpft,
der die Lebensgrundlage einer indigenen Gemeinschaft zerstört hätte.
Der damalige Geschäftsführer der Firma wurde jetzt für schuldig
erklärt, den Mord mit organisiert zu haben. Das Strafmaß sollte Anfang
August verkündet werden, findet sich aber noch nicht im Netz.
-
Ein interessantes, oder besser „Interessen orientiertes“
Diskussionspapier wurde vom Bundesverband der Deutschen Industrie/BDI
vorgestellt. Grundsätzlich sollten weiter Geschäfte mit Staaten wie
Russland und China getätigt werde, aber wenn es dabei zu
MR-Verletzungen käme, sollten diese nicht unter den Tisch gekehrt,
sondern mit „offenem Visier“ benannt werden – und auch zu Konsequenzen
führen. Da sind wir aber gespannt, ob sich hinter dem offenen Visier
auch noch offene Augen befinden.
-
Im Juli erschien ein SZ-Artikel unter dem Titel
„Zivilcourage zählt“. Darin wurden Fälle aufgelistet, in denen bei der
Überwältigung von Terroristen Flüchtlinge beteiligt waren, auch unter
Einsatz ihres Lebens. Jüngstes Beispiel war das Eingreifen des
iranischen Asylbewerbers Chia Rabiei bei der Messerattacke in
Würzburg. Er stellte sich bei der schrecklichen Messerattacke in
Würzburg dem Täter entgegen, schleuderte einen Rucksack nach ihm, gab
ihm einen Tritt und bewarf ihn gemeinsam mit anderen mit Flaschen. In
Frankreich hätte ihm der Präsident die Staatsbürgerschaft verliehen,
in Deutschland aber gibt es einen Aufenthaltstitel nicht als
Belohnung, sondern nach Vorschrift – außer man ist Spitzensportler.
Zum
Monatsschluss haben Sie sich etwas zum Lachen verdient. Funktioniert
aber nur bei jenen, die sich haben impfen lassen.
August
2021
„Nichts
ist gut in Afghanistan“
Margot
Käßmann, Neujahrspredigt 2010
Die
Bischöfin wurde damals für diese Äußerung schwer abgekanzelt, sah die
Zeit nach 2001 zu einseitig negativ und wurde erst mit der 2.
Machtergreifung der Taliban und durch die Panik beim Abzug des Westens
bestätigt, denn wenn man die 25 Artikel, die der Merkur und
die SZ im Monat August zu Afghanistan
veröffentlichten, durchgeht, von der „Eroberung von Kundus“ am
Monatsanfang zur „Angst vor der schwarzen IS-Fahne“ am Ende des
Monats, dann wird man die Bewertung der Bischöfin, übertragen auf den
August 2021 und die (weitere) Zukunft des geschundenen Landes, fraglos
unterschreiben. Dazu die SZ:
„Nichts
ist gut in Afghanistan, sagte während des Einsatzes eine deutsche
Bischöfin. Aber das stimmte nicht. Die Zeit, in der nichts mehr gut
ist in Afghanistan, bricht gerade erst an.“
Man
könnte jetzt anführen, wie die Frauen aus ihren Ämtern und von der
Straße verschwinden, ältere Schülerinnen von den Schulen verwiesen
werden, Gerüchte aufgreifen, dass die ersten Körperstrafen nach der
Scharia vollstreckt wurden, dass an der Minderheit der Hazara Massaker
verübt wurden und Menschenrechtler gejagt werden, aber wir wollen
gegen den Strom schwimmen und versuchen, und das könnte durchaus im
Sinne von Margot Käßmann sein, mit einer übergroßen Lupe Nachrichten
mit positiven Anteilen zu finden und Geschichten von Tapferkeit,
Rettung und Hoffnung zu erzählen.
-
Am 19. August demonstrierte die Politikwissenschaftlerin Crystal Bayat
mit anderen Talibangegnern in Kabul. Sie hüllte sich am
Unabhängigkeitstag in eine afghanische Flagge, die von den Taliban
verachtet wird. Für Bayat gab es noch ein „Zeitfenster“ von 20 Tagen,
bevor die Taliban durchregieren wie einst. Mit den 20 Tagen dürfte sie
sich nach oben verschätzt haben. Ihre Doktorarbeit wird sie, wenn
überhaupt, nicht in Kabul beenden können.
Letzte
Proteste in Kabul
-
Die Frauenrechtlerin und (ehemalige) Bürgermeisterin der
Provinzhauptstadt Maidan Zarifa Ghafari hat es nach Deutschland
geschafft. Nach dem Vormarsch der Taliban, war ihr nichts anderes
übriggeblieben, als auf „ihre Ermordung zu warten“. Am 23. August kam
sie nach einer abenteuerlichen Fluchtgeschichte in Köln an.
-
Die Journalistin Shabnam Dawran, die sechs Jahre lang als
Fernsehmoderatorin gearbeitet hatte, veröffentlichte in den sozialen
Medien ein Video, auf dem sie vom „freundlichen“ Empfang berichtete,
dem man ihr bei ihrem Fernsehsender bereitet hatte. Sie war nach dem
Systemwechsel wie selbstverständlich zur Arbeit gegangen, war aber,
anders als ihre männlichen Kollegen, nicht eingelassen, sondern nach
Hause geschickt worden. Ihr Appell, so nüchtern vorgetragen, als
verlese sie den Wetterbericht lautete:
„Wenn
Sie dies sehen, wenn die Welt mich hört, helfen Sie uns. Unser
Leben ist in Gefahr.“
-
Dem deutschen Aktionsbündnis „Luftbrücke Kabul“ um die Filmemacherin
Theresa Breuer gelang es in einer verwegenen Rettungsaktion, 189
Afghanen, die für westliche Medien, NGOs oder Firmen gearbeitet
hatten, aus Kabul auszufliegen. Die Meldungen, ob Auswärtiges Amt und
Bundeswehr die Rettungsaktion eher behindert als gefördert haben, sind
widersprüchlich. Fest steht, dass die finale Hilfe von den Amerikanern
kam.
-
Davon abgesehen kann sich die Leistung der deutschen (und der anderen)
Soldaten durchaus sehen lassen. Man versuchte unter großem Einsatz zu
retten, was (trotz unzureichender Vorbereitung) noch zu retten war.
Immerhin konnten 5347 Menschen ausgeflogen werden. Und damit ist es
wieder einmal an der Zeit, meinen Lieblingsspruch von Martin Buber zu
zitieren: „Wer einen einzigen Menschen rettet, rettet die ganze Welt.“
Dass unsere Verteidigungsministerin bei der Heimkunft der Soldaten in
ihrer Erleichterung darüber, dass alle Soldaten unversehrt
zurückgekommen waren, den Kommandanten umarmte, hätte es bei den
Taliban nicht gegeben.
-
Wie gefährlich der Einsatz war, zeigt das Foto der amerikanischen
Soldatin Nicole Gee. Es zeigt, wie sie ein afghanisches Baby rettete.
Kurz darauf fiel sie mit 12 weiteren Kollegen dem IS-Terroranschlag am
Flughafen von Kabul zum Opfer.
Nicole
Gee (+)
-
Und dann hat der Engel Aloysius, der vom Hofbräuhaus aus die bayrische
Staatsregierung berät, auch auf Bundesebene einen guten Rat erteilt.
Innerhalb eines Vormittags soll sich nämlich die Meinung des
Bundesinnenministers zu den Abschiebungen nach Afghanistan geändert
haben. Diese werden auf Grund der sich „rasant verändernden
Sicherheitslage“ vorerst ausgesetzt – auch für Straftäter. Für sie, so
die SZ,
„sehen
Völkerrecht und Strafgesetzbuch Haft in Straubing vor, und nicht
Enthauptung in Kundus“.
Nachrichten
aus Osteuropa
- Polen:
Um nicht seinen Anteil an den Brüsseler Fleischtöpfen zu verlieren,
möchte Polen die umstrittene Disziplinarkammer, die zur Demontage der
unabhängigen Justiz geführt hat, „in ihrer jetzigen Form“ abschaffen –
oder auch nicht. Ein Ultimatum der EU, das bis Mitternacht 16. August
befristet war, blieb bis zum Nachmittag dieses Tages von Warschau
unbeantwortet. Zur Ablenkung haben Regionen und Gemeinden des Landes
(mit Förderung von Regierung und Kirche) einen Nebenkriegsschauplatz
eröffnet und sich auf die LGBT-Gemeinschaft eingeschossen. Es liegt
ein Gesetzentwurf vor, ganz Polen zur heterosexuellen Zone zu
erklären. Die Angehörigen sexueller Minderheiten wird man dann Dariusz
Oko zur Konversionsbehandlung übergeben. Die EU hat wieder einmal
Strafzahlungen angedroht, aber auch diesmal gilt das Sprichwort in
Abänderung: „Wer zahlt, schafft noch lange nicht an!“ Im September gab
es in einigen der größeren Regionen einen „halbherzigen Rückzug“: die
Anti-LGBT-Erklärung wurde auf Befehl von Warschau (und zunächst
einmal) widerrufen. Der Grund: Es geht um (EU-)Milliarden.
- Belarus:
Lukaschenko wird in der Wahl seiner Mittel immer skrupelloser. Es ist
zu vermuten, dass sein Geheimdienst bis nach Kiew ausgeschwärmt ist
und dort in einem Park den belarussischen Aktivisten Witali Schischow
aufgehängt hat. Die ukrainische Polizei jedenfalls ermittelt auch
wegen „Mord getarnt als Selbstmord“.
Foto
eines Suizidgefährdeten?
Und
dann setzt Lukaschenko die Migration als Waffe ein, wohl wissend, dass
die EU Flüchtlinge eher nicht haben möchte – und sich Sanktionen
deshalb eher zweimal überlegt. Der Merkur berichtet, dass
belarussische Flugzeuge in Bagdad Fluchtwillige mit dem Versprechen
auf Freiheit und Wohlstand und mutmaßlich zu günstigen Preisen, an
Bord nehmen und diese nach Belarus fliegen. Dort werden sie dann von
belarussischen Grenzern über die litauische Grenze getrieben - und von
litauischen Grenzern immer öfter wieder zurückgeführt. Als Migranten
würde man gerne auch Lukaschenko sehen, und zwar auf dem Weg nach Den
Haag, zum Strafgerichtshof.
- Russland:
Unter dem Titel „Liebesgrüße aus Moskau“ veröffentlichte die SZ einen
langen Artikel über die Journalistin Sonja Groisman. Sie war für die
unabhängige Rechercheplattform Project tätig gewesen, bis das Organ
als „unerwünscht“ verboten wurde. Sonja gilt als „ausländischer Agent“
und muss vor jedes Bild, das sie auf Instagram postet, und sei es nur
ein Foto von einem Blumenstrauß auf ihrem Küchentisch, einen
Warnhinweis setzen, der in seiner ganzen Länge aus 24 Worten besteht:
„Diese
Nachricht wurde … von einer russischen juristischen Person
verbreitet, die die Funktionen eines ausländischen Agenten ausübt.“
Der
Agentenhinweis hat eine verheerende Auswirkung auf die
Auftragslage/Werbe-einnahmen der unabhängigen Medien, aber ob Putin
wegen „geschäftsschädigenden Verhaltens“ einmal vor Gericht muss, ist,
gerade im Lichte der Septemberwahlen, mehr als ungewiss. Derzeit ist
die Repressionswelle gegen Journalisten beispiellos. Wie hieß doch der
Song der Beatles aus dem Jahre 1968: „Back in the USSR/Zurück in der
Sowjetunion.“
Bunt
gemischtes und schwer verdauliches
-
Nur noch 48 Prozent der deutschen Bevölkerung befürworten Integration
der Einwanderer, also ihre Teilhabe an der Gesellschaft bei Bewahrung
der kulturellen Identität. Ein knappes Drittel verlangt von den
Migranten die Assimilation unter Aufgabe kultureller Besonderheiten,
also Minirock statt Kopftuch. Die Studie vermerkt aber auch einen
positiven Trend: So stimmten mit 55 Prozent erstmals mehr als die
Hälfte der Befragten der sogenannten Willkommenskultur zu.
-
In Frankreich wurden zwei Imame wegen frauenfeindlicher Äußerung beim
Freitagsgebet vom Staat abgesetzt. Einer von ihnen hatte behauptet,
Frauen, die in sozialen Netzwerken Schminktipps gäben und figurbetonte
Kleider trügen, „ … seien vom Teufel besessen“. Wenn es einen gäbe,
wüsste ich, wer von ihm besessen ist.
-
In Bayern soll es ein Ausländeramt geben, dessen Leiter
Mitarbeiterinnen mit anzüglichen Bemerkungen traktiert und der das
N-Wort für Menschen mit dunkler Haut immer noch durchzubuchstabieren
scheint. Das Landratsamt will nichts von Beschwerden wissen, räumt
aber ein, dass einige Regelverstöße „umgehend abteilungsintern
abgestellt“ worden seien. Am Aktenschrank im Ausländeramt hängt ein
Foto, das den Behördenleiter mit dem Landrat zeigt, beide mit einem
Weißbier in der Hand. Sie stoßen an – wahrscheinlich auf
Gleichberechtigung und Integration.
-
In der Münchner U-Bahn ist eine Frau von einem Mann hinter ihr
begrapscht worden. Der Übergriff war schlimm genug, aber genauso
schlimm war die Reaktion der anderen Fahrgäste. „Alle drehten sich
aktiv weg.“ Ein Lehrerpaar auf Klassenausflug hat geantwortet, sie
müssten sich um ihre Schüler kümmern, die aber, nach Aussagen der
Frau, keine Grundschüler mehr waren. Erst am Ausgang Sendlinger Tor
schritten Leute ein, und der Grapscher verschwand in der Menge. In
München hat die Polizei im vorigen Jahr 257 Fälle von sexueller
Belästigung bearbeitet, die Dunkelziffer dürfte hoch sein.
-
Viele Südafrikaner fühlten sich an die Kolonialzeit erinnert, als
bekannt wurde, dass der im Land abgefüllte Impfstoff von
Johnson&Johnson bis vor kurzem weitgehend exportiert wurde, vor
allem nach Europa. Jetzt hat der Impfstoffhersteller mitgeteilt, dass
mittlerweile 60 Prozent der Impfstoffe aus Südafrika auf dem Kontinent
verbleiben würden. Allerdings würde eine Impfkampagne auf ein weiteres
Hindernis stoßen: Fast die Hälfte der Südafrikaner glaubt nämlich,
dass Gebete gegen Covid-19 besser helfen. Da sollten die Kirchen
kräftig auf den Tisch hauen.
-
Wahnvorstellungen dieser Art haben uns nahtlos zu unseren Querdenkern
geführt. Da sind Leute darunter, die sich so verfolgt fühlen, dass sie
sich als „neue Juden“ gebärden, bei Demos den Judenstern tragen und
die Impfung schon einmal als „Endlösung der Coronafrage“ bezeichnen.
In München wurde nach einem „Impfen macht frei“ – Nachricht das erste
Verfahren eröffnet, weil damit „die mörderische Judenverfolgung in der
Nazizeit“ verharmlost werde. Warnung: Kommt noch einmal!
-
In Teplice/Republik Tschechien starb im Juni ein Rom nach
Polizeigewalt. Auch er fiel dem Würgeknie eines Polizisten zum Opfer.
Der Fall hätte ebenso viel Aufmerksamkeit verdient wie der Tod von
George Floyd. Eine Zeugin aus der Nachbarschaft hatte den Vorfall
gefilmt und ins Netz gestellt. Aufsehen erregte das Video aber erst,
als es auf der Plattform einer Roma-Organisation auftauchte. Daraufhin
gab es vereinzelte Demonstrationen, allerdings ohne nennenswerte
Teilnahme der Mehrheitsgesellschaft. Roma lives don’t matter.
-
In München hat man zum 2. August, dem Gedenktag an den Genozid an den
Sinti und Roma, eine Fotokampagne gestartet, die den Angehörigen
dieser Minderheiten ein Gesicht geben und auf ihre tiefe Verwurzelung
in der Münchner Stadtgesellschaft hinweisen sollte. Zusätzlich zu den
Fotos wurden 50.000 Postkarten gedruckt, die in Kneipen und
Kultureinrichtungen ausgelegt werden. Hoffentlich werden sie auch
mitgenommen und verschickt. Das Datum war bewusst gewählt. Am 2.
August 1944 waren in Auschwitz-Birkenau in einer einzigen Nacht 4.300
Sinti und Roma ermordet worden.
AI-Nachrichten
- so kurz wie möglich
-
Auf Malta wurde Anklage gegen einen Geschäftsmann erhoben, der den
Auftrag zum Mord an der Journalistin Daphne Caruana Galizia im Oktober
2017 gegeben haben soll. Sachte tastet man sich an die Hintermänner
der Tat heran.
-
Im Iran wurde die deutsch-iranische Architektin Nahid Taghavi wegen
„Leitung einer illegalen Gruppe“ zu 10 Jahren Haft verurteilt. Wegen
„Propaganda gegen das Regime“ wurden ihr weitere acht Monate
aufgebrummt. Das Urteil erging schon im Juni, wurde aber jetzt erst
bekannt. Warum sie verhaftet worden sei, weiß Taghavi nicht. Damit ihr
Anwalt nicht etwa in Sachen Berufung auf dumme Gedanken kommt, wurde
er im August ebenfalls verhaftet. Das Auswärtige At rät
Doppelstaatlern von Reisen in den Iran dringend ab. Die Rückkehr
könnte sich etwas verzögern.
-
In Berlin hat man zwei Afghanen gefasst, die mutmaßlich ihre Schwester
wegen ihres abweichenden Lebensstils getötet haben. Sie lebte
geschieden, was nicht den Moralvorstellungen ihre männliche Sippschaft
entsprochen hatte. Jetzt ist eine muntere Debatte ausgebrochen, ob
„Ehrenmorde“ an Frauen in die Kategorie „Femizide“ reinpassten. Wir
bejahen das mit Nachdruck und halten es mit der Justiz in den USA, die
bei der Frage, ob Straftäter bei „kulturell angelegten“ Taten ein
milderes Urteil verdienen, ein striktes „Nein“ setzen.
-
In Hongkong hatte der Aktivist Tong Ying-Kit die traurige Ehre, als
erster Anhänger der Demokratiebewegung nach dem neuen
Sicherheitsgesetz verurteilt zu werden. Er hatte auf dem Motorrad
sitzend eine Fahne geschwenkt, die mit dem Slogan „Befreit Hongkong –
Revolution unserer Zeit“ dekoriert war. Der Staatsanwalt sah darin
einen Aufruf zur „Trennung von China“, das Urteil lautete auf neun
Jahre Haft. Nach einem AI-Bericht dürfte das Urteil „der Anfang vom
Ende der Meinungsfreiheit in Hongkong“ sein.
-
Der Direktor einer pakistanischen MR-Organisation forderte die
Regierung auf, ein Mindestalter für Religionsübertritte einzuführen.
Immer wieder würden in manchen Teilen des Landes Mädchen aus
christlichen und hinduistischen Familien entführt, genötigt zum Islam
überzutreten – und dann oft zwangsverheiratet. Wenn die Eltern
protestieren, weisen die Behörden darauf hin, dass der
Glaubensübertritt freiwillig erfolgt sei. Manche islamische Staaten
haben noch einen langen Weg vor sich, bis sie lernen, das Wort
„Toleranz“ zu buchstabieren.
-
In Nicaragua hat man vor den Präsidentschaftswahlen im November
aufmerksam nach Belarus und in den Iran geschaut. Dort hat man
mögliche Mitbewerber entweder nicht zugelassen oder gleich in Haft
genommen. Auch in Nicaragua sehen sich derzeit Regierungskritiker
einer Verhaftungswelle gegenüber. Und Präsident Daniel Ortega war
einmal ein revolutionärer Volksheld, der einen Diktator gestürzt hat!
Jetzt ist das Land wieder eine Diktatur.
-
Den Volkshelden muss jemand verhext haben. Die Hexe stammt
wahrscheinlich aus Ghana. Dort ist der Hexenglaube noch tief
verwurzelt und hat für die vermeintlichen „Hexen“ verheerende Folgen.
Sie werden von ihren Familien getrennt, aus ihren Dörfern verjagt und
in eigens gegründeten Hexendörfern kaserniert. Eine Fotografin hat
über sie einen Bildband veröffentlicht.
Hexen
im Exil
Erfolgsmeldungen
– ja, die gibt es auch.
-
Fadumo Korn, geboren in Somalia, kämpft seit zwei Jahrzehnten gegen
die Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen. Dafür hat sie die
Auszeichnung „München leuchtet“ erhalten. Sie hofft, mit diesem Preis
Aufmerksamkeit auf ein Problem zu lenken, das für viele Deutsche ein
Randproblem ist, zu Unrecht, denn auch in Deutschland gibt es „Ecken,
wo man sein Kind verstümmeln lassen kann“.
Fadumo
Korn
-
In Schweden steht jetzt ein Mann vor Gericht, der im Dienste des
iranischen Regimes im Jahre 1988 bei den sogenannten
„Khomeini-Massakern“ mutmaßlich Tausende von politischen Gefangenen
töten ließ. Er wollte 2019 in Schweden Urlaub machen - so wie der
saudische Kronprinz alljährlich auf seinem Schloss in Frankreich oder
der thailändische König, der im Sommer von Garmisch aus regiert. An
sie traut man sich aus finanziellen Erwägungen nicht heran, obwohl man
sie nach dem Weltrechtsprinzip anklagen könnte, denn da gab es doch
einmal Folterung von Dissidenten und den Mord an Khashoggi.
-
Die Zahl der Übergriffe auf Muslime und Moscheen in Deutschland geht
weiter zurück, beim Vergleich zweier Quartale aus den Jahren 2020 und
2021 von 225 auf 99. Beobachter sehen in den Zahlen „einen
überraschend starken Rückgang“. Man kann nur hoffen, dass sich die
Aktivitäten des gewaltbereiten rechten Spektrums nicht auf die Juden
verlagern.
-
Im Mittelmeer durften in Italien nach tagelangem Warten 800
Flüchtlinge aus zwei Schiffen an Land. Im Jahre 2021 sollen bisher
mindestens 1.195 Menschen umgekommen sein. Menschenrechts- und
Flüchtlingsorganisationen fordern schon lange die Wiederaufnahme einer
europäischen Seenotrettungsmission und legale Fluchtwege.
-
Man wagt es noch nicht zu hoffen, aber im israelisch-palästinensischen
Abstoßungsverhältnis gibt es ein erstes „Zeichen der Annäherung“. Der
israelische Verteidigungsminister Benny Gantz war auf Besuch beim
palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas – und kam auch wieder
unbeschadet zurück. Die israelische Seite beeilte sich zu betonen,
dass es sich nicht um Friedensgespräche handle, sondern dass
Alltagsfragen im andauernden Konflikt besprochen wurden – aber das
immerhin zweieinhalb Stunden lang.
Schlusspunkt
Im
Fernsehen sah man die ersten Afghanen, und es waren immer Männer, die
es begrüßten, dass mit den Taliban endlich Ruhe im Lande herrschte.
Dazu ein Spruch von Hans Christian Andersen, den Frauen in
Afghanistan, aber auch den Bewohnern des Gazastreifens gewidmet:
„Leben
allein ist nicht genug, sagt der Schmetterling.
Sonnenschein,
Freiheit und eine kleine Blume
gehören
auch dazu.“
September
2021
„Wenn
die Wahrheit zu schwach ist, sich zu verteidigen,
muss
sie angreifen.“
Bert
Brecht
Justiziabilitäten
Ich
bin ganz stolz auf dieses Wort, dessen Bedeutung ich im Netz
nachgeschlagen haben. Es handelt sich dabei um Vorfälle, die einer
richterlichen Entscheidung unterworfen sind. Im September war
Wahlkampf, und da sind am Rande des politischen Spektrums einige Dinge
gelaufen, die die Justiz beschäftigt haben – und bei der sie nicht
immer eine überzeugende Figur abgegeben hat. Aber fangen wir mit üblen
Schülerstreichen an.
-
Am Luisengymnasium in München wurde der Unterricht vorzeitig beendet,
weil Morddrohungen gegen Lehrer an der Tafel standen. Da hieß es am 2.
Schultag nach den Ferien: „Wir hassen alle Lehrer, alle Lehrer gehören
vergasst wie die Juden.“ Mit einem Rechtschreibkurs allein ist es da
nicht getan, aber ein Jahr Sozialdienst an der Schule oder in
Lehrerhaushalten wäre zu erwägen.
-
In Hamburg eskalierte ein Streit zwischen Schülern zweier Schulen zu
einem tätlichen Angriff auf einen Cop4U/Cop für dich-Polizisten. Diese
Beamten sind Schulen zugeteilt und sollen dabei helfen, dass das
Umfeld Schule möglichst gewaltfrei bleibt. Der Beamte hatte den
13-jährigen Unruhestifter am Boden fixiert, war dann aber von
umstehenden Schülern bedrängt und gegen den Kopf getreten worden. Im
weiteren Verlauf standen sich 80 Schüler und die Besatzung von 13
Streifenwagen gegenüber. Der Sachverhalt wird in der Presse
widersprüchlich geschildert – rabiates Vorgehen der Polizei, großes
Gewaltpotential der Schüler, Empathielosigkeit von gaffenden
Erwachsenen -, aber sicher ist, dass sich die Namensgeberin einer der
Schulen, Ida Ehre, jüdische Regisseurin, von Nazis verfolgt, im Grabe
umdrehen wird.
Von
den Schulen in den Wahlkampf!
-
Die Partei „Die Partei“, die sich selbst als satirische Spaßpartei
bezeichnet, hat Plakate mit der Aufschrift „Nazis töten.“ gehängt. Die
Staatsanwaltschaft Deggendorf hat von einem Ermittlungsverfahren
abgesehen. Die Aussage sei zwar zweideutig, aber vom Grundrecht auf
Meinungsäußerung gedeckt. Außerdem stehe am Ende ein Punkt und kein
Ausrufezeichen. Aber auch als Aussagesatz ist der Sachverhalt
eindeutig: Nazis haben getötet, und Neonazis haben damit nicht
aufgehört.
-
Die rechtsextreme Splitterpartei „Der III. Weg“ hat das Plakat der
„Partei“ wohl als Einladung gesehen, als sie ihrerseits ein „Hängt die
Grünen!“ plakatierte. Und sie hat dahinter unmissverständlich ein
Ausrufezeichen gesetzt. „Unmissverständlich“, sollte man meinen,
meinte aber nicht das Verwaltungsgericht Chemnitz und zwang die Stadt
Zwickau, das Hängungsverbot aufzuheben. Das Gericht berief sich auf
den Grundsatz, dass bei Mehrdeutigkeit „die Lesart herangezogen werden
muss, die sich mit der Meinungsfreiheit in Einklang bringen lässt“.
Der „III. Weg“ produzierte die Mehrdeutigkeit dadurch, dass er dem
Mordaufruf in Kleindruck die Aufforderung hinzufügte, Plakate in der
Parteifarbe zu „hängen“. Und die sei halt einmal „grün“! Für die
Justiz in Chemnitz ist es ein Trauerspiel, der Zusatz im Urteil, dass
die Plakate mindestens 100 Meter von den Plakaten der Grünen entfernt
sein müssten, eine Lachnummer. Die Stadt Zwickau hat gegen das Urteil
Beschwerde eingelegt, das Landgericht München hat die Hängung des
Plakates untersagt.
-
Ein ähnliches juristisches Hickhack gab es um eine Installation des
„III. Weges“ in Würzburg. Da hatte die Partei im Rahmen einer Demo zum
Gedenken an den Anschlag im Juni unter blutbespritzten Tüchern drei
Strohpuppen abgelegt und dahinter die Fotos der drei Kanzlerkandidaten
gestellt. Die Leichen, so die Partei, stehen aber nicht für die
„Volksverräter“, sondern für drei Opfer eines „kriminellen
Ausländers“. Die Staatsanwaltschaft sah in der Installation, - Fotos
hin, Fotos her -, zunächst auch eine „Kritik an der Einwanderungs- und
Asylpolitik“, prüft aber derzeit auch, ob nicht auch ein bisschen
„Volksverhetzung und Aufforderung zu Straftaten“ im Spiel ist.
War
nicht so gemeint.
Aber,
wie gesagt, das waren Zuckungen am Rande des politischen Spektrums.
Der Wahlkampf zwischen den großen Parteien verlief weitgehend fair,
und von keinem der drei Kandidaten war zu erwarten, dass sie/er sich
in Richtung illiberale Demokratie à la Orban aufmachen würde. Der
französische Philosoph Lévy hat uns zum Wahlkampf ein Kompliment
gemacht, das sich unsere chronischen Schwarzseher und Jammerlappen
hinter die Ohren schreiben sollten:
„…
dieses Deutschland erteilt der Welt, insbesondere Frankreich, eine
schöne Lehrstunde in Demokratie. Danke, Deutschland.“
Die
IAA in München
Die
Autoausstellung war das 2. Großereignis im September, und es ging
nicht nur schnell, sondern auch hoch her. Wir haben nicht vor, uns
damit zu befassen, wieviel und welche „Mobility“ wir in Zukunft
brauchen, sondern wollen die Ausstellung unter menschenrechtlichen
Aspekten „ausschlachten“. Dass da Wort „ausschlachten“ in Hinblick auf
die brandneuen Modelle als Metapher etwas schief ist, ist uns bewusst.
-
Es fing schon an mit den Abseilaktionen auf der Autobahn, die einigen
Aktivisten eine Präventionshaft in Erding einbrachten. Das Landgericht
Landshut entschied gegen die Polizei: die Aktion sei zwar strafbar
gewesen, es sei aber nicht zu erwarten gewesen, dass die IAA-Gegner
nach Eingreifen der Polizei eine weitere Straftat „von erheblicher
Gefahr für die Allgemeinheit“ begehen würden.
-
Dann blockierten 4.500 Polizeibeamte einen Protestzug, der von der
Theresienwiese aus, den Ablauf der IAA stören wollte. Dabei kam es zur
Konfrontation und zum Einsatz von Pfefferspray und Schlagstöcken.
CSU-Generalsekretär Markus Blume twitterte: „So läufts in Bayern!“ Die
Umweltaktivistin Lisa Poettinger kam sich vor wie „eine
Schwerverbrecherin“ und „hatte eine Woche lang blaue Flecken“. So
sollte es in Bayern eher nicht laufen!
-
Der harte Polizeieinsatz soll auch in den eigenen Reihen auf Kritik
gestoßen sein. Insbesondere kritisierten manche Beamte, dass
IAA-Gegner, die nur Handzettel bei sich hatten, auch nach Feststellung
ihrer Personalien noch stundenlang festgehalten wurden.
-
Weitgehend friedlich verlief die Radsternfahrt, die in unserem
Landkreis von Holzkirchen aus startete. Den Organisatoren war im
Vorfeld die Fahrt auf Teilstrecken der Autobahn untersagt worden,
deshalb ging es auf Landstraßen zur Theresienwiese – vorbei an
winkenden Passanten und (wütend) hupenden Autofahrern.
Auf
der Theresienwiese hatte Campact nicht einen Drachen, sondern ein Auto
steigen lassen.
Verkehrswende
„Das
Auto auf den Kopf stellen, heißt auch, dafür zu sorgen, dass man
aufhört, es als Statussymbol zu nehmen und es groß wie einen Panzer zu
bauen. Auch dann ist Mobilität möglich.
Kurznachrichten
-
Flüchtlingsdramen an (fast) allen Enden der Erde: Im Übergangslager
Mavrovouni/Lesbos, das man nach dem Brand von Moria in aller Eile auf
einem alten Schießübungsplatz eingerichtet hatte, sind die Zustände so
katastrophal, dass man sich nur wundern kann, dass die Flüchtlinge es
nicht schon wieder abgefackelt haben. Den Rio Grande, Grenzfluss
zwischen Mexiko und den USA, überquerten innerhalb weniger Tage
Tausende von Flüchtlingen, die meisten von ihnen aus Haiti, und
kampierten unter einer Brücke. Die USA setzen auf Massenabschiebungen
per Flugzeug. Und an der Grenze zwischen Belarus und Polen landen
jetzt die Flüchtlinge, die Lukaschenko im Irak ins Flugzeug lockt und
dann an die EU-Grenze bringt, um sich für die Sanktionen zu rächen. Es
hat bereits Tote gegeben, die mutmaßlich an Entkräftung oder
Unterkühlung gestorben sind – und dann munter an der Grenze hin- und
her geschleift wurden.
Gestrandet
(ausgerechnet) in Polen
-
Erpressermethoden wendet auch die VR China an, aber in besseren
Kreisen spricht man hier von Geiseldiplomatie. Da soll die
Finanzchefin von Huawei in den USA die amerikanischen Sanktionen gegen
den Iran unterlaufen haben, indem sie eine Bank falsch informierte.
Deshalb wurde sie 2018 in Vancouver/Kanada auf Betreiben der USA
festgesetzt. Postwendend wurden in China zwei Kanadier festgenommen
und der Spionage angeklagt. Aber während die Managerin in einem
Luxusanwesen auf ihre Anklage warten durfte und gelegentlich auf
Einkaufstour ging, wurden die beiden Kanadier in Einzelhaft gehalten
und ihnen wiederholt Besuchsrechte verwehrt. Ein bisschen Unterschied
zwischen Klassenfeinden und Staatsträgerinnen muss schon sein. Dann
kam es zu einem Deal zwischen Washington und Peking, der dazu führte,
dass die drei Personen ihre Unterkünfte wechseln konnten. Die
Managerin räumte im Deal zwar eine Teilschuld ein, hielt aber
gleichzeitig an ihrer Unschuldsbehauptung fest. Noch beim Heimflug
postete sie: „Ich werde bald in die Umarmung des Mutterlandes
zurückkehren.“ Dort soll sie auch verbleiben.
-
In Russland ging die Putin-Partei „Einiges Russland“ als klarer Sieger
aus der Parlamentswahl hervor. Allerdings hat man vermutlich etwas
nachgeholfen. Schon im Vorfeld waren Oppositionelle als Kandidaten
ausgeschlossen worden, es kam zu Gewalt und Drohungen gegen
Wahlbeobachter, Staatsangestellte wurden zur Abstimmung gezwungen und
Wahlzettel gleich bündelweise in die Urnen gesteckt. Es gibt ein
Video, das zeigt, wie sich eine Wahlhelferin zwischen Kamera und Urne
postiert, während hinter ihr eine „Zauberhand“ Wahlzettel in die Urne
wirft. Und wie reagieren deutsche User: „Das gleiche passiert bei
uns.“ Die haben wohl den Untergang der DDR verschlafen.
-
Um nicht immer nur gegen rechts zu schießen, eine Meldung aus Dresden.
Dort war Prozessauftakt gegen eine linksextreme Gruppe, die mehrere
Rechtsradikale überfallen und teils schwer verletzt haben soll. Die
„Kommandoführerin“ Linda E. und ihre Mitstreiter hätten sich, so der
Staatsanwalt, berechtigt gefühlt, „ihre politische Überzeugung mit
Gewalt durchzusetzen“. Dabei sollen Schlagstöcke und Pfefferspray im
Einsatz gewesen, Fensterscheiben zerschlagen worden und die Opfer
gezielt ausgesucht und dann verprügelt worden sein. Jetzt muss das
Gericht herausfinden, „ob es die Gruppe E. wirklich gegeben hat und ob
deren Anführerin wirklich die Studentin aus Leipzig war“.
-
Derzeit werden die Coronazahlen bei uns nicht zuletzt durch Kinder und
Jugendliche hochgetrieben, die noch auf einen altersgemäßen Impfstoff
warten. Darum wollen wir auf eine Studie hinweisen, in der das
Institut für Generationenforschung die Auswirkungen der Coronakrise
auf die Generation „Alpha“, die Gruppe der seit 2010 geborenen Kinder
untersucht. Das Ergebnis - „In Deutschland gab es noch nie so viele
unglückliche Kinder“ - kann man für überzogen halten, aber was die
Studie für die „Impfskeptiker“ bereithält, kann man durchaus
übernehmen. Ich zitiere den Kommentar der SZ:
„Das
alles ereignet sich in einer Gesellschaft, die am Anfang der
Pandemie von der Solidarität der Jungen lebte. Eben diese
Solidarität wird jetzt nicht zurückgezahlt, weil es nicht zumutbar
ist, sich als asozialer Besitzer missverstandener Freiheitsrechte in
einem Akt der Solidarität impfen zu lassen.“
-
Zurück zum Wahlkampf – auf lokaler Ebene. Auf der Waitzinger Wiese in
Miesbach traf sich die AfD zu einer „großen Wahlkampfveranstaltung“.
Wir stellen mit einer gewissen Schadenfreude einen Vergleich mit
unseren AI-Infoabenden an: Es kommen meist (etwas) mehr als 20
Besucher und es gibt keine Gegenkundgebung. Und wir erlauben uns, dem
Merkur sowohl das Foto wie auch die Bildunterschrift zu
entwenden.
Afghanistan
Während
wir im September noch den (verzweifelten) Versuch unternahmen, „gegen
den Strom zu schwimmen“ und im Umfeld des Machtwechsels und des Abzugs
der westlichen Truppen noch positive Nachrichten herauszufiltern, ist
uns das inzwischen vergangen. Die Taliban verhalten sich so, wie es zu
erwarten war: Journalisten wurden während einer Demo verprügelt,
Zivilisten gezielt getötet, Menschenrechtsaktivisten in Suchaktionen
von Tür zu Tür verfolgt, das Frauenministerium geschlossen und in ein
Ministerium „zur Förderung der Tugend und der Vermeidung des Lasters“
umgewandelt.
Perfekte
Tarnung
Wo
sie sich konziliant geben, steckt eine (nach westlichem Geld)
ausgestreckte Hand dahinter, aber dass im Geigenkaste tatsächlich eine
Geige steckt, glaubt keiner mehr, der die Abneigung der Taliban für
Musik und sonstige Äußerungen der Lebensfreude kennt.
Hinzu
kommen die Anschläge der „Konkurrenz“ vom IS, dem die Taliban nicht
islamisch genug sind. Im Oktober kamen bei einem Selbstmordattentat
auf eine schiitische Moschee in Kandahar während des Freitagsgebets
mindestens 41 Menschen ums Leben. Unschuldige Zivilisten, darunter
sieben Kinder, fielen Ende August in Kabul einem Drohnenangriff der
Amerikaner zum Opfer. Das US-Militär brauchte drei Wochen, um von der
Version abzurücken, dass der Angriff einer Terroristengruppe galt, die
einen weiteren Anschlag vorbereitete. Aber immerhin: Der IS würde das
nie als „tödlichen Fehler“ bezeichnen und den Hinterbliebenen auch
keinen Schadenersatz leisten.
Auf
gepackten Koffern, viele werden es nicht sein, sitzt Fawzia Saidzada,
Frauenrechtlerin und erbitterte Gegnerin der Taliban. Bei der
Frauendemo im August marschierte sie in der ersten Reihe, jetzt wird
ihr Wohnort beobachtet, und einer ihrer Brüder wurde
zusammengeschlagen. Sie sagt nur noch: „Ich muss weg aus diesem Land.“
Geflüchtet ist, neben der Bürgermeisterin Zarifa Ghafari, die
afghanische Bildungsministerin Rangina Hamidi. Bei ihrem ersten
Treffen mit den Taliban hatte man ihr angeboten, als eine Art
Fürsprecherin aufzutreten, also die Kalaschnikow als Geigenkasten zu
verkaufen. Da hat sie nur gesagt: „Ich werde nicht für euch lügen.“
Fawzia
Saidzada
Rangina Hamidi
.
AI-Nachrichten
– das auch noch!
-
Ein Fall aus dem letzten Jahr hat jetzt ein abstoßendes (und
hoffentlich nur vorläufiges) Ende gefunden. Die belarussische
Oppositionsführerin Maria Kolesnikowa, die im September ihre
Abschiebung in die Ukraine dadurch verhindert hat, dass sie kurz vor
der Grenze ihren Pass zerriss, ist in einem Geheimprozess wegen
„illegaler Machtergreifung“ zu elf Jahren Straflager verurteilt
worden, der mitangeklagte Anwalt Maxim Snak erhielt „nur“ zehn Jahre,
aber dafür unter verschärften Haftbedingungen. Maria wirkte bei der
Urteilsverkündung, die zur Abschreckung öffentlich war, „energisch und
fröhlich“ und formte noch in Handschellen ihr Markenzeichen – das
Herz. Die „illegale Machtergreifung“ würde eher auf den Wahlfälscher
Lukaschenko passen, und dass der einmal in Handschellen geht, wünschen
wir ihm von Herzen.
-
Damit sind wir nahtlos beim Nachbarn von Belarus gelandet. Die UN
werfen Russland massive Menschenrechtsverletzungen auf der Halbinsel
Krim vor. Vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB, der Teelieferant von
Nawalny, soll mindestens sechs Menschen gefoltert haben, die
Bevölkerung wird durch Ansiedlung von russischen Staatsbürgern und
Zwangsvertreibungen „ausgetauscht“, mit Razzien und Verhaftungen wird
gegen Krimtartaren und Zeugen Jehovas vorgegangen.
-
Die letzte Nachricht ist dem Rundbrief von SOLWODI entnommen, einer
Organisation, die sich der „Solidarität mit Frauen in Not“
verpflichtet hat. Geschildert wird der Fall einer 28-jährigen
Nigerianerin, die in Frankreich von einer „Madam“ zur Prostitution
gezwungen worden war, nach Deutschland floh und von einem bayrischen
Verwaltungsgericht jetzt zur Abschiebung nach Nigeria freigegeben
wurde. Dort wäre sie, nach Meinung von SOLWODI in Gefahr, von der
„Madam“ gefunden und erneut zwangsprostituiert zu werden. Die
Begründung der Richter, dass diese Gefahr nicht besteht, muss man sich
auf der Zunge zergehen lassen. Eine Frau ihres Alters und mit zwei
Kindern gehöre „nicht mehr zum bevorzugten Adressatenkreis der
Menschenhändler für eine Verbringung nach Europa zur Ausübung der
Zwangsprostitution“. Die Beratungspraxis von SOLWODI liefert andere
Informationen: Eine Frau kann gar nicht alt genug sein, um nicht Opfer
von Menschenhandel zu werden.
Schluss
Zu
einer Zeit, wo man angesichts der Flüchtlinge aus Afghanistan und von
der Grenze von Belarus, schon wieder Angst vor einem neuen 2015 hat,
schließen wir mit einer Karikatur, die dem Chef der Bundesagentur für
Arbeit gefallen könnte - wenn auch nur mit Vorbehalt. Er fordert
nämlich 400.000 Zuwanderer pro Jahr, spricht aber von „gezielter
Zuwanderung“ von Fachkräften. Die wird er nicht immer kriegen.
Oktober
2021
Zwei
Planeten, die einander nur alle 200 Millionen Jahre begegnen,
treffen einander.
Da
fragt der eine: „Wie geht es dir? Du siehst ja schrecklich aus!“
„Ja“,
sagt der andere, „es geht mir sehr schlecht. Ich habe den Homo
sapiens.“
„O
Gott“, meint der andere, „du Armer! Das kenne ich.
Aber
tröste dich. Das geht bald vorbei.“
(leider)
anonym
Ich
möchte hier noch nicht von der Corona-Variante Omikron reden,
schließlich müssen wir uns einige Katastrophen für die verbleibenden
zwei Monate aufbehalten. Auch im Oktober war nämlich genügend los, um
Zweifel an der Weisheit des Homo sapiens aufkommen zu lassen. Beginnen
wir mit
Restposten
– kostenlos abzugeben
-
Die Gruppe „Zwölf Stämme“: In Holzheim/Dillingen ist die
11-jähirge Shalomah verschwunden. Ihre biologischen Eltern gehören den
christlichen Fundis „Zwölf Stämme“ an, die sich durch eigenwillige
Erziehungsprinzipien „auszeichnen“: dass Kindern beispielsweise ihre
„dumme, selbstbewusste Besserwisser-Haltung ausgetrieben“ werden müsse
– und zwar durch „Züchtigung“, die in Liebe verabreicht würde. Da
waren die Behörden anderer Meinung und verteilten 40 Kinder auf
Pflegefamilien und Pflegeeinrichtungen. Die Gruppe verzog sich
daraufhin nach Tschechien, wir trauern ihr nicht nach. Das Mädchen
wurde wahrscheinlich von ihren leiblichen Eltern entführt. Man kann
nur hoffen, dass Shalomah in den acht Jahren bei der Pflegefamilie
genügend Selbstbewusstsein entwickelt hat, um (mit 12) als
„unbelehrbar“ zu gelten, deshalb aus der Gruppe ausgeschlossen wird –
und eine kinderfreundliche Bleibe findet.
- Söldnertruppe
und „Berserker-Clan“: Zwei ehemalige Fallschirmjäger kamen in
U-Haft wegen des dringenden Verdachts, versucht zu haben eine
Söldnertruppe aufzustellen, die in den Bürgerkrieg im Jemen eingreifen
sollte. Saudi-Arabien hat auf das Angebot nicht reagiert,
vermutlich weil die „Gehaltsforderungen“ der beiden Rädelsführer etwas
überzogen waren. Sie hatten ihren Mitstreitern immerhin ein
Monatseinkommen von 40.000 € zugesagt.
Einen
Bürgerkrieg in Deutschland anzuzetteln, hatte sich der Berserker-Clan
vorgenommen, eine rechtsextremistische Gruppe von 15 Männern und
Frauen, die Waffen und Munition gehortet hatten, um am „Tag X“ einen
Aufstand gegen die staatlichen Strukturen in Deutschland zu beginnen.
Wenn man so etwas hört, stellt sich schon die Frage, ob wir unser Land
nicht schön langsam in „Irrland“ mit (mindestens) zwei „r“ umbenennen
sollten.
…
denn sie wissen nicht, was sie sind
- Die
Reichsbürger: „Corona hilft Reichsbürgern“, titelte der Merkur
einen Artikel über den Zulauf, den die Pandemie diesen
Politspinnern eingebracht hat. Für die Reichsbürger handelt es sich
„bei Covid-19 um eine absichtlich entwickelte Krankheit mit dem Ziel,
die Weltbevölkerung zu dezimieren“. Und die Impfung würde die
Krankheit nicht bekämpfen, sondern durch ihre Nebenwirkungen zur
Dezimierung beitragen. Derzeit sind sie beschäftigt, alternative
„Lernkreise“ aufzubauen und dort den Kindern der Impfgegner ihre
Ideologie „einzuimpfen“.
- Die
Extremisten von der Cancel Culture: Das sind die Anhänger einer
überzogenen Ausschluss- und Ausladungsmentalität, die auf Leute
losgehen, deren (tatsächliche oder gefühlte) beleidigende oder
diskriminierende Aussagen ein „Kontaktverbot“ notwendig machten. So
musste sich beispielsweise die Spitzenkandidatin der Berliner Grünen
entschuldigen, weil sie einmal als Kind von der Rolle eines
Indianerhäuptlings geträumt hatte. Da gehörten eher die Kritiker an
den Marterpfahl!
Weitere
Nachrichten vom Homo ignorans und Homo brutalis
- Frankreich:
Eine mit Spannung erwartete Studie ergab, dass seit den 1950er Jahren
eine geschätzte Zahl von 330.000 Kindern und Jugendlichen von
Priestern, Ordensleuten und (in kirchlichen Einrichtungen tätigen)
Laien missbraucht wurden. Nach Familie und Freundeskreis, so die
Studie, sei die katholische Kirche „der Ort mit dem höchsten
Missbrauchsrisiko“. Die Bischofskonferenz versprach, alle
erforderlichen Schritte einzuleiten, damit sich ein solcher Skandal
nicht wiederhole. Die vom Opferverband geforderte Entschädigung geht
in die Milliarden.
- China:
Mit seiner Idee von einer „Gemeinschaft mit geteilter Zukunft für die
Menschheit“ unterminiert das Land die Fundamente der Vereinten
Nationen. Die UN hat das Prinzip der Nichteinmischung zu respektieren,
auch wenn ein Regime die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mit
Füßen tritt. Pekings Verbrechen in Tibet, an den Uiguren und in
Hongkong werden, dank hoher Schmiergelder, von einer zunehmenden Zahl
von UN-Mitgliedern ignoriert oder gar verteidigt. Wenn es nach dem
Willen Pekings geht, steht das „U“ bald für „unbelehrbare Demokratien“
und das „N“ für „nationale Unantastbarkeit“.
- Israel:
Die Regierung hat sechs palästinensische NGOs zu Terrorgruppen
erklärt, ohne dafür solide Beweise vorzulegen. Es handelt sich u.a. um
die Organisation Al-Haq, die sowohl Menschenrechtsverletzungen der
Besatzungsmacht anprangert, als auch Kritik an Mahmud Abbas
Autonomieverwaltung übt. In einer gemeinsamen Erklärung sprachen AI
und Human Rights Watch von einem „erschreckenden und unrechtmäßigen
Akt“. Die russische Generalstaatsanwaltschaft hat das Verbot Israels
aufmerksam registriert. Im November beantragte sie die Auflösung der
Menschenrechtsorganisation „Memorial“.
- Israel/Palästina:
Unter Angehörigen der arabischen Minderheit in Israel nimmt die Gewalt
im Alltag zu. Es kommt zu Bandenkonflikten, Familienfehden und zu
Akten häuslicher Gewalt, inklusive Ehrenmorden. Die Israelis machten
dafür lange die „sehr gewalttätige (arabische) Gesellschaft“
verantwortlich, ein arabischer Psychologe entwarf das Bild einer
„haltlosen Gesellschaft, die mit dem Grundgefühl der Diskriminierung
lebt und Autoritäten und Werte verloren hat“. Die Bewegung „Arab
Lives Matter“ fordert ein stärkeres Engagement der Polizei, die sich
bisher eher vornehm zurückgehalten hat.
Protest
gegen Gewalt im Alltag – und für Polizeipräsenz
- Bangladesch:
Vor seinem Büro im weltgrößten Flüchtlingslager von Kutupalong wurde
der Rohingyaführer Mohib Ullah erschossen. Er leitete eine
Organisation, die zum einen versuchte, im Camp ein friedliches
Miteinander zu ermöglichen, zum anderen die Gräueltaten zu
dokumentieren, die sich das Militär bei der Vertreibung der Rohingyas
aus Myanmar geleistet hatte. Für die Tat könnten sowohl die
Rebellengruppe Arsa als auch das Militär in Myanmar verantwortlich
sein.
- Deutschland/Italien:
In Italien wurde Reinhard Döring, ein führendes Mitglied der Colonia
Dignidad, auf einer Urlaubsreise festgesetzt. Er wird in Chile
gesucht, weil er während der Militärdiktatur Pinochets mutmaßlich
Kontaktmann der Kolonie zum Geheimdienst gewesen ist. In Chile läuft
gegen ihn ein Haftbefehl, deutsche Gerichte lehnten eine Auslieferung
und eine Vollstreckung der Strafe in Deutschland ab. Im November wurde
er aus gesundheitlichen Gründen „vorübergehend“ freigelassen und hat
sich schnellstens nach Deutschland abgesetzt – in Sicherheit. Ein
deutscher Politologe verwies auf einen alten Spruch: „Die Colonia
gewinnt immer.“
- Polen:
Es lagen nur zwei Tage dazwischen. An einem Mittwoch ging der
EuGH/Europäische Gerichtshof erneut gegen das polnische Justizsystem
vor, indem er die Zwangsversetzung eines regierungskritischen Richters
aus Krakau verwarf, am darauffolgenden Donnerstag verfügte das
regierungsnahe polnische Verfassungsgericht, dass mehrere Artikel der
EU-Verträge (Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit, Dominanz des
EuGHs) verfassungswidrig seien. Am Monatsende wurde ein Bußgeld von
einer Million pro Tag verhängt. „Polen wird keinen Zloty bezahlen“,
meinte der Justizminister.
- Kroatien:
„Wieder Prügel an der Grenze“ gab es für Flüchtlinge, die von
kroatischen Polizisten zurück auf die bosnische Seite getrieben
wurden. Dort zeigten sie ihre Striemen und Prellungen in die Kamera.
Die damalige kroatische Präsidentin hat handfeste Zurückweisungen
nicht in Frage gestellt, aber der Polizei geglaubt, „dass sie dabei
nicht zu viel Gewalt anwende“. Dass den Flüchtlingen vor ihrer
„Rückführung“ noch Gelegenheit gegeben wurde, einen Asylantrag zu
stellen, ist eher unwahrscheinlich.
Justiziabilitäten
(2)
-
In Frankreich hat eine Feministin einen Hashtag eingerichtet, auf dem
Frauen von ihren Erfahrungen beim Erstatten einer Anzeige wegen
sexueller Gewalt berichten können. Auslöser war eine Nachricht aus
Montpellier, wo Vergewaltigungsopfer auf der Polizeiwache gefragt
wurden, „ob sie es genossen haben“. Um betroffenen Frauen solche
Demütigungen zu ersparen, hat der Innenminister jetzt verfügt, dass
die Anzeige auch „im privaten Umfeld“/zu Hause aufgenommen werden
kann. Für die Beratungsstellen reicht das nicht aus. Sie fordern ein
„gut fortgebildetes Personal“, da Frauen „nichts davon hätten, wenn
die Beamten sie zu Hause schlecht behandeln statt auf der Wache“.
-
In München wurde die IS-Rückkehrerin Jennifer W. zu zehn Jahren Haft
verurteilt. Sie wurde u.a. wegen der Mitgliedschaft in einer
terroristischen Vereinigung (IS) und wegen Beihilfe zum versuchten
Mord (Hitzetod eines jesidischen Sklavenmädchens) schuldig gesprochen.
Vor dem Urteilsspruch ging Jennifer W. massiv die Richter an. In ihren
Augen gäbe es keine Beweise, dass das Mädchen tatsächlich tot sei,
sodass ein möglicher Schuldspruch den Grundsatz „Im Zweifel für den
Angeklagten“ missachte. Die Richter aber hielten den Tod für erwiesen,
da es nicht nur die Aussage der Mutter gäbe, sondern Jennifer W. das
auch in Chats so geschrieben habe. In ihrem letzten Wort vor Gericht
hat sie sich dann noch entschuldigt.
Im
Dezember wurde dann der männlich Sklavenhalter Tarak J. zu
lebenslanger Haft verurteilt. Er hatte übrigens für den IS das Büro
für Geisteraustreibungen geleitet, aber den bösesten aller Geister
hätte er sich selbst austreiben müssen. Die beiden Verfahren führten
zu „den weltweit ersten Urteilen gegen Anhänger des IS wegen
Versklavung der Jesiden“.
-
Ein „Urteil vom Mond“ nannte der Verteidiger von Domenico Lucano,
vormals Bürgermeister der Gemeinde Riace in Kalabrien. Er hatte 1998
eine große Zahl von kurdischen Flüchtlingen aufgenommen und (relativ)
erfolgreich ins Dorfleben integriert. Als sich der Wind in Italien
gegen die Flüchtlinge drehte, schickte man ihm die Rechnungsprüfer ins
Büro, und die fanden heraus, dass er es „mit den Regeln nicht so genau
nahm“. In seinem Verfahren warf man ihm Vergehen vor, die für drei
Mafiosi gereicht hätten. Mit dem Strafmaß von 13 Jahren ging der
Richter weit über die Forderung der Staatsanwaltschaft hinaus. Nach
dem Urteilsspruch drückte der frühere Innenminister Matteo Salvini von
der rechten Lega dem Richter einen ansehnlichen Scheck in die Hand.
(Vorsicht Satire!)
-
In Texas wurde im September ein knallhartes Abtreibungsgesetz
verabschiedet, dessen eindeutige Verfassungswidrigkeit durch einen
Trick umgangen wurde. Für eine Anzeige auf Grund des
„Herzschlaggesetzes“ – das Abtreibung verbietet, sobald der Herzschlag
des Fötus festgestellt wurde – sind nämlich nicht die Justizorgane
zuständig. Stattdessen erhalten alle Texaner das Recht,
Abtreibungsärzte und deren „Helfer“ anzuzeigen und bei einer
Verurteilung dafür 10.000 Dollar zu kassieren. Das Gesetz lässt
Ausnahmen nur für medizinische Notfälle, nicht aber bei Vergewaltigung
und Inzest vor. Im Oktober wurde das Gesetz von einem
Bundesrichter zunächst gestoppt, aber schon zwei Tage später entschied
das Oberste Gericht, dass das Gesetz in Kraft bliebe. Für den 1.
November setzte es eine Anhörung an, in der auch zwei konservative
Richter Bedenken erkennen ließen. Die haben wohl den Protest mancher
Frauen registriert.
„Leg‘
dich nicht mit texanischen Frauen an“
In
einer Entscheidung im Dezember verfügte der Supreme Court mit
deutlicher Mehrheit, dass das Abtreibungsgesetz vorerst in Kraft
bleibt, räumte aber Abtrei-bungskliniken ein Klagerecht ein.
-
Heraushalten möchten wir uns im Falle des Musikers Gil Ofarim. Zu
unübersichtlich ist das Netz von Behauptung und Dementi, Widersprüche
bei Zeugenaussagen, Suspendierung von Angestellten und Aufhebung der
Suspendierung, Klage und Gegenklage. Aber Stellung beziehen möchten
wir sehr wohl gegen Leute, die mit dem Fall wieder einmal ihre
antisemitische Schleimsuppe kochen wollen und den Zentralrat der Juden
mit Hassnachrichten bombardieren. Und die dafür sorgen, dass die Zahl
antisemitischer Vorfälle wieder zunimmt – und das nicht nur wegen der
Proteste arabischer Flüchtlinge gegen die israelische Politik.
Nachrichten
vom Homo sapiens – die gibt es auch
-
Bundespräsident Steinmeier hat warme Worte für das deutsch-türkische
Anwerbeabkommen gefunden, das vor 60 Jahren die ersten türkischen
Gastarbeiter nach Deutschland gebracht hat. Ihre Geschichten, so
Steinmeier verdienten „einen angemessenen Raum in unseren Schulbüchern
und in unserer Erinnerungskultur“.
Bevölkerungszuwachs
aus der Türkei
-
Ex-Präsident Gauck hat in der Hofkirche der Münchner Residenz einen
„kämpferischen Auftritt“ hingelegt. Er nahm sich alle aufs Korn, die
bei uns die Demokratie bekämpfen: Extremisten (links und rechts),
islamistische Fanatiker, grundgesetzfeindliche Zuwanderer,
Antisemiten. Er erinnerte daran, dass schon die Weimarer Republik
daran zugrunde gegangen ist, dass es keine Demokraten gab, die sie
verteidigten. Und wenn im Umgang mit ihnen alles Streiten und Werben
nichts nützt, so Gauck, „dann weiß ich, ich habe es mit Halunken zu
tun. Und dann: Intoleranz!“
-
Auf der Gratwanderung zwischen Toleranz/Milde und Intoleranz/Härte hat
sich die Bundesregierung (endlich!) für eine selektive Milde
entschieden und hat acht deutsche Frauen und 23 Kinder aus syrischen
Gefangenenlagern für IS-Mitglieder zurückgeholt. Dieser Schritt war
überfällig, nicht zuletzt deswegen, weil Kinder am Wahn der Mütter
keine Schuld trifft. Gegen sechs der Frauen wurde ein Haftbefehl
vollstreckt, ihre Kinder bei „sorgeberechtigten Personen“, z.B. Väter,
untergebracht.
-
Preisverleihungen: Da hat es einige Leute „erwischt“, die den Preis
mehr als verdient haben. Der Würzburger Friedenspreis ging an die
Ordensschwester Juliana Seelmann. Sie hatte Frauen Kirchenasyl gewährt
und bekam im Juni vom Amtsgericht Würzburg „eine Verwarnung mit
Strafvorbehalt und eine Auflage von 500€“
aufgebrummt.
Der Preis ist mit 3.000 € dotiert. Da würde ihr sogar noch etwas
übrigbleiben, vorausgesetzt das Bußgeld wird im Berufungsverfahren
nicht auf
3.000.000
€ erhöht.
Der
Alternative Nobelpreis ging an mehrere Preisträger, u.a. an Marthe
Wandou aus Kamerun. In ihrer Kindheit musste sie hören, dass es für
Mädchen nur die Alternative gab „früh zu heiraten oder nichts,
höchstens eine Prostituierte, zu werden“. Das hat sie „extrem wütend
gemacht“. Im Jahre 1998 hat sie die „Aktion für partizipative und
selbstverwaltete Entwicklung“ gegründet, die sich zum Ziel setzte, für
Mädchen und Frauen bessere Bildungschancen zu schaffen.
Juliana
Seelmann
Marthe Wandou
Der
Friedensnobelpreis schließlich ging an zwei Journalisten, Maria
Ressa/Philippinen und Dmitri Muratow/Russland, beide im Clinch mit den
Präsidenten ihrer Länder. Frau Ressa kritisierte Duterte wegen seines
skrupellosen Krieges gegen Drogen und seiner Aufforderung zur
Selbstjustiz durch Bürgerwehren und Polizei, Herr Muratow fiel bei
Putin in Ungnade, weil er die Einverleibung der Krim kritisiert, die
Erinnerung an ermordete Journalistinnen und Journalisten wachgehalten
und die Protestbewegung in Belarus unterstützt hatte. Das Preiskomitee
betonte aus gutem Grunde, dass sie den Preis erhalten „stellvertretend
für alle Journalisten, die das ideal (einer freien Presse) in einer
Welt verteidigen, in der Demokratie und Pressefreiheit immer
ungünstigere Bedingungen vorfinden“.
Maria
Ressa, Dimitri Muratow
Schlussakkord
Beeindruckt
hat mich das Engagement der jungen Uigurin Shanura Kasim. Ihre
Großmutter sitzt in einem Umerziehungslager, sie demonstriert
regelmäßig in der Münchner Innenstadt gegen die Unterdrückung ihres
Volkes. Oft stößt sie auf Desinteresse der Öffentlichkeit. Auch ihre
Landsleute bleiben weg, weil sie fürchten, sie würden fotografiert,
und die Bilder würden die Familie in der Heimat in Gefahr bringen.
Irgendwie erinnert mich Shanura an die Geschichte von der Bärenraupe,
die über eine befahrene Straße muss.
„Und
sie geht los. Geht los auf Stummelfüßen. Zwanzig Autos in einer
Minute. Geht los ohne Hast. Ohne Furcht. Ohne Taktik. Fünf Laster.
Ein Schlepper. … Geht los und geht und kommt an.“
November
2021
„Und
selbst wenn die Hoffnung tatsächlich eine Lebenslüge ist –
Ohne
sie wäre die Unmenschlichkeit in der Welt nicht zu überwinden.“
Fritz
Bauer
(Generalstaatsanwalt
in Hessen und Initiator der Auschwitzprozesse von
1963
– 1981)
Flüchtlingsdramen
und Flüchtlingspolitik
In
ihren Augen leuchtet Hoffnung auf, obwohl es wenig Grund dafür gibt:
Im Irak an Schleuser vermittelt, nach Belarus geflogen, dort von
sogenannten „Reisebüros“ übernommen und vom Militär an die Grenze zu
Polen oder Litauen gebracht, mit Warnschüssen gezwungen gegen
Stacheldrahtverhaue anzulaufen, von der anderen Seite mit
Wasserwerfern empfangen und zurückgeprügelt und womöglich, wenn sie
Glück oder Pech haben, wieder in ihre „Heimat“ zurückgebracht werden –
einige Tausend Euro leichter und um die Erfahrung reicher, dass sie
als Erpressungspotential eingesetzt wurden, und dass die europäische
(und damit auch die deutsche) „Gastfreundschaft“ anders ausschaute,
als man ihnen im Irak oder einer anderen Krisenregion versprochen
hatte.
Im
Dezember ist das Flüchtlingsdrama Teil der christlichen
Weihnachtsgeschichte geworden. Auf beiden Seiten haben die
Grenzsoldaten Fausthandschuhe angezo-gen. Auf belarussischer Seite
werden Flüchtlinge mit Hunden über die Grenze gehetzt, auf polnischer
Seite werden sie gewaltsam zurückgedrängt, ohne Chance, einen
Asylantrag zu stellen.
Kurdische
Migranten an der Grenze zu Belarus
Ein
Bild und eine Situation zum Weinen. Und weil wir schon beim Weinen
sind, im Ärmelkanal starben 31 Flüchtlinge, weil ihr Schlauchboot bei
der Überfahrt nach Großbritannien kenterte. Die Trauer über das
Unglück hält sich in Grenzen. Emotionen zwischen London und Paris
kochen eher darüber hoch, ob zwecks besserer Kontrolle britische
Polizisten bei Patrouillen an Frankreichs Küste mithelfen sollten.
Aber da denken die Franzosen an den die Erfahrungen, die sie mit den
Engländern im 100-jährigen Krieg (1337–1453) gemacht haben!
Die
EU war beim Flüchtlingsansturm an ihrer Ostgrenze hauptsächlich damit
beschäftigt, sich Sanktionen gegen Fluggesellschaften und Belarus
auszudenken, Angela Merkel hat vergeblich versucht, Putin als
Vermittler einzuspannen, was schon daran scheitern musste, dass, nach
Aussagen von belarussischen Oppositionellen, es die Geheimdienste in
Minsk und Moskau waren, die mit der „Operation Schleuse“ die
Flüchtlingskrise überhaupt initiiert hatten. Außerdem hat Merkel auch
mit „Herrn Lukaschenko“ telefoniert, um auszuloten, wie es mit
„humanitäre Versorgung und Rückkehrmöglichkeiten der Betroffenen“
stünde. Und insgesamt war man stolz darauf und hat es mehrstimmig
betont, dass man rechtzeitig (und einigermaßen) dicht gemacht hat und
es (bis jetzt) noch nicht zu einem 2015 gekommen ist.
Wolfgang
Schäuble, seines Zeichens wahrlich ein Realpolitiker, hat übrigens
gefordert, dass die EU auf Polen einwirken müsse, dass an der Grenze
keine Menschen mehr zurückgeprügelt werden, dass sie einen Asylantrag
stellen und Hilfsorganisationen sich um sie kümmern können.
Angela
Merkel hat zu ihrer Flüchtlingspolitik eine „gemischte Bilanz“
aufgemacht. Aus dem „Wir schaffen das“ wurde ein „Wir haben das
geschafft“ und verweilte dann bei den Punkten, was nicht geschafft
wurde: die Ursachen der Flucht zu bekämpfen und eine europäische
Migrationspolitik zu installieren.
Die
neue Regierung hat auch Anlauf zu einer neuen Flüchtlingspolitik
genommen, der von der Presse recht unterschiedlich bewertet wird. Der
Merkur titelt verräterisch „Die Ampel-Pläne für mehr
Zuwanderung“, die SZ hofft in einem Kommentar auf
einen „Spurwechsel in der Migrationspolitik“. Immerhin soll das
Arbeitsverbot für Asylbewerber abgeschafft und der Weg zum deutschen
Pass verkürzt werden. Auch soll der Familiennachzug auf alle
Asylbewerber ausgedehnt werden. Ein FDP-Politiker meint:
„Die
Ampel macht Schluss mit der Lebenslüge, dass Deutschland kein
Einwanderungsland ist.“
Und
das einzusehen, war „höchste Zeit“! Warten wir’s ab, wie’s mit der
Einsicht weitergeht.
Coronaadvent
„Warten“
ist auch das dominante Adventsmotiv, aber in der 4. Coronawelle
ist/wäre ein Warten mit Abstand angemessen, gerade auch in Bayern, das
im November in der Inzidenzskala noch ganz oben mitgemischt hat, bevor
es dann die Fackel an Sachsen weitergereicht hat.
Leider
haben einige Menschen diesen Abstand nicht eingehalten. Der krasseste
Fall ereignete sich in Idar-Oberstein, wo ein Maskenstreik an einer
Tankstelle für den Kassierer tödlich endete. Der Täter gab an, durch
die Pandemie „stark belastet“ gewesen zu sein. Unbelastet und sorglos
hingegen feierten Bauers- und Feuerwehrleute im Landkreis Miesbach
ihre Hochzeiten, Jugendliche ihre Coronapartys und „Rindvieher“ ihre
Scheunenfeste, mit dem Ergebnis, dass am Monatsanfang der Landkreis
einmal Bundesspitzenreiter bei den Neuinfektionen war. Und
zehntausende von „Jecken“ eröffneten den Karneval, und der FC Köln
spielte in einem vollen Stadion – und hat das Spiel auch noch
gewonnen.
Und
dann fingen mit dem Verbot der Weihnachtsmärkte gegen Monatsende auch
wieder die „Spaziergänge“ der Querdenker an, natürlich in Sachsen, wo
die Inzidenzzahlen inzwischen am höchsten und die Intensivstationen
gut gefüllt waren. Treiber der Proteste waren „identitäre Bewegung“,
„Freie Sachsen“, Reichsbürger, Verschwörungstheoretiker und
Normalbürger, die sich unbedarft einreihten. Vorbild waren
(gewaltsame) Demos in Rotterdam, Brüssel und Wien, in München kam man
dann im Dezember zusammen, als endgültig feststand, dass der
Christbaum am Marienplatz schon zum 2. Mal nicht nach Glühwein riechen
durfte.
Am
Monatsende trat dann in Botswana und Südafrika die Variante Omikron
auf, gewissermaßen die Antwort Afrikas auf die Abschottungspolitik
Europas, das Solidarität predigte, aber den Impfstoff hortete und ihn
den armen Ländern vorenthielt.
Justizentscheidungen
und Justizirrtümer
- USA:
Zwei Männer, die für den Mord an dem (radikalen) Bürgerrechtler
Malcolm X im Jahre 1965 20 Jahre im Gefängnis saßen, sollen (nach 55
Jahren) nun rehabilitiert werden. Eine Untersuchung beweist ihre
Unschuld und erhebt schwere Vorwürfe gegen das FBI und die New Yorker
Polizei. Sie hätten entlastendes Beweismaterial zurückgehalten und die
Aussage eines Zeugen unterschlagen, der das Alibi eines der Männer
hätte bestätigen können: Dieser habe zur Zeit des Attentats wegen
einer Fußverletzung zu Hause gesessen. Für den anderen Mann kam die
Rehabilitierung zu spät. Er starb 2009.
- Griechenland:
Ein seltsamer Prozess in Abwesenheit einer der Hauptangeklagten fand
ein vorläufiges Ende, weil das Gericht sich in der Sache für nicht
zuständig erklärte. Nicht zuständig im Sinne von „Das ist kein Fall
für die Justiz“ sollte auch jedes andere Gericht sein. Angeklagt, mit
23 anderen „Komplizen“, war zunächst die Syrerin Sarah Mardini, die
auf Lesbos als Rettungsschwimmerin tätig war und Flüchtlinge vor dem
Ertrinken bewahrte. In der Anklageschrift wurde das u.a. als
„Spionage, Betrug und Bildung einer kriminellen Vereinigung“ gewertet.
Dahinter steckt aber eher der Versuch der Behörden, NGOs von der
Flüchtlingshilfe abzuschrecken. Sarah hätte nicht einmal die
Möglichkeit gehabt, sich persönlich vor Gericht zu verteidigen, da man
sie als „Sicherheitsrisiko“ einstufte. Ein Sicherheitsrisiko sind wohl
eher die griechischen Behörden.
- Ungarn:
Auch die Regierung Orban bemüht sich mit Nachdruck, Flüchtlingshelfer
zu kriminalisieren. Ein neues Gesetz hätte beispielsweise
NGO-Aktivisten verboten, bei Asylanträgen Formulierungshilfe zu
leisten, wenn der Antrag keine Aussicht auf Erfolg hätte. Und das ist
in Ungarn faktisch jeder Antrag. Der EuGH hat jetzt das Gesetz als „zu
weitgreifend“ kassiert. Ein Sprecher der Regierung Orban erklärte, man
werde das Urteil anerkennen, aber gegen „vom Ausland finanzierte NGOs“
weiterhin vorgehen. Den Mittelfinger behielt er in der Hosentasche.
(Vorsicht: Satire!)
- Deutschland:
Unter dem Titel „Rechte Richter …“ kam ein Buch des Juristen und
Journalisten Joachim Wagner auf den Markt, das beim Rezensenten der SZ
Erinnerungen an den Prozess gegen (Nazi-)Juristen in
Nürnberg im Jahre 1947 hervorrief. Als Beispiel führte Wagner einen
Fall an, wo eine Facebook-Nutzerin einen Brandanschlag auf eine
Asylunterkunft angedroht hatte – und freigesprochen wurde. Und dann
setzte der Richter noch eins drauf: „Die Entscheidung der
Bundeskanzlerin (von 2015), eine bisher unbekannte Anzahl von
Flüchtlingen unkontrolliert ins Land zu lassen, habe den öffentlichen
Frieden stärker gestört hätte als der Facebook-Eintrag der
Angeklagten“. Zur Ehrenrettung der Richterzunft stellte Wagner aber
auch heraus, dass „die Rechtsausleger im Kollegenkreis häufig auf
Ablehnung stießen“.
- Polen:
In mehreren polnischen Städten gingen zehntausende Menschen auf die
Strafe, um gegen das strenge Abtreibungsrecht zu protestieren.
Auslöser der Proteste war der Tod einer 30-jährigen Frau im
Krankenhaus von Pszczyna/Südpolen. Die Ärzte hatten es nicht gewagt,
das Leben der Frau durch einen Schwangerschaftsabbruch zu retten. Die
Demonstranten skandierten. „Nicht eine Einzige mehr.“ Jetzt hat das
Krankenhaus den Staatsanwalt am Hals, denn ein Abbruch bei Gefahr für
das Leben der Frau ist im Gesetz noch erlaubt.
„Nicht
eine Einzige mehr“
- Deutschland:
Kirchenasyl - nächste Runde. Diesmal hat es den Pastor Stefan Schörk
aus Pegnitz erwischt. Er wollte einen Iraner von der Trennung von
seiner Familie und der Abschiebung nach Griechenland bewahren. Eine
Richterin sprach eine „Verwarnung mit Strafvorbehalt“ in Höhe von
1.500,- Euro auf Bewährung aus. Weitere 1.500,- Euro musste er als
Bewährungsauflage bezahlen. Die Gesamtsumme von 3.000,- Euro entsprach
voll dem Strafbefehl des Staatsanwalts, der dennoch Berufung einlegte.
Die Verteidigung natürlich auch! Im Hinterkopf schwirrt bei mir immer
noch herum, dass nach Griechenland nicht abgeschoben werden darf, weil
dort die Lebensbedingungen für Flüchtlinge nicht zumutbar sind.
Scheint also besser geworden zu sein! (Vorsicht: Satire!)
- Myanmar:
Habe ich an den Schluss gestellt, wie es sich für gute Nachrichten
gehört. Myanmar und gute Nachrichten?!? Ein Militärgericht hat den
US-Reporter Danny Fenster u.a wegen „Anstiftung zum Aufruhr“ zur
Höchststrafe von 11 Jahren verurteilt. So weit so normal! Aber dann
reiste Bill Richardson, der Gouverneur von Neu Mexiko an, führte ein
persönliches Gespräch mit dem Oberbefehlshaber und Premierminister Min
Aung Hlaing und erreichte, dass Fenster drei Tage nach der
Urteilsverkündigung in die USA ausreisen durfte. Ob das nur dem Charme
und der Eloquenz des Gouverneurs geschuldet war, kann bezweifelt
werden, ist aber hier zweitrangig.
Opfer
und Befreier
Kurznachrichten
– und der Versuch, sie auch kurz zu halten
-
Sudan: Der Militärputsch im Oktober, den die Generäle
veranstaltet hatten, weil sie um ihre Pfründe fürchteten und die
Aufarbeitung ihrer Verbrechen scheuten, ist (zur Abwechslung einmal)
gescheitert. Unter dem Druck der Straße setzten sie den alten
Premierminister Abdalla Hamdok wieder ein. Ob es gelingt, das Militär
komplett von der Macht zu verdrängen, ist mehr als fraglich. Die Frage
war im Januar 2022 bereits geklärt: Nach massiven Straßenprotesten
trat Hamdok erneut zurück.
-
Deutschland: Die SZ hat eine denkwürdige
Anekdotensammlung zusammengestellt, die belegt, dass die deutsche
Wirtschaft ein massives „Me Too Problem“ hat: Anzügliche Sprüche im
Büro, Hände auf Hintern in Konferenzen, Einladungen zu sexuellen
Dienstleistungen per Mail sind an der Tagesordnung. Es gibt besonders
anfällige Branchen wie die Geldindustrie, und weit verbreitet ist die
Verharmlosung sexueller Übergriffe als „Witz“. Und die Täter werden
durch den strengen Kündigungsschutz des deutschen Arbeitsrechts vor
Entlassung geschützt.
Ohne
(weitere) Worte
-
Mexiko: In Mexiko wird am „Tag der Toten“ (31. Oktober bis 2.
November) mit einem prächtigen Volksfest der Verstorbenen gedacht. Da
kommen die Toten aus dem Jenseits an und feiern kräftig mit. Im
Bundesstaat Michoacán ging es heuer nicht um Ankunft, sondern um
Abgang: Im Zusammenhang mit der Drogenkriminalität wurden 11 Männer
erschossen.
-
Deutschland: Zum 10. Jahrestag der Enttarnung des NSU-Quartetts
gab es harsche Kommentare – zum Versagen der Sicherheitskräfte, zur
Blindheit der Gesellschaft, zur Skrupellosigkeit der Helfershelfer.
„Im
Prozess trugen sie (die Helfershelfer) ihre Verachtung für den
Rechtsstaat wie auf dem Silbertablett vor sich her. Man konnte
sehen: Da waren Leute, die auf ihre nächste Chance nur warteten.“
Und
als in Zwickau, immerhin jahrelang der Wohnort des NSU, eine
Abiturientin einen Vortrag über die Mordserie hielt und ihrer Klasse
die Frage stellte, wer vom NSU schon gehört hatte, war die Antwort
negativ. Aber das kann man glauben oder nicht!
-
Serbien: In Belgrad grüßt von einer Hauswand das Gemälde des
Kriegsverbrechers Ratko Mladic, der u.a. für das Massaker von
Srebrenica verantwortlich war. Eine Menschenrechtsgruppe forderte die
Entfernung des Gemäldes, doch es fand sich kein Malermeister, der
bereit war, den riskanten Job zu übernehmen. Da schütteten Aktivisten
der Gruppe des Nachts schwarze Farbe auf das Bild, aber schon am
nächsten Mittag schrubbte eine Putztruppe der Nationalisten die
schwarze Farbe wieder ab. EU-tauglich ist das noch nicht.
-
Deutschland: Zum Fall Oury Jalloh, ein Asylbewerber, der 1995 in
einer Dessauer Polizeizelle verbrannte, wurde ein neues Brandgutachten
veröffentlicht. Der Sachverständige kam dabei zu dem Ergebnis, dass am
Tode Jallohs die Polizei, vorsichtig ausgedrückt,
„höchstwahrscheinlich“ stärker beteiligt war als bisher angenommen.
-
China: Das Land hat einen „Me Too-Fall“ auf die ihm eigene Art
angegangen. Die Tennisspielerin Peng Shuai hatte im
Kurznachrichtendienst Weibo schwere Vorwürfe gegen einen Vizepremier
erhoben. Er habe, Jahre nach ihrer Liebesbeziehung, erneut mit ihr
„anbandeln“ wollen – und das ziemlich rabiat. Der Beitrag wurde sofort
gelöscht, die Frau verschwand für mehrere Tage in der Versenkung,
durfte dann in einem vorgefertigten Mail an den Präsidenten des
WTA/Vereinigung der Tennisspielerinnen das Hohelied auf das
chinesische Tennis (und wohl auch auf die Partei) singen, führte dann
ein Videogespräch mit dem IOC-Präsidenten Thomas Bach, der ihr alles
glaubte, was sie ihm (mutmaßlich) vorlügen musste und zog dann im
Dezember ihre Anschuldigung zurück. Die Anmache durch den Vizepremier
sei nur ein Missverständnis gewesen. Er habe wohl geglaubt, sie sei
seine Frau. (Vorsicht: Satire!) Bei uns wird jetzt noch gestritten,
was schlimmer war. Die Übergriffe des Vizepremiers oder die Naivität
von Bach. Und man eiert herum, wie man die Olympischen Spiele
herunterstufen kann, ohne sie gleich zu boycottieren.
Im
Dezember war Peng Shuai auf mehreren Videoclips zu sehen, die eine
Frau zei-gen, die mit ihrem Leben rundum zufrieden ist.
-
Äthiopien: Wegen des Vormarschs der Tigray-Rebellen verhängte
Präsident Abiy Ahmed den Notstand. Um die Männer zum Kriegseinsatz zu
motivieren, ließ er verlauten: „Für Äthiopien zu sterben ist unser
aller Pflicht.“ Nein, meinen wir, ist es nicht!
AI-Nachrichten
– muss das sein?
-
Folter: Ein entlassener Strafgefangener hat Videomaterial aus
einem russischen Knast geschmuggelt. Die Szenen zeigen, wo Gefangene
„auf jede erdenkliche Weise gequält werden“. Täter sind nicht nur die
Wärter, sondern auch Mitgefangene, die sich dadurch Vorteile erkaufen.
Die beschuldigten Beamten sollen zwar entlassen, aber nicht verhaftet
worden sein. Ein Haftbefehl wurde gegen den Filmemacher erlassen. Er
hat in Frankreich Asyl erhalten, fürchtet aber um sein Leben, denn die
Liste der von den russischen Geheimdiensten getöteten
Regierungskritiker ist lang.
Ich
weiß nicht, für welche Vergehen die internationale Polizeiorganisation
Interpol zuständig ist, aber wenn Folter in Gefängnissen dazugehört,
dann hat man „einen Bock zum Gärtner gemacht.“. Zum Präsidenten wurde
nämlich jetzt Ahmed Naser al-Raisi gewählt, ehemals Generalinspekteur
im Innenministerium der Vereinigten Arabischen Emirate. Gegen ihn
wurden in mindestens fünf Ländern Klage im Zusammenhang mit
Foltervorwürfen eingereicht.
-
Menschenrechtsorganisationen: Amnesty hat sein Büro in Hongkong
geschlossen. Es sei jetzt „praktisch unmöglich, frei und ohne Angst
vor Vergeltungsmaßnahmen der Regierung zu arbeiten“. In Russland droht
Memorial, der ältesten MR-Organisation die Auflösung. Sie war eine der
ersten Organisationen, die als „ausländischer Agent“ eingestuft wurden
und ist jetzt zum Abschuss freigegeben, weil sie ihren Agentenstatus
„nicht wie vorgeschrieben in ihren Publikationen und bei Auftritten
kenntlich gemacht habe“. Aber hat man Putin je gesehen, wie er ein
Schild mit der Aufschrift „Ich habe die Krim annektiert“ mit sich
geführt hat?
-
Sexuelle Orientierung: In Polens Parlament haben
ultrakonservative Fanatiker den Entwurf für ein „Stop LGBT“ Gesetz
begründet. Es soll sexuellen Minderheiten öffentliche Auftritte
verbieten. Selbst wenn man nie bei einer Regenbogenparade
mitmarschieren würde, stehen einem die Haare zu Berge, wenn man hört,
dass Homosexuelle Kinder vergewaltigen und missbrauchen und die Demos
für die Rechte dieser Minderheiten mit den Aufmärschen der Nazis
verglichen werden. Die katholische Kirche in Polen sollte sich ihre
„Bundesgenossen“ etwas genauer ansehen.
-
Politische Gefangene: Der türkische Unternehmer und Kulturmäzen
Osman Kavala bleibt in Haft, obwohl der EuGH für Menschenrechte schon
2019 seine Freilassung gefordert hatte und zehn westliche Botschafter
sich im Oktober dafür öffentlich einsetzten. Jetzt könnte die Türkei
(mit etwas Verspätung) aus dem Europarat fliegen, aber dazu bedarf es
einer Zweidrittelmehrheit, die mit Staaten, die selbst politischen
Gefangene „beherbergen“ (Russland) schwer zu erreichen ist. Die zehn
Botschafter wurden übrigens zurückgepfiffen und haben versprochen,
„sich nicht mehr in die inneren Angelegenheiten ihres Gaststaates
einzumischen“. So blieb ihnen wenigstens das Erdrosseln mit einer
seidenen Schnur erspart. (Vorsicht: Satire!)
Im
Dezember wurde diese Zweidrittelmehrheit tatsächlich erreicht, ob ein
möglicher Rauswurf „Präsident Erdogan nachhaltig erschüttern wird, ist
eine andere Frage“.
Erfolgsmeldungen
– spärlich aber wichtig
-
Seenotrettung: Die Sea Eye 4, die vom Bündnis „United4Rescue“,
EKD und drei katholischen Bistümern finanziert wird, hat im zentralen
Mittelmeer mehr als 400 Migranten von einem überfüllten Holzboot
gerettet. Damit waren 800 Menschen an Bord. Nach mehrtägiger Wartezeit
durfte das Schiff in Sizilien landen. Ob die Bundesregierung der Bitte
vom damaligen Ratsvorsitzenden Bedford-Strom, sich für die Zuweisung
eines sicheren Hafens einzusetzen, entsprochen hat, wissen wir nicht.
Beim damaligen Innenminister Seehofer lief das Schiff eher unter der
Rubrik „illegale Schlepperhilfe“.
-
Freilassung: In Missouri/USA wurde Kevin Strickland freigelassen
– nach 43 Jahren. Der Richter befand jetzt, dass es keine Beweise
gäbe, dass Strickland tatsächlich am Tatort gewesen sei, zudem habe
die damalige Hauptzeugin des Überfalls ihre Aussage widerrufen. Selbst
die Staatsanwältin feierte die Entlassung und sprach von einem
Fehlurteil – ausgesprochen von einer (wohl ausschließlich) weißen
Jury. Strickland erhält keine Entschädigung vom Staat, da er nicht auf
Grund von DNA-Beweisen entlastet worden war, aber ein Spendenaufruf
erbrachte 1,5 Millionen Dolwar. Jetzt möchte er erst einmal raus aus
Missouri/nach Hawai.
-
Ehrenmedaillen: Ministerpräsident Söder zeichnete 54 Menschen
aus, die sich selbstlos für andere einsetzten. Die gibt es, Gott sei
Dank, auch noch!
Links
im Bild: die bayrischen „Nothelfer“ von 2021
Die
Frauen – auch dabei, aber wie so oft, für den Fotografen unsichtbar!
Dezember
2021
„Das
Vernünftige muss redlich erarbeitet werden,
das
Irrationale hat jeder von selbst.“
Heinrich
Mann: „Der Hass“
Beim
Irrationalen sind wir nahtlos bei den Leuten angelangt, die, statt
gemütlich fernzusehen, ein Buch zu lesen, oder gar versuchen, „sich
das Vernünftige redlich zu erarbeiten“, am Abend durch die Städte
spazieren, die
Querdenker
Wir
haben nicht vor, ihnen die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihnen nicht
gebührt, aber an einige unliebsame Wucherungen dieses vorgezogenen
Faschingstreibens möchten wir schon erinnern.
-
In Grimma/Sachsen zogen etwa 30 Leute mit „Fackeln, Trillerpfeifen und
Trommeln“ vor das Haus der sächsischen Sozialministerin Petra Köpping.
Man kann davon ausgehen, dass sie ihr keine Liebesgaben vom Hl.
Nikolaus brachten. Treiber der Proteste in Sachsen ist die Partei der
„Freien Sachsen“, deren Vorliebe für Fackelzüge historische Vorbilder
hat.
-
In München führte eine Impfgegnerin einem Polizeibeamten vor, was sie
von ihrem Geschichtsunterricht herübergerettet hatte. Sie brüllte in
an: „Wie 1933 … Ihr gehört an die Wand gestellt … an die Wand
gestellt!“ Viele der Demonstranten glauben allen Ernstes, dass wir an
der Schwelle zur Diktatur leben. Gebe Gott, dass sie eine solche nicht
einmal im Reinzustand erleben müssen!
-
Bei einer anderen Demo in München kündigte der Organisator den
Widerstand gegen die Regierung mit der rhetorischen Frage „Wollt ihr
aufgeben?“ an. Die Menge jubelte und schrie ein vielhundertfaches
„Nein!“ zurück. Und dann verließ sie den Sportpalast in Berlin.
(Vorsicht: Schlusssatz ist Satire!)
-
Zwei Tage vor dem Hl. Abend demonstrierte in München 5.000 Menschen
gegen die Corona-Politik. Im Gegensatz zu den Demonstranten, die in
Teilen gewaltsam vorrückten, war die Polizei „fahrlässig“
unterrepräsentiert. Eine Woche später wurde eine Allgemeinverfügung
erlassen, die „Spaziergänge“ (ohne Anmeldung) zunächst einmal verbot.
In einer Chatgruppe war aufgefordert worden, Messer mitzuführen.
-
In Sachsen plauderten Mitglieder einer Telegram-Gruppe davon, den
sächsischen Ministerpräsidenten Kretschmer abwechselnd „abzusägen“ und
„aufzuhängen“. In Rosenheim drohte ein (angeblicher) Oberfeldwebel den
Teilnehmern einer Mahnwache, sie „in Scherben zu schlagen“ und „ihre
Leichen auf den Feldern zu verstreuen“.
Sie
werden jetzt natürlich zu Recht einwenden, dass da jemand zu oft auf
Telegram gewesen sei und sich nur die Gräuelmeldungen herausgepickt
habe. Dass aber Gewaltbereitschaft und Hassbotschaften bei einigen
Gruppen von Querdenkern eskalieren, ist unverkennbar. Erfreulich ist,
dass sich zunehmend die schweigende Mehrheit zu Gegendemos aufrafft.
Anfang Januar 2022 gelang es ihr in Unterhaching zum ersten Mal, mehr
Menschen zu mobilisieren als die Impfgegner.
-
In Miesbach trafen sich am 5. Januar 2022 ca. 50 Teilnehmer zu einer
Gedenkveranstaltung für die Todesopfer der Pandemie. Die Polizei
freute sich über den problemlosen Einsatz, eine Gruppe von
„Spaziergängern“ betrachtete das Geschehen aus der Distanz, griff aber
nicht ein/an. Die „Spaziergänge“ am Montag, die einige Teilnehmer bis
zum Alkoholverbot für einen Becher Glühwein am Ausschank Lebzelterberg
nutzten, haben deutlichen Zulauf, verliefen aber, mit einer Ausnahme,
in den Augen der Polizei „entspannt“. Aber wenn man als Normaldenker
in Gegenrichtung zu 400 „Spaziergängern“ marschiert und in deren
entschlossene (wenn auch nicht aggressive) Gesichter schaut, dann
macht man lieber einen Schritt zur Seite – um nicht angesteckt zu
werden.
Irrationalismus
passt aber auch zu den Betreibern der
Konfliktgebiete
Äthiopien/Tigray:
Da er mit seinen Truppen in die Defensive gezwungen wurde, hat
Debretsion Gebremichael, der Präsident der Region Tigray, einen
sofortigen Waffenstillstand angeboten, so wie es sechs Monate der
Präsident von Äthiopien getan hatte, als seine Truppen in der
Defensive waren. Begründet hat Debretsion den Vorstoß mit einem Satz,
der fast schon wieder rational ist: Es handle sich um einen „nutzlosen
Krieg“, den keine Seite gewinnen könne.
Hongkong:
In Hongkong waren Parlamentswahlen. Dabei werden allerdings, wie
erwähnt, nur 20 von 90 Sitzen über Stimmzettel vergeben, und selbst
für diese Mandate müssen die Bewerber „Patrioten“ sein. Die Bewohner
Hongkongs haben auf die Wahlfarce auf ihre Art reagiert: die
Wahlbeteiligung lag bei 25 Prozent.
Die
Säule der Schande – als sie noch stand
In
einer Nachtaktion wurde auch die „Säule der Schande“ entfernt. Sie
stand nicht vor dem Parlament, wo eine solche Säule durchaus hinpassen
würde, sondern auf dem Gelände der Universität und erinnerte an das
Massaker auf dem Tiananmen-Platz von 1989.
Myanmar:
Im Bundesstaat Kayah, der von einer Minderheit bewohnt wird, fand
eines der brutalsten Massaker der Militärjunta statt. Mindestens 35
Zivilisten, darunter Frauen und Kinder und zwei Mitarbeiter der NGO
„Save the children“, wurden am
Hl.
Abend getötet und in ihren Fahrzeugen verbrannt. Die Opfer waren
Katholiken und auf dem Weg zu einem Fest.
Bosnien-Herzegowina:
Der Serbenführer Milorad Dodik zündelt in einer Gegend herum, wo das
Zündeln Tradition hat und brandgefährlich ist. Er annuliert illegal
Gesetze und bereitet die Aufstellung einer eigenen Armee vor. Damit
betreibt er die Spaltung dieses ohnehin fragilen Staatsgebildes.
Ermutigt wird er von Putin, der alle „Schwachstellen“ Europas nutzt,
um den Kontinent zu destabilisieren. Dem sollte man kein Gas abkaufen!
Afghanistan:
Die Taliban beginnen, wie zu erwarten war, ihr wahres Gesicht zu
zeigen, oder, wie es Präsident Macron in seiner direkten Art
formulieren würde, „die Hosen herunterzulassen“. Nach einem Bericht
von Human Rights Watch ermorden die Taliban gezielt ehemalige
Angehörige von Armee, Polizei und Geheimdienst, obwohl sie ihnen bei
der Machtübernahme ein faires Verfahren bzw. eine Generalamnestie
versprochen hatten. Kugelführend ist dabei die Terrorzelle der
Haqqanis, die in der Regierung das Sagen zu haben scheinen. Auch der
AI-Bericht zur Lage der Frauen ist verheerend: Frauenhäuser wurden
geschlossen, die Frauen gezwungen, zu ihren gewalttätigen Ehemännern
zurückzukehren. Die Mädchen dürfen lediglich die Grundschule besuchen.
Im Norden wurde mit Frozan Safi die erste Frauenrechtlerin ermordet.
Anrufer hatten ihr eine Falle gestellt und die Chance auf eine
Ausreise nach Deutschland vorgetäuscht.
Frozan
Safi (+)
Rassismus
und Rechtsextremismus
Da
wir in der braunen Sauce schon mehrmals umgerührt haben, fassen wir
uns zu Weihnachten diesbezüglich extrem kurz.
-
Eine AfD-nahe Chatgruppe ist durch „Revolutionsrhetorik“ aufgefallen.
Die bayrische Landtagsabgeordnete Anne Cyron soll in einem internen
Chat geschrieben haben: „Denke, dass wir ohne Bürgerkrieg aus dieser
Nummer (?) nicht mehr rauskommen werden.“ Auf Anfrage erklärte sie,
sie habe gar nicht zum Bürgerkrieg aufgerufen, sondern davor gewarnt.“
Ob sie mit diesem Dementi „aus dieser Nummer herauskommt“, ist zu
bezweifeln.
-
In Schweinfurt standen eine Polizistin und zwei ihrer Kollegen vor
Gericht. Auf einem Smartphone fand man einen Kommentar zum Attentat
von Halle: Dort habe „man ein paar Dönerboys weggemacht“. Und dazu ein
Lachsmiley! Und einiges andere mehr: Verrat von Dienstgeheimnissen,
Nötigung, Hausfriedensbruch und Einbehaltung von konfiszierten Drogen.
Das Urteil blieb unter der Forderung der Staatsanwaltschaft.
-
In Augsburg hat die Stadt eine antisemitische Demonstration genehmigt.
Eine islamistische Schule, die einem Netzwerk nahesteht, das von der
iranischen Regierung gesteuert wird, hatte einen Autokorso angemeldet,
der unter dem Titel „Frieden für den Nahen Osten“ durch die Stadt
fuhr. Friedlich war daran nichts: Auf einem Video wurde, vor dem
Hintergrund brennender Israel-Fahnen und Steinewerfern im
Gaza-Streifen, Hasspropaganda gegen Israel verbreitet.
-
Der Bundesgerichtshof hat das milde Urteil des Oberlandesgerichts
München gegen den NSU-Gehilfen André Eminger bestätigt, mehr oder
weniger bestätigen müssen, da ein Revisionsgericht nur auf
Rechtsfehler prüft. Die bereits zitierte SZ-Prozessbeobachterin
meinte dazu nur: „Da lachen die braunen Brüder.“
-
Und nun zum Sport. Im deutschen Profifußball ist zum ersten Mal wegen
rassistischer Äußerungen abgebrochen worden. Beim Spiel zwischen
Duisburg und Osna-brück wurde dem schwarzen Stürmer Aaron Opoku von
einem Zuschauer zugerufen: „Du Affe kannst eh keine Ecken schießen.“
Beeindruckend waren die Reaktionen von Spielern, Zuschauern und der
Stadionregie: die Spieler von Osnabrück zeigten sich solidarisch mit
ihrem Mannschaftskollegen, ein Zeuge identifizierte den
Tatverdächtigen, die Fans beider Mannschaften skandierten im
Gleichklang „Nazis raus“ und auf der Anzeigetafel erschien der Slogan
einer Toleranzkampagne des MSV Duisburg.
Der
DFB folgte dem Antrag beider Vereine und setzte ein Wiederholungsspiel
an. Wir wünschen, dass sie beide gewinnen.
AI-Nachrichten
– im Fünferpack
-
Politische Gefangene: In Myanmar wurden die ersten Urteile gegen
Aung San Suu Kyi verhängt – u.a. wegen Verstöße gegen die Covid-19
Verordnungen. Sie hatte während des Wahlkampfs ihren Anhängern
zugewunken, mit Maske und Gesichtsvisier. Sie bekam zunächst einmal
zwei Jahre, aber es ist anzunehmen, dass weitere Verfahren folgen
werden und sie für den Rest ihres Lebens weggesperrt wird.
In
Ägypten erhielt der Blogger Alaa Abdel Fattah weitere fünf Jahre
aufgebrummt. Er hatte aus dem Gefängnis heraus eine Sammlung seiner
Schriften veröffentlicht und ihnen den Titel „You have not yet been
defeated/Ihr habt noch nicht verloren“ gegeben. Genau das aber hat man
mit ihm vor: Er soll nicht nur auf Dauer eingesperrt, sondern
regelrecht vernichtet werden. Seine Haftbedingungen sind entsprechend.
In
Belarus ist Sergej Tichanowski zu 18 Jahren Haft verurteilt worden. Er
war im Mai 2020 festgenommen worden, kurz nachdem er seine Kandidatur
für die Präsidentschaftswahlen bekannt gegeben hatte. Und was macht
man mit Widersachern, die eine Chance hätten? Wegsperren, was denn
sonst? Der Putin wird’s schon decken.
-
Pressefreiheit: In Vietnam wurde die Journalistin Pham Doan
Trang zu neun Jahren verurteilt. Man warf ihr „Propaganda gegen den
Staat“ vor und „stützte“ sich dabei auf Artikel, die sich mit Fragen
der sozialen Gerechtigkeit befasst hatten: Berichte über einen
Konflikt um den Bau eines Militärflughafens, über eine
Umweltkatastrophe und über die Religionsfreiheit in Vietnam. Auf der
Rangliste der globalen Pressefreiheit liegt Vietnam auf Platz 175 von
180 Staaten. Das erklärt ihren bitteren Ausspruch zur misslichen Lage
vietnamesischer Journalisten:
„wenn
man ein vietnamesischer Journalist ist, gibt es viele Gründe,
traurig zu sein. Aber wenn man seinen Seelenfrieden haben will,
sollte man vielleicht kein Journalist werden.“
Auf
den Philippinen ist der Journalist Jesus Malabanan mit einem
Kopfschuss getötet worden. Er war in Ungnade gefallen, weil er bei
einer Reportageserie über den harten Drogenkrieg von Präsident Duterte
mitgearbeitet hatte. Malabanan ist damit der
22.
Journalist, der seit Amtsantritt Dutertes im Jahre 2016 getötet wurde.
Als
weiterer Rückschlag für die Pressefreiheit wurde die Entscheidung
eines Londoner Gerichts gewertet, dass Julian Assange an die USA
ausgeliefert werden kann, wenn das britische Innenministerium seine
Zustimmung gibt. Man habe, so das Gericht, den Zusagen der USA
geglaubt, dass Assange seine (möglichen) 175 Jahre nicht in Einzelhaft
und sogar in seiner Heimat Australien absitzen dürfe. Seine Anwälte
haben diese Sicherheitsgarantie nicht akzeptiert und Berufung
eingelegt. Assange ist fürwahr kein Tugendbold – aus Schweden floh er,
weil er ein Verfahren wegen Vergewaltigung am Hals hatte -, aber die
USA sucht ihn wegen der Aufdeckung mutmaßlicher amerikanischer
Kriegsverbrechen. Die Entscheidung in London fiel übrigens am „Tag der
Menschenrechte“ und zeitgleich mit der Verleihung des
Friedensnobelpreises an die Journalisten Maria Ressa und Dimitrij
Muratow (s. Oktober).
-
Menschenrechtsorganisationen: Der Oberste Gerichtshof in
Russland hat, wie nach der öffentlichen Kritik durch Putin („Einsatz
für Terroristen“) zu erwarten war, unsere Partnerorganisation
„Memorial“ verboten. Man warf ihr Verstöße gegen das Gesetz über
„ausländische Agenten“ vor, die im Wesentlichen darin bestanden, dass
„Memorial“ sich einfach weigerte, „ausländischer Agent“ zu sein. Der
wahre Grund für das Verbot ist wohl eher, dass „Memorial“ zu viele
Verbrechen aus der Sowjetzeit aufgedeckt und die falschen Leute
(politische Gefangene) verteidigt hat.
-
Todesstrafe: In Japan wurden erstmals seit 2019 wieder
Todesurteile an drei Mördern vollstreckt. Dem Justizminister ist
abzunehmen, dass die Hinrichtungen „nach sorgfältiger Prüfung
angeordnet“ wurden, denn die Männer hatten ihre Taten vor fast 20
Jahre begangen. Ein Regierungssprecher bemühte das Einverständnis der
öffentlichen Meinung, die zu 80 Prozent dafür ist, dass die
Todesstrafe für „extrem bösartige Verbrechen“ beibehalten werden
sollte. Dafür gibt es die Sentenz „Volkes Stimme ist Gottes Stimme“,
die ein britischer Anwalt (und wir auch!) in der Diskussion über die
Todesstrafe mit Nachdruck in Frage stellt.
„Kein
Land hat die Todesstrafe wegen der Ergebnisse von Meinungsumfragen
abgeschafft. Dafür brauchte es immer politische Führung.“
-
Rüstungsexporte: In letzter Minute hat die alte Bundesregierung,
mit dem neuen Bundeskanzler in ihren Reihen, schnell noch zwei heikle
Rüstungsexporte nach Ägypten genehmigt, also dahin, wo Abdel Fattah
und viele andere einsitzen. Das Leitmotiv der neuen Regierung ist
„Mehr Fortschritt wagen“. Jetzt warten wir gespannt, ob das
angekündigte Rüstungsexportgesetz mit strengeren Exportkontrollen
einen „Fortschritt“ bringt oder wiederum von den emsigen Lobbyisten
der Rüstungsindustrie ausgehebelt wird.
Kurzmeldungen
– wenn möglich in Form von (längeren) Schlagzeilen
-
Tiergartenmord in Berlin: Der russische Täter erhält lebenslänglich,
die Tat wird als „Staatsterrorismus“ eingestuft, Putin ist sauer.
-
Amoklauf an einer Schule in Oxford/Michigan. Vier tote Kinder. Dazu
eine grenzwertige Karikatur:
-
Bei US-Drohneneinsätzen mehr zivile Opfer als bisher bekannt.
-
Hilferuf aus der Altstadt von Jerusalem. Christliche Priester und
Ordensleute ständigen Beleidigungen und Attacken durch jüdische
Extremisten ausgesetzt.
Weihnachtssplitter
– Erfreuliches und Erheiterndes
-
Der Papst hat bei einem Besuch auf Lesbos den Umgang mit Migration als
„Schiffbruch der Zivilisation“ bezeichnet. Das Mittelmeer, die „Wiege
zahlreicher Zivilisationen“ werde zum „kalten Friedhof ohne
Grabsteine“. Bei seinem Besuch in Zypern hat er zugesagt, 50 Migranten
die Ausreise nach Italien zu ermöglichen. Zypern hat derzeit pro Kopf
der Bevölkerung mehr Flüchtlinge als alle anderen EU-Länder.
-
Andrzej Duda, der Präsident von Polen, der bisher den Spitznamen
„Notar“ hatte, weil er alle Gesetze der PiS-Regierung abgesegnet hat,
hat zum ersten Mal gegen den Stachel Kaczynkis gelöckt. Er hat gegen
ein hochumstrittenes Mediengesetz sein Veto eingelegt. Das Gesetz
hätte auch einen Fernsehsender betroffen, der einem US-Konzern gehört.
-
Bayrische Gerichte haben Urteile erlassen, die ein schärferes Vorgehen
gegen die Verharmloser des Judensterns erlauben. Den führen manche
Impfgegner bei Demos mit, um auszudrücken, dass sie heute genauso
unterdrückt würden wie die Juden durch die Nazis. Die Urteile machen
fest, dass auch der Judenstern „sinnbildlich für den gesamten
Holocaust“ steht. Die (unterdrückten) Impfgegner wird man natürlich
nicht ins KZ stecken, aber sie können als „Holocaust-Verharmloser“ mit
rechtsstaatlichen Mitteln verfolgt werden.
-
Der Journalist Arne Semsrott hat den „Freiheitsfonds“ gegründet, der
Spenden sammelt mit dem Ziel, Häftlinge freizukaufen, die man beim
Schwarzfahren erwischt hat und die die fällige Strafe nicht bezahlen
konnten. Das betrifft Tausende von Menschen in Deutschland, 58 von
ihnen hat Semsrott schon freigekauft. Sein Ziel ist es, den Paragrafen
265a ganz abzuschaffen und die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs
kostenfrei zu machen. Das wäre doch auch ein Gebiet, wo die
Ampelkoalition „Mehr Fortschritt wagen“ könnte.
-
Und wieder hat jemand einen „besonders schweren Diebstahl“ begangen,
für den wir viel Verständnis haben. Der Jesuitenpater Jörg Alt hat
Lebensmittel aus einem Container geklaut und sich gleich selbst
angezeigt. Sein Ziel ist ein Lebensmittelrettungsgesetz, wie es in
Frankreich existiert und das Menschen, die Nahrungsmittel „retten“,
entkriminalisiert. (Stichwort: „Fortschritt wagen“)
-
Weder erfreulich noch erheiternd ist ein Beitrag aus der reanimierten
Fernsehserie „TV total“. Da unterhielt sich der Kabarettist Sebastian
Pufpaff mit den Politiker Gregor Gysi, wer denn „die schärfste Biene
des Bundestags“ sei. Wir Männer müssen einfach lernen, dass manche
„Witze“ heute nicht mehr zum Lachen sind.
-
Mit uneingeschränkter Schadenfreude haben wir eine Meldung aus den USA
aufgenommen: Ex-Präsident Trump wurde von Anhängern ausgebuht, weil er
zugegeben hat, geboostert zu sein. Wenn diese Anhänger aus Frust 2024
nicht zur Wahl gehen, dann könnten die USA noch einmal davonkommen.
Wir
wollen natürlich das letzte Wort im Dezember nicht an Donald Trump
verschwenden. Deshalb zitieren wir aus dem Weihnachtssegen des Papstes
folgende Passage: Jeder soll sich einsetzen für „Begegnung und
Dialog“, für „Trost und Zuneigung“ und gegen „Mobbing und Missbrauch“.
Das ist, so die SZ, „eine ziemliche Herausforderung. Für die Kirche.
Für die Hetzer. Für uns alle.“
3.
Der Tätigkeitsbericht: das AI-Jahr im Landkreis
Miesbach
Auch
heuer standen unsere Saal- und Freiluftaktivitäten wieder im Zeichen
der Pandemie – und damit stand es mit ihnen schlecht. Und dabei hätten
wir in diesem Jahr mit dem 60. Gründungsjubiläum von Amnesty
International Grund zum Feiern, besser zum Gedenken gehabt. Bei
solchen Jubiläen stellt sich natürlich die Frage, „Was wäre, wenn“ -
es Organisationen wie AI oder Human Rights Watch nicht gäbe? Wenn man
sich die „Schlagseite“ (auch) dieses Jahresrückblicks in Richtung
Negativa vornimmt, drängt sich die Antwort auf, dass die
Menschenrechtslage nach wie vor zum Heulen ist, so wie auf der Karte
dargestellt, die uns ein unverdrossener Leser mit folgendem Untertitel
zugeschickt hat.
Die
Hl. Amnestia weint über den Zustand der Welt
Aber
dann kam im Januar 2021 ein Mailing mit den AI-Erfolgen des Jahres
2020: In Ägypten wurde die Frauenrechtlerin Amal Fathy freigesprochen,
der US-Bundesstaat Colorado schaffte die Todesstrafe ab, im Südsudan
wurde das Todesurteil Magai Matiop Ngong aufgehoben.
Amal
Fathy
Magai Matiop Ngong
Bei
den Entscheidungen haben auch andere Faktoren eine Rolle gespielt,
aber vorausgegangen ist immer eine (mehr oder weniger) massive
Kampagne von Menschenrechtsorganisationen. Deshalb ist die Antwort auf
die „Was wäre, wenn“-Frage ein (vorsichtig) selbstbewusstes „Wir haben
(vielleicht) dazu beigetragen.“ Das würde die Hl. Amnestia auch so
sehen, wenn sie wieder einmal zu weinen aufhört. Und deshalb haben wir
auch in Miesbach wieder ganzjährlich zur Feder/zum Kugelschreiber/zu
den IT-Geräten gegriffen und „beigetragen“.
3.1
Schreibtischtaten
Dr.
Ahmadreza Djalali/Iran (Januar)
Der
schwedisch-iranische Arzt mit Spezialgebiet Katastrophenmedizin
erlebte seine persönliche Katastrophe im Jahre 2016, als er verhaftet
wurde und wegen „Spionage für Israel und Verrat“ im Jahre 2017 zum
Tode verurteilt wurde. Anfang des Jahres wurde er in Einzelhaft
genommen, im Iran ein Signal dafür, dass eine Hinrichtung unmittelbar
bevorstehen könnte. Dr. Djalali gehört zu der Gruppe von
Wissenschaftlern, die im Iran mit Forschungsaufträgen betraut sind,
häufig Doppelstaatler sind und wegen abwegiger Vorwürfe verurteilt
werden. Die letzte Nachricht stammte vom April: Er wurde wieder in
eine Gemeinschaftszelle überführt, wo das Risiko einer drohenden
Hinrichtung geringer ist. Die Maßnahme mag auch den zahlreichen
Protesten gegen das Urteil geschuldet sein. Unser Brief ging an den
damaligen Justizbeauftragten und jetzigen Präsidenten Ebrahim Raisi,
ein berüchtigter Hardliner, der bei solchen „Gnadenerweisen“ eher eine
untergeordnete Rolle gespielt haben dürfte.
Todesstrafe
in Südkorea (Februar)
In
der Vollversammlung der UN stimmte Südkorea zum ersten Mal für einen
Hinrichtungsstopp. Das Land hatte zum letzten Mal 1997 hingerichtet –
aber dafür gleich
23
Personen auf einmal. Wir haben, was nicht sehr häufig vorkommt, ein
„Glückwunschschreiben“ an den Präsidenten geschickt, das mit dem Satz
endete: „Ich werde Beifall klatschen, wenn Südkorea die Todesstrafe
(endgültig) abschafft.“ Der Briefschluss scheint den Behörden so
gefallen zu haben, dass sie uns in einem aufwändigen Umschlag ein
Antwortschreiben zukommen ließen, in dem sie darauf hinwiesen, dass
die Regierung in Richtung Moratorium unterwegs sei, dass man aber
zuvor in eine Debatte einsteigen und beispielsweise die Meinung des
Volkes zur Todesstrafe einholen müsse. Ob das eine gute Idee ist,
werden wir sehen. (s. Japan)
Das
passiert nicht oft!
Alexej
Nawalny/Russische Föderation (Februar)
Unser
Brief an den Zaren wurde weder von Putin selbst noch von seinem
Botschafter in Berlin beantwortet – und auch nicht ernst genommen. (s.
Jahresrückblick)
Shafqat
Emmanuel, Shagufta Kausar (Pakistan)
Die
Eheleute sine Christen und hatten das zweifelhafte „Privileg“, im
Jahre 2014 als erste nach dem Blasphemiegesetz zum Tode verurteilt zu
werden. Man hatte ihnen vorgeworfen, SMS verschickt zu haben, in denen
Mohammed und der Koran verunglimpft würden. Dabei können die beiden
kaum lesen oder schreiben. Beim Prozess sollen die Staatsanwälte dem
Richter gedroht haben, sie würden wie „muslimische Krieger“ mit ihm
verfahren, wenn er kein Todesurteil ausspräche. Wir haben im April
Postkarten verschickt, im Juni wurde das Urteil aufgehoben, im August
war das Ehepaar „in einem europäischen Land in Sicherheit“. Das Land
könne allerdings „aus Sicherheitsgründen“ nicht genannt werden.
Andrea
Sahouri/USA (März)
Zielgenau
zum Frauentag wurde in Des Moines/Iowa die Journalistin Andrea Sahouri
von der Anklage des „Fehlverhaltens“ freigesprochen. Sie hatte im Mai
2020 eine „Black-Lives-Matter“ Demo journalistisch begleitet und war
von der Polizei trotz Presseausweis mit Pfefferspray bedacht worden.
Frau Sahouri feierte den Freispruch als Ermutigung für Journalisten
„ihren Job zu tun“, während AI-USA auf einen Trend verwies, dass sich
Polizeikräfte bei ihrem Einsatz auf Demos zunehmend gravierender
Menschenrechtsverletzungen schuldig machten.
Chiou
Ho-shun/Taiwan (April)
Chiou
befindet sich seit 1989 im Todestrakt und kann jederzeit hingerichtet
werden. Er wurde wegen Raubes, Entführung und Mordes zum Tode
verurteilt, Sachbeweise wurden nicht erbracht, die „Geständnisse“,
nach Chious Aussagen, unter Folter erzwungen. Am 7. April fand ein
Protestmarsch von taiwanesischen NGOs zum Palast der Präsidentin
statt, auf dem sie aufgefordert wurde, zur Petition vom Vorjahr, in
der die Entlassung Chious gefordert worden war, Stellung zu nehmen.
Wir begleiteten den Marsch mit einem Brief aus der Ferne, AI-Bremen
stellte im November seinen Fall im Rahmen der Aktion „Städte gegen die
Todesstrafe“ vor. Weitergehende Überlegungen, beispielsweise der
Präsidentin im Austausch für eine Begnadigung die diplomatische
Anerkennung Taiwans durch AI-Miesbach anzubieten, sind im Gange.
(Vorsicht Satire!)
Vitalina
Koval/Ukraine (Mai)
Frau
Koval ist Feministin und aktives Mitglied der LGBTI-Gemeinschaft in
der Ukraine. Sie hatte zum Frauentag 2018 eine öffentliche Aktion
organisiert und wurde von sechs Mitgliedern einer rechtsextremen
Gruppe mit Farbe bespritzt, was zu Verbrennungen in den Augen führte.
Gegen die zwei Frauen, die den Angriff ausgeführt hatten, wurde
Anklage wegen „leichter Körperverletzung“ erhoben. Die Tat wurde nicht
als Hassverbrechen bewertet, obwohl die Gruppe auch homophobe
Flugblätter geworfen hatte. Der Prozess wurde dann drei Jahre lang
verzögert und endete in erster Instanz mit einem Freispruch wegen
Verjährung. Darauf forderte der Anwalt von Frau Koval eine Einstufung
als Hassverbrechen, und darüber soll Anfang 2022 entschieden werden.
In unserem Brief an den Innenminister forderten wir auch, dass Täter,
die Hassverbrechen gegen LGBTI-Leute begehen, nicht länger straffrei
bleiben.
Nahid
Taghavi/Iran (Juni)
Es
wurde wieder einmal Zeit für einen Brief an unseren
„Lieblings-Hardliner“ Ebrahim Raisi. Auch diesmal ging es wieder um
eine Doppelstaatlerin. Die deutsch-Iranerin Nahid Taghavi wurde im
Oktober 2020 aus (undefinierten) „Sicherheitsgründen“ festgenommen und
in Einzelhaft gehalten. Wie üblich wurde ihr ein Rechtsbeistand ihrer
Wahl verweigert. Freund Raisi und seine Justiz reagierten auf unseren
Brief wie befürchtet: Im August wurde Frau Taghavi wegen „Beteiligung
an einer illegalen Gruppierung und Propaganda gegen den Staat“ zu 10
Jahren verurteilt. Für letzteres gelten übrigens bei Frauen bereits
Fotos ohne Kopftuch. Frau Taghavi ist eine von mehreren
Doppelstaatlern, die vom Regime (bei Bedarf) als diplomatisches
Druckmittel benutzt werden kann.
Hossein
Shahbazi, Arman Abdolali/Iran (Juli-November)
Wir
haben Mohseni Ejei,den Nachfolger von Raisi als Justizbeauftragter,
artig mit „Exzellenz“ begrüßt, aber er zeigte sich genauso wort- und
schreibkarg wie sein Vorgänger. Im Juli konfrontierten wir ihn gleich
mit drei „Justizirrtümern“ seiner Behörden. Den Fall von Hossein und
Arman möchten wir vorstellen, weil er die perfide Strategie der
iranischen Justiz zeigt, wie mit weltweiten Protesten umzugehen ist.
Beide Männer waren des Mordes angeklagt, zur Tatzeit aber
minderjährig. Die Hinrichtung wurde zum ersten Mal im Juli
angekündigt, dann nach besagten „weltweiten Protesten“ verschoben –
und das sieben Mal, mutmaßlich, weil man die Familie dazu bringen
wollte, eine Geldzahlung an die Familie des Opfers zu leisten. Im
November wurde Abdolali schließlich hingerichtet.
Wir
freuten uns zu früh
Wir
wiesen in unseren Briefen mit Nachdruck darauf hin, dass die
Hinrichtung von zur Tatzeit Minderjährigen mit der
UN-Kinderrechtskonvention kollidiert, aber, obwohl das Papier auch vom
Iran ratifiziert wurde, scheint Seine Exzellenz es noch nicht gelesen
zu haben. Ob Shahbazi unser Weihnachtsfest überleben wird, ist
fraglich.
Sechs
Umweltaktivisten/Kambodscha (August)
In
Kambodscha gibt es eine Umweltorganisation namens Mother Nature
Cambodia. Sie setzt sich für die Bewahrung des Naturerbes ein und
kritisiert, dass die Zerstörung der Natur als „Entwicklung“ getarnt
wird, die aber nur der Bereicherung der Eliten dient. Sechs ihrer
Aktivisten wurden in einem doppelten Gerichtsverfahren zum einen wegen
„Aufwiegelung“, dann wegen „Verschwörung und Beleidigung des Königs“
zu kürzeren und längeren Haftstrafen verurteilt. Wir forderten ihre
bedingungslose Freilassung aus den überfüllten und Covid-verseuchten
Gefängnissen und ein Ende der Verfolgung von Umweltorganisationen.
Todesstrafe
in Ghana (Oktober)
In
Ghana ist seit 1993 kein Häftling mehr hingerichtet worden, die
Todesstrafe wird aber nach wie vor verhängt bei bewaffnetem Diebstahl,
Verrat und vorsätzlichem Mord. In einem Brief an den Staatsanwalt
wiesen wir auch auf die abstrusesten Fälle unter den
Todestraktinsassen hin: Frauen, die ihre gewalttätigen Partner
umgebracht hatten und vor Gericht nicht von ihren Erfahrungen
berichten durften, Angehörige der Unterschicht, Menschen mit geistiger
Behinderung. Im Dezember haben wir dann noch eine Petition mit 54
Unterschriften hinterhergeschickt.
Ali
Younesi, Amirhossein Moradi/Iran (November)
Mit
dem Studenten Ali Younesi präsentierte der Iran eine andere Form von
Geiselhaft. Seine Familie wird verdächtigt zu Beginn der Islamischen
Revolution im Jahre 1979 die Volksmudschaheddin unterstützt zu haben,
und da nahm man 40 Jahre später den Sohn als Sündenbock mit. Ali wurde
bei seiner Verhaftung verprügelt und in Haft gefoltert, um ein
Geständnis zu erzwingen. Sein Mitstudent Moradi war bei
Straßenprotesten gefilmt worden und erfuhr in Haft eine ähnliche
„Behandlung“ wie Younesi. Er scheint im Oktober gegen Kaution
freigelassen worden zu sein. In unserem Brief haben wir neben der
Freilassung auch gefordert, dass die Schläger und Folterer vor Gericht
gestellt werden sollten, aber so wie es im iranischen Strafvollzug
läuft, haben sie dafür eher ein paar freie Tage bekommen.
Das
war eine Auswahl unserer Schreibtischtaten. Bei schwächeren Schülern
stand früher oft ein „hat sich bemüht“ in der Zeugnisbemerkung, und
die Lehrer meinten damit, dass der Erfolg eher suboptimal war. Für den
Schüler selbst aber war sein ehrliches Bemühen eine beachtliche
Leistung. Also gehen auch Sie gnädig mit uns um, nicht zuletzt
deswegen, weil wir oft noch nach Jahren erfahren, dass die Briefe doch
etwas bewirkt haben – von moralischer Unterstützung bis Verbesserung
der Haftbedingungen zu vorzeitiger Entlassung oder Begnadigung.
3.2
Veranstaltungen
Im
Vergleich zu 2019, wo wir satte 18 Auftritte und Veranstaltungen
bestritten, war das Jahr 2021 ereignisarmes Brachland. Haben Sie
deshalb Verständnis, wenn wir unsere diesjährigen Auftritte
breitwalzen, damit sie etwas hermachen.
„Nein
zu Rassismus“ (23. März)
In
den „Wochen gegen Rassismus“, die in Miesbach mit einem aufwändigen
Programm und einem breiten Unterstützerkreis begangen wurden,
übernahmen wir die Vorstellung rassistischer Vorfälle und Straftaten –
am Rathausplatz in Miesbach. Die Vorstellung fand statt, aber den
Rathausplatz haben wir wegen der Pandemie durch das Internet ersetzt.
Dank versierter Unterstützung durch Herrn Kallup vom Kulturzentrum und
unter Mitwirkung eines türkischen Ehepaars stellten wir eine
beängstigende Reihung von rassistischen, antisemitischen und
rechtsextremen Entgleisungen ins Netz, wo sie übrigens noch
heute/Januar 2022 zu finden ist. Im Gegensatz zu den Rassisten hielten
wir uns streng an Regeln und Gesetze und vermeldeten im Vorspann, dass
„die Aufzeichnung unter Einhaltung der 12. bayerischen
Infektionsschutzmaßnahmenverordnung entstand“.
Trotz
der komplizierten Choreographie – es durften immer nur zwei Hausstände
präsent sein, kam im Aufnahmeraum Stimmung auf, denn von der Wand
grüßten die Plakate mit den „Miesbacher Bürgerinnen und Bürger gegen
Rassismus“, und auf der Straße zog die Friday for Future-Demo vorbei.
Ein
Beispiel aus dem Landkreis: An einer Schule hatten Mitschülerinnen die
Hausschuhe eines achtjährigen albanischen Mädchens in den Papierkorb
gesteckt. Als die Lehrerin die Sache thematisierte, antwortete man
ihr: „Ausländer sind Müll, also gehören die Hausschuhe in den
Papierkorb.“
Aktion
Schilder-Aufstellen (21. April)
Stadträtinnen
der Grünen in Miesbach wollten ein Zeichen setzen gegen die Auftritte
des „Stammtisches“, der Miesbach zu einem Hotspot des Demo-Tourismus
gemacht hatte und, neben Gemeinderatssitzungen und Geburtstagsfeiern,
dafür sorgte, dass Miesbach der einzige Landkreis in Südbayern war, wo
die Inzidenzzahl über 100 lag. Als AI ist uns ja Distanz geboten, wenn
Veranstaltungen von politischen Parteien organisiert werden, aber
diesmal machten wir ohne Skrupel mit, weil das Anliegen nicht nur
wichtig war, sondern auch parteineutral formuliert war. Da hieß es:
„Gemeinsam gut durch die Pandemie. Sorgen und Ängste ernst nehmen. Wir
sind FÜReinander da.“ Und wir sind dabei!
Bei
der Auswahl der Bilder bin ich in einem Dilemma. Einerseits sollte man
den Schilderwald im Waitzinger-Park sehen, andererseits das schöne
Plakat, das Monika Wiegert für uns gestaltet hat. Ich entschied mich
für ihr Plakat, den Gruppensprecher daneben müssen Sie in Kauf nehmen.
Querdenker
– Nein, danke!
Demo
60 Jahre Amnesty International (29. Mai)
Zur
Demo in München ließen sich auch zwei Miesbacher aus dem Coronaschlaf
wach rütteln. Die Teilnehmer bestanden hauptsächlich aus Jungvolk,
aber auch die beiden Ü-70er wurden freundlich begrüßt. Leider konnten
wir mit dem Tempo nicht so recht Schritt halten und fielen immer
weiter zurück, bis wir schließlich vor dem Schlussfahrzeug der Polizei
landeten. Die Demo verlief sehr diszipliniert, die Beamten der fünf
(!) Streifenwagen verlebten einen ruhigen Vormittag. Die Passanten
waren mitleidig bis wohlwollend, ein entgegenkommendes Auto begrüßte
uns mit einem Hupkonzert – aber nicht, weil wir sie blockierten,
sondern weil sie tatsächlich mit uns sympathisierten. Die
Organisatoren waren etwas enttäuscht, weil die Miesbacher und
Kirchheimer gekommen waren, aber „die Münchner zu Hause blieben“.
Erste
Präsenzsitzung nach neun Monaten (23. Juli)
Das
Bedürfnis nach Direktkontakten war offensichtlich. Es kamen acht
Leute, und es gab vier Absagen. Damit war der gesamte aktive
Personalstand der Gruppe vertreten. Das Bedürfnis, sich Arbeit
zuteilen zu lassen und zündende Ideen zu „50 Jahre AI Landkreis
Miesbach“ im nächsten Jahr beizusteuern, hielt sich leider in Grenzen.
Wir verbrachten 75 Minuten in Arbeitssitzung und 150 Minuten im
Plaudermodus. Allerdings gab es für den etwas verrückten Schwerpunkt
gute Gründe: eine Entlassung aus dem Krankenhaus und ein 80.
Geburtstag. So etwas zu feiern, ist auch ein Menschenrecht!
Aktivitäten
zur Bundestagswahl (August)
Wir
wurden von der Zentrale aufgefordert, unsere Kandidaten zu
kontaktieren und sie auffordern, „Menschenrechte in den Mittelpunkt
ihrer Politik zu rücken“. Genannt wurden die Betätigungsfelder
Covid-19, Rassismus, Flucht und Asyl, Klimaschutz, Digitalisierung,
Wirtschaft und Rüstung, Außenpolitik und EU, alles Themen, die es
verdienen, in den Mittelpunkt gerückt zu werden – auch wenn der Platz
um den Mittelpunkt damit etwas eng werden wird. Ein Kandidat hat
geantwortet, wurde aber nicht gewählt, ein Kandidat wurde gewählt, bat
aber darum, von weiteren Zuschriften verschont zu bleiben.
Infostand
in Holzkirchen (9. Oktober)
Mit
dem Infostand nahmen wir (kurzfristig) unsere „Freiluftaktivitäten“
wieder auf. Da Wetter war kalt und neblig, und ich beschloss, dass es
für mich der letzte Infostand wäre. Dann aber nahm mich der „Zauber
des Infostands“ gefangen, das Gefühl eine gute Sache zu vertreten. Wir
hatten uns die drei Fälle der bayernweiten Aktion im Juli vorgenommen,
die leider immer noch aktuell waren: die kolumbianische
Umweltaktivistin Jani Silva (Morddrohungen), die Gruppe El Hiblu 3
(falsche Anschuldigungen) und die iranische Menschenrechtsanwältin
Nasrin Sotoudeh (langjährige Haftstrafe).
Zum
„Zauber des Infostandes“ gehören auch die Reaktionen der Passanten und
Standbesucher. Da gibt es einerseits:
-
auf die Frage „Wollen Sie uns unterstützen?“ ein „Nein, danke!“
-
ein „Nein!“, das so definitiv klang, als würden wir für Terrorismus
und Missbrauch von Kindern werben;
-
die Anfrage, ob wir den „Landtag abschaffen“ wollten – das Plakat der
Querdenker hing in der Nähe unseres Standes.
Und
andererseits:
-
Leute, die spenden, aber keine Karten verschicken wollen;
-
eine Lehrerin die das ganze Sortiment für ihre Schule mitnimmt;
-
die Frau, die sich bedankt, weil wir uns engagieren.
Wir
werden 92 Karten los, nehmen 31 Euro an Spenden ein und gehen
(überwiegend) mit dem Gefühl nach Hause, dass die Sache recht positiv
verlaufen ist – und es vielleicht noch einen weiteren „letzten
Infostand“ geben wird.
Wir
sind wieder da!
Claus-Peter
Reisch: „Flüchtlingsrettung im Mittelmeer“ (Oktober)
Das
ist unsere „Unendliche Geschichte“, auf niederschwelligem Niveau
genauso „unendlich“ wie das Problem Seenotrettung selbst. Bei uns geht
es nämlich nur um Terminkollisionen und Terminverschiebungen. Der
erste Termin platzte 2020 wegen Corona, den zweiten Termin versemmelte
der Ex-Kapitän, der dritte Termin fiel wieder der Pandemie zum Opfer.
Wir wären froh, wenn wir ihn endgültig absagen könnten, weil es dank
der Einigung auf eine gemeinsame europäische Asylpolitik das Problem
nicht mehr gibt, aber von einer solchen Einigung sind wir weit
entfernt. Der vierte Anlauf soll im Frühjahr 2022 stattfinden.
Ausstellung
„Grenzerfahrungen“ (November-Dezember)
Wir
haben die Ausstellung von Pro Asyl gekauft, und die VHS hat sie uns
aufgehängt. Der Merkur hat sie offensichtlich besucht, fotografiert
und eine treffliche Überschrift gefunden: „Grenzerfahrungen im
Treppenhaus“. Ein Treppenhaus zur Präsentation einer Ausstellung ist
von der Dimension her nicht der richtige Platz, aber wenn man an die
Enge in den Flüchtlingsbooten und Rettungsschiffen denkt, dann hat ein
Treppenhaus für eine Ausstellung doch einen gewissen Symbolcharakter.
Wir waren jedenfalls der VHS sehr dankbar für das Angebot und die
damit verbundene Arbeit.
Die
Ausstellung zeigte auf eindrucksvollen Bildern die Methoden, mit der
Europa Flüchtlingsabwehr betreibt, Methoden, die nicht immer mit der
Genfer Flüchtlingskonvention, die heuer 70 Jahre alt wurde, vereinbar
sind. Ein Geburtstagsgeschenk stellt man sich irgendwie anders vor.
Funken
der Hoffnung (Dezember)
Auf
Vorschlag eines Gruppenmitglieds, das inzwischen leider nach Husum
ausgewandert ist, ermöglichte uns das Gelbe Blatt an vier Sonntagen
einen „Adventskalender der anderen Art“ zu veröffentlichen. Wir
konnten vier Erfolgsmeldungen aus der AI-Datei vorstellen,
gewissermaßen zur Einstimmung auf „50 Jahre AI im Landkreis Miesbach“
und auch als Antwort auf die eingangs gestellte Frage „Was wäre
wenn…?“
Zum
4. Adventssonntag erschien das „Gleichnis vom verlorenen Vater“,
Hüseyin Galip Kücüközyigit. Er wurde 2019 wegen „Mitgliedschaft in
einer terroristischen Vereinigung“ verurteilt und galt seit Dezember
2020 als vermisst. Seine Tochter startete mit Hilfe von AI eine
erfolgreiche Suchaktion. Hier ein Bild aus glücklicheren Tagen:
Vater
und Tochter Nursena
Briefmarathon
am Gymnasium Miesbach (Dezember)
Ich
übernehme Text und Bild von dem Lehrer, der uns derzeit die Tür zum
Gymnasium offenhält. Nicolas Klöcker hat heuer zum 3. Mal den
Briefmarathon betreut. Ihm und seinem Wahlkurs „Politik und
Zeitgeschichte“ unseren herzlichen Dank.
Der
Briefmarathon ist sehr erfreulich verlaufen. Die Teilnehmer des
Wahlkurses "Politik und Zeitgeschichte" haben 601 Protestbriefe an ai
in Berlin weitergeleitet. Beschwerden gab es keine.... ganz im
Gegenteil. Im Anhang siehst Du das Foto, das wir in unserem
Jahresbericht verwenden und das Du auch gerne weiterverwenden darfst.
Herzliche
Grüße aus der Haidmühl
Die
„Marathonläufer“ vom Gymnasium
Trotz
des „ereignisarmen Brachlandes“ haben wir es 13-mal in die beiden
Lokalzeitungen geschafft, weil sie zuverlässig über unsere
Veranstaltungen, Rückschläge und Erfolgserlebnisse berichtet haben.
Wir bedanken uns bei den Redaktionen von Merkur und Gelbem
Blatt und erneuern unser Versprechen, „weiterhin mit
Nachdruck für ihre verfolgten Berufskolleginnen und Berufskollegen
einzutreten“.
3.3
Die Fälle
Narges
Mohammadi/Iran
Wir
hatten ihr bei ihrer vorzeitigen Entlassung im Oktober 2020 gewünscht,
dass „sie wieder ins Leben zurückfindet“ und meinten damit ein Leben,
dass außerhalb der Gefängnismauern abläuft. Aber Narges hat sich nicht
lange damit aufgehalten, ein „normales“ Leben zu führen, bzw. wie es
die Ayatollahs formulieren würden „endlich Ruhe zu geben“. Zu
Jahresbeginn 2021 veröffentlichte sie ein Video und eine Erklärung,
mit denen sie gegen den Umgang mit Frauen in iranischen Gefängnissen
protestierte. Darauf bestellte sie im Februar der Staatsanwalt wegen
„Widerstand gegen die Gefängnisleitung“ ein.
Im
Mai wurde sie erneut verurteilt: zwei Geldbußen, 80 Peitschenhiebe,
zweieinhalb Jahre Haft. An Delikten hatte man zusammengesucht, was
sich Narges während ihrer vorausgegangenen Haftzeit „geleistet“ hatte.
Die Strafe bezog sich auf einen Sitzstreik, mit dem sie im Dezember
2019 mit Mitgefangenen gegen die Tötung von Demonstranten und die
Todesstrafe als solche protestiert hatte und damit „Propaganda gegen
das System“ gemacht habe.
Die
kurze „Schonzeit“ nutzte sie auf ihre Weise: Sie machte einen
Solidaritätsbesuch bei der Familie des hingerichteten Ringerchampions
Navid Afkari und wurde von Sicherheitsleuten in Zivil verprügelt, fuhr
fünf Tage später in die Stadt Shazand, um die Familie des inhaftierten
Menschenrechtsanwalts Mohammadi Najafi zu besuchen. In Shazand ließ
man sie nicht einmal in die Stadt hinein. Sie wurde von Agenten in ein
Auto gestoßen und einige Stunden „spazieren gefahren“. Im September
kündigte sie an, dass sie ihre Haft nicht antreten würde, aber es kam
nicht gerade überraschend, dass das von den Behörden so nicht
akzeptiert wurde. Im November landete Narges nach (mehr als) unsanfter
Behandlung durch Geheimdienstler wieder im Evin-Ge-fängnis. Wir machen
uns wieder ans Schreiben, zur Erstürmung des Evin-Kerkers fehlen uns
Mandat, Mut und Mittel.
Monireh
Arabshahi, Yasaman Aryani/Iran
Bei
den beiden Frauen, Mutter und Tochter, handelt es sich um die
Blumenverteilerinnen in der U-Bahn in Teheran, die mit der Aktion
gegen den Kopftuchzwang protestieren wollten. Das brachte ihnen eine
Anklage wegen “Anstiftung zu und Begünstigung von Verdorbenheit und
Prostitution“ und eine Mindeststrafe von fünfeinhalb Jahren ein.
Inzwischen hat man wenigstens auf die „blumigen“ Umschreibungen
verzichtet, denn bei dem Streit um Haftverschonung wegen medizinischer
Behandlung, bezeichnete man sie als „Aktivistinnen“ – und nicht mehr
als „Frauenverderberinnen“.
Den
(schriftlichen) Protest gegen ihre Inhaftierung begannen wir im Januar
mit einer Petition an - ja an wen wohl? - den damaligen
Justizbeauftragten Raisi. Wir erinnerten ihn an den Appell der sechs
UN-Sonderberichterstatterinnen, die im August 2019, also nur einen
Monat nach der Verurteilung die sofortige Freilassung der beiden
Frauen gefordert hatten. Exzellenz Raisi konnte sich leider nicht
erinnern. Am Frauentag 2021 schickten wir ihm einen Brief hinterher,
in dem wir auf die bedrohliche Schilddrüsenerkrankung der Mutter
hinwiesen. Die Operation fand dann im Juli statt. Dann folgten in
kurzer Folge eine eintägige Einweisung ins Krankenhaus ohne
medizinische Behandlung, eine Haftverschonung von August bis Oktober
und eine Rückverlegung ins Gefängnis vor Beendigung der Behandlung.
Verstärkung bekamen wir von zwei Bundestagsabgeordneten der SPD. Sie
übernahmen eine politische Patenschaft für die beiden Frauen.
Von
der Tochter haben wir nur erfahren, dass sie eine Zahnbehandlung
erhielt. Ihr Antrag auf Haftverschonung, um ihrer kranken Mutter
beizustehen, wurde abgelehnt. Ihr Vater war naiv genug zu behaupten,
dass politische Gefangene schlechter behandelt werden als Drogendealer
und Mörder: Die bekämen nämlich Haftverschonung zur medizinischen
Behandlung.
Hoo
Yew Wah/Malaysia
Im
Land ging es heuer drunter und drüber. Deshalb wurde der Einsatz von
AI-Ma-laysia für die Abschaffung der Todesstrafe und die Begnadigung
der Todeszelleninsassen eher zu einem Randthema. Immerhin: das
Moratorium für den Vollzug der Todesstrafe blieb bestehen. Im Oktober
erhielt AI-Malaysia Petitionen mit über
50.
000 Unterschriften. Die dortige Sektion hatte auch vor, Workshops und
Diskussionen über Hoos Fall zu organisieren.
Hoo
ist zwar immer noch in der Todeszelle, scheint aber bei guter
Gesundheit zu sein. Auf Grund der Pandemie hat er lange keinen Besuch
von Familienangehörigen erhalten. Wir bleiben dran, denn in einer
Region, wo seit langem (China, Singapur, Indonesien) oder von neuem
hingerichtet wird (Japan), wäre eine Abschaffung der Todesstrafe ein
dringend benötigtes Hoffnungszeichen.
3.4
Die Gruppe
Von
einem Gruppenmitglied habe ich einen kurzen Beitrag zu diesem
Jahresbericht bekommen, den ich aus mehreren Gründen gerne übernehme.
-
Es kommt äußerst selten vor, dass sich jemand aus der Gruppe in die
Abfassung des Jahresberichts „einmischt“. Deshalb bin ich auch für
kurze Beiträge dankbar.
-
Der Beitrag weist daraufhin, dass die Gruppe sich endlich dem
digitalen Zeitalter gestellt hat. Ob sie bereits auf Dauer darin
angekommen ist, entscheidet sich in Kürze. (s. unten)
-
Und schließlich verrät der Tonfall dieses Beitrags etwas von der
entspannten Atmosphäre, die normalerweise in unserer Gruppe herrscht –
außer es geht um Gendern, gleiche Bezahlung für Frauen und Männer und
dem Vorpreschen der Generation Woke bei den Anträgen zu den
AI-Jahresversammlungen.
Hier
der Beitrag von Thierry:
„Der
Gruppensprecher hat sich das ganze Jahr 2021 (und schon 2020)
erfolgreich geweigert, virtuelle Sitzungen abzuhalten. Erst jetzt
hat er unter Androhung von Folter -damit kennen wir uns ja aus! –
nachgegeben. Er hat seinen PC nachgerüstet/nachrüsten lassen, und im
Januar soll die erste Sitzung virtuell stattfinden, sofern die
Coronazahlen nicht ins Unendliche gefallen sind.“
Mit
Bedauern haben wir, wie bereits erwähnt, den Wegzug eines jüngeren
Mitglieds verkraften müssen, aber dafür ist weder von den früheren
noch von den aktiven Mitgliedern jemand gestorben. Für den Beitritt
von weiteren Mitgliedern, unabhängig von Alter, Geschlecht, Religion
und politischer Einstellung (keine AfD!) und deren baldiger
„Machtergreifung“ hätten wir nichts einzuwenden. Einige von uns haben
an sich ihren Teil geleistet.
3.5
Die Organisation
Wir
möchten in dieser Rubrik einige Nachrichten präsentieren, die sich mit
dem „Innenleben“ der Großorganisation befassen und die uns abwechselnd
wütend, traurig und irgendwie heimatlos gemacht haben, aber manchmal
auch ein sanftes Lächeln auslösten.
-
Instrumentalisierung: Wütend gemacht hat uns der Aufruf eines
Münchner Rechtsanwalts, der im Januar ein Demonstrationsverbot gegen
die Querdenker als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ einstufte,
seinerseits in München zu einem Protestmarsch aufrief und dabei als
Redner auch „Menschenrechtsaktivisten von Amnesty International und
Human Rights Watch“ aufführte. Wir sind ziemlich sicher, dass er sich
diese Aktivisten aus dem Hut gezaubert hat, denn die Position von AI
zur Pandemie ist eindeutig: Wir wollen sie und ihre Folgen für unsere
Klientel bekämpfen (Überfüllung der Gefängnisse, Verweigerung von
medizinischer Behandlung) und nicht sie fördern.
-
Unterdrückung: Traurig gemacht hat uns die Politik der indischen
Regierung, die schon im September 2020 alle Konten von AI eingefroren
hat, weil AI „über Polizeigewalt in Neu-Delhi berichtet, Folter
angeprangert und Diskriminierung von Minderheiten sichtbar gemacht,
und sich für Menschenrechtsverteidiger eingesetzt hat“. Im
Regierungsjargon hieße die Begründung allerdings etwas anders: „Ai ist
eine Organisation, die sich nicht den (harten) Regeln für NGOs
unterwirft und deren Finanzierung aus dem Ausland der Geldwäsche
dient“. Als Folge der Kontosperrung musste das dortige AI-Büro
schließen, und 138 Mitarbeiter standen auf der Straße.
-
Ausgrenzung: Zugegeben – das Wort „heimatlos“ ist maßlos
übertrieben, aber wenn man manche Anträge zu den
AI-Jahresversammlungen liest, dann hat man schon das Gefühl, dass wir
hier in Miesbach mit unseren Positionen bisweilen nicht mehr zum
Mainstream von AI gehören. Da finden sich auf einer Prioritätenliste
des Jahres 2020 beispielsweise die Forderung, dass auf den
„Namensschildern die (gendergerechten) Pronomen“ erscheinen und dass
die Aufkleber „klein und rund“ sein sollten. Gott sei Dank sind wir
nicht allein auf der „Insel der Gestrigen“, die so beharrlich am
Kernmandat von Ai festhält. In einem Leserbrief vom Juli heißt es:
„Amnesty
ist keine Gewerkschaftsbewegung, setzt sich aber für verfolgte
Gewerkschaftler ein. … Amnesty ist keine feministische Bewegung,
steht aber für Frauen und Mädchen ein, die ihre Rechte verteidigen.
Amnesty ist keine Umweltbewegung, kämpft aber dafür, dass
Umweltschützer und Klimaaktivisten vor staatlicher Gewalt geschützt
werden.“
-
Neuausrichtung: In den Dokumenten zur vorletzten
Jahresversammlung findet sich auch ein Beitrag unter dem Titel: „Humor
als Mittel der Menschenrechtsarbeit“. Der Autor berichtet von der
(geplanten) Teilnahme an einem lokalen Faschingsumzug in Düsseldorf.
Die dortigen AI’ler wollten „das närrische Brauchtum aufgreifen und
die Narrenfreiheit/Meinungsfreiheit nutzen, um unseren intellektuellen
Leuchtturm (was immer das ist) zu verlassen“. Der lokale Umzug wurde
abgesagt, aber der Gruppe gelang es, beim großen Rosenmontagszug in
Düsseldorf einen politischen Wagen „einzuschmuggeln“, der dem Thema
„Kein Platz für Rassismus“ gewidmet war. Warum nicht? Wenn’s hilft!
3.6
Verschiedenes
-
Reaktionen: (Galgen)Humor braucht man auch, um eine Antwort der
Justizabteilung von Hongkong zu verdauen. Leider wird nicht erwähnt,
um welchen AI-Fall es sich handelt, aber dem Verfasser des Mails geht
es sowieso nicht um das Schicksal von Justizopfern, sondern um einen
Persilschein für das System. Da ist zunächst davon die Rede, dass man
durch „absichtliche oder nachlässige Fehldarstellung“ das Justizsystem
von Hongkong und das Nationale Sicherheitsgesetz/NSL „beschmieren“
wolle. Und dann versteigt sich der Autor zu der Behauptung, dass „die
Menschenrechte und Freiheiten“ der Bewohner Hongkongs „ausdrücklich
garantiert“ seien, wenn auch unter Maßgabe des Grundgesetzes. Dieses
Grundgesetz garantiere auch faire Gerichtsverfahren. Das NSL wiederum
habe „die Ordnung wiederhergestellt“ und „trage zur Stabilität und zum
Wohlstand von Hongkong bei“. Und AI sollte sich nicht so haben wegen
der paar Verhaftungen! Nein, letzteres hat er nicht gesagt, sondern
nur gemeint.
-
Briefe gegen das Vergessen: Unser Abo mit den Monatsbriefen
sollten Sie sich unbedingt zulegen oder weiterempfehlen. Wenn sie
wegen der ständigen Portoerhöhungen davor zurückschrecken, bestellen
Sie die Briefe elektronisch. Unser langjähriger Abonnentenbetreuer
Thierry Nédélec wird Sie zuverlässig (und mit bretonischem Humor)
bedienen.
Einen
Fall möchte ich aufgreifen, weil er exemplarisch zeigt, wie breit
gefächert die Arbeit von AI ist – und dass wir uns wahrlich nicht bei
Pronomen und Etiketten aufhalten sollten. Im März setzten wir uns im
Rahmen dieser Aktion für Menschen mit
Albinismus
in Malawi ein. Dort sind solche Menschen in ständiger Angst, entführt,
verstümmelt oder getötet zu werden. Ihre Körperteile, so der
Aberglaube, sollen Glück, Wohlstand und Macht bringen. Seit 2020 wird
gegen Albinomörder schärfer vorgegangen, und neuerdings wird sogar die
Todesstrafe gegen sie verhängt, aber bisher wird sie wenigstens nicht
vollstreckt. Das wäre uns natürlich auch nicht recht.
-
Finanzen: Da es dazu nach Aussagen unseres immerwährenden
Finanzministers Siegfried Komm nicht allzu viel zu sagen gibt, fange
ich mit dem berühmten Zitat aus Goethes „Faust“ an:
„Am
Golde hängt, zum Golde drängt, doch alles. Ach wir Armen!“
Ach,
werden Sie sagen, so kann doch nur ein Bettelbrief beginnen. Die
Antwort ist ein klares „Jein“! Wir sind als Gruppe nicht arm, weil wir
auf einen Kreis von beharrlichen Spendern und Förderern zählen können,
die es uns ermöglichen, auch ohne Einnahmen aus Märkten und
Veranstaltungen, unseren Jahresbeitrag von 2300,- € zusammenzubringen
und noch kein einziges Mal mit dem internen AI-Gerichts-vollzieher
konfrontiert waren. Ihnen unseren herzlichen Dank! Sollten Sie aber in
Ihrem Bekanntenkreis Leute haben, die Geldabsatzprobleme haben,
reichen Sie sie bitte an uns weiter. Wir akzeptieren auch Bitcoins –
und tauschen sie um.
4.
Das Deckblatt
Wie
Sie nach zweimaliger Lektüre dieses Jahresberichts sicher bemerkt
haben, spielte der 60. Geburtstag von AI in Miesbach eine eher
untergeordnete Rolle. Zwei Mitglieder der Gruppe auf einem
zweistündigen Fußmarsch zum Rotkreuzplatz in München bei der Mai-Demo
– das war’s auch schon. Schuld am verschämten Schweigen war zum einen
die Pandemie, zum anderen aber auch die Tatsache, dass AI im Landkreis
Miesbach im Jahre 2022 stolze 50 Jahre alt wird. Und dafür, sagten wir
uns, müssen wir unsere (noch verbliebenen) Kräfte aufsparen. Geplant
sind der Vortrag zur Flüchtlingsrettung, eine Ausstellung über die 50
Jahre und ein Abend mit der Big Band des Gymnasiums und der
Kabarettistin Christine Eixenberger. Schauen wir mal, was draus wird.
Dazu eine Ausstellung des Kulturzentrums mit Werken unseres
verstorbenen Gruppengründers Heinrich Skudlik und, pandemieabhängig,
Mitwirkung am Menschenrechtsfestival in Holzkirchen. Aber s.
Unterschrift zu
Bild
1: „Schaung ma amoal!“
Um
die Gründung von AI vor 60 Jahren wenigstens visuell zu gedenken,
haben wir auf dem Deckblatt den Artikel im Observer
abgedruckt, der als Startschuss für die Gründung von Amnesty
International gilt. Der Initiator Peter Benenson hat in dem Artikel
„The forgotten prisoners/Die vergessenen Gefangenen“ zur Bündelung der
Kräfte aufgerufen:
„Wenn
aber eine einzelne Person protestiert, bewirkt das nur wenig, aber
wenn es viele Leute gleichzeitig tun würden, könnte es einen
nachhaltigen Eindruck hinterlassen.“
Peter
Benenson (1921 – 2005)
Er
ist unserer Gruppe auch deswegen sympathisch, weil er später die
Entwicklung seiner Organisation (zu Recht oder zu Unrecht) aus
kritischer Distanz verfolgte, aber dennoch zum 25. Geburtstag von AI
in einer Londoner Kirche eine Kerze anzündete. Wir hingegen bleiben
auf Tuchfühlung, sagen aber auch nicht zu allen Beschlüssen Ja und
AMEN.
Kontaktadressen
und Kontonummer
Fritz
Weigl, Wallenburger Straße 28 d, 83714 Miesbach
Tel.:
08025/3895, Fax: 08025/998030,
Mail:fritz.weigl@gmx.de
Bernard
Brown, Carl-Weinberger-Str. 5, 83607 Holzkirchen
Tel.:
08024/3502,
Mail:bernard.brown@web.de
Homepage:
http://www.amnesty-miesbach.de
Bank
für Sozialwirtschaft (BfS) Köln, IBAN: DE 233 70 20 50 0000 80 90 100
Verwendungszweck:
Gruppe 1431 Miesbach (Gruppennummer unbedingt mit angeben)