50 Jahre Amnesty International (Landkreis) Miesbach
1. Einleitung
Ein Verein mit 50 Jahren auf dem Buckel – das grenzt ja schon fast an Trachtenverein und Freiwillige Feuerwehr! Ja, wir haben es geschafft: eine Menschenrechtsorganisation in einer oberbayrischen Kleinstadt/einem oberbayrischen Landkreis „feiert“ heuer ihren 50. Geburtstag. Es gibt sie also, ich hole meinen Taschenrechner, schon ein halbes Jahrhundert. Chapeau/Hut ab!
Nur mit dem Feiern ist es so eine Sache, dem steht einiges entgegen.
Ein unerwünschter Gratulant
Wein und Schokotorte sind bisher noch durchseucht, und zum Auspacken der Geschenke müssten wir Schutzkleidung anlegen. Wenn man auf die Bildersprache verzichtet, heißt das im Klartext: Unser (attraktives) Jahresprogramm steht unter Coronavorbehalt.
Und da ist auch noch die Weltlage, die es einem ergrauten AI’ler erschwert, die Polonäse Blankenese anzustimmen, damit sich „die Stimmung hebt und Freude aufkommt“. Verzeihung, jetzt ist der ausgefallene Fasching mit mir durchgegangen. Gehen wir lieber über zur Weltlage. Hier der
2. Jahresrückblick
Januar 2022
In Anlehnung an die Karikatur ein Spruch ins Stammbuch der Querdenker:
„Der Name ‚Menschenrechte‘ kann ohne Menschenpflichten
nicht genannt werden,
beide beziehen sich aufeinander.“
Johann Gottfried Herder
Ich fange mit der Meldung an, die wohl am weitesten vom deutschen Fasching/Karneval entfernt ist, denn ein Großteil der Täter war nicht als Priester verkleidet, es waren tatsächlich welche. Der Münchner Missbrauchsbericht verzeichnete für die Jahre 1945 bis 2019 235 mutmaßliche Täter, darunter 173 Priester, und unter denen wiederum 40 Kleriker, die nach Missbrauchsvorwürfen wieder in der Seelsorge eingesetzt wurden. Der Merkur sprach von einer „Bilanz des Schreckens, die so giftig war, dass der Generalvikar sie gar nicht erst berühren wollte“, sondern die Entgegennahme der schweren Bände der Amtschefin des Ordinariats überließ, was (möglicherweise) Mitglieder der Fraueninitiative Maria 2.0 dazu verleiten könnte, daran zu erinnern, dass für die Drecksarbeit in der katholischen Kirche wieder einmal die Frauen zuständig waren.
Gendergerechte Arbeitsteilung
Und dann kam auch noch der Mann ins Gerede, den Bild und Bayern schon am liebsten bei seinem Amtsantritt heiliggesprochen hätten: Ex-Papst Benedikt. Er machte nicht nur eine unbedarfte Differenzierung zwischen Exhibitionismus und Missbrauch „im eigentlichen Sinn“, sondern musste auch einräumen, dass er bei einer Sitzung zugegen war, wo man über einen Priester, der wegen einschlägiger Vergehen von Essen nach München weitergereicht worden war, gesprochen und (vermutlich) über seine Weiterverwendung in der Diözese München-Freising befunden hatte. Peter Gauweiler focht das „Versehen bei der redaktionellen Bearbeitung“ in seinem unerschütterlichen Glauben an die „Unfehlbarkeit“ des Ex-Papstes nicht weiter an. Er marschierte zu Benedikts Bronzerelief in der Frauenkirche und stellte dort „als Zeichen der Solidarität“ einen Blumenstrauß ab. Bei uns gibt’s statt Blumen eine bissige Karikatur.
Dann kam auch noch heraus, dass Laien, die im kirchlichen Dienst standen, für Missbrauchstaten strenger bestraft wurden als Priester, die ja, nach klerikalem Selbstverständnis, „durch die Weihe eine Seinsveränderung erlebt“ hatten. Da wurde offensichtlich „mit zweierlei Maß gemessen und entsprechend sanktioniert“.
Erschüttert hingegen war der Glaube bei vielen Katholiken, die „Schlange standen“, um aus der Kirche auszutreten. Für mich stellt sich die Frage nach dem „Kirchxit“ nicht: Ich habe dieser Gemeinschaft viel zu verdanken, und sie ist mir Heimat geblieben. Und, so habe ich schon einmal in einem Jahresbericht geschrieben, „die einzigen Körperkontakte, die ich mit Kaplänen in meiner Jugendzeit hatte, bestanden darin, dass wir uns gegenseitig beim Fußball gefoult haben“. Traurig macht mich nur, dass manchmal auch die Falschen gehen, die Engagierten, die wir für die Reform der Kirche so dringend nötig hätten.
Habe ich mich damit von einem AI-Bericht zu weit entfernt? Wenn Sie es meinen, kehre ich reumütig um. Es gibt auch andere
Konfliktherde
- Kasachstan: Ein Neuzugang, den man erst auf der Karte suchen muss. Aha, war früher Teil des Sowjetimperiums, dann wird wohl der Putin bei den Unruhen seine Hand im Spiel haben! Auslöser waren aber zunächst der Unmut über gestiegene Gaspreise, bald aber richtete sich der Protest auch gegen die autoritäre Staatsführung. Die Proteste waren zunächst friedlich, führten aber in der Hauptstadt Almaty auffallend schnell zu Gewalt. Dabei scheinen „Randalierer“ eine Rolle gespielt zu haben, die möglicherweise von den Geheimdiensten in die Demos eingeschleust wurden, um die Menschen aufzuheizen. Präsident Tokajew gab den Befehl „ohne Vorwarnung auf die Terroristen“ zu schießen, aber, Bürgerrechtlern zufolge, wurde „auf alle geschossen, egal, ob es Banditen oder friedliche Bürger waren“.
Im Nachhinein stellte sich heraus, dass der Protest dahingehend „instrumentalisiert“ worden war, um einen Machtkampf zwischen Tokajew und seinem Vorgänger Nasarbajew auszutragen. Es gab mehr als 250 Tote und 12 000 Festnahmen, darunter Regimekritiker und unabhängige Journalisten. Und Putin hat jetzt auch seinen Fuß in der Tür, denn die Unruhen wurden durch Soldaten des Militärbündnisses ODKB beendet, das unter Moskaus Führung steht.
- Sudan: Ministerpräsident Hamdok hat zum zweiten Mal sein Amt verloren. Im Oktober 2021 vom Militär weggeputscht, ist er diesmal freiwillig zurückgetreten, weil es ihm nicht gelang, die Macht der Militärs zu brechen und die Reformwünsche der Zivilbevölkerung zu erfüllen. Bei seinem Rücktritt sagte er:
„Ich habe mein Bestes versucht, das Land davon abzuhalten, in die Katastrophe abzugleiten.“
Mächtigster Mann im Sudan ist jetzt (wieder) der stellvertretende Vorsitzende des „Militärischen Übergangsrates“ Mohammed Daglo/Hemeti, den die SZ reichlich unfreundlich als „hauptberuflich Massenmörder, Genozidverbrecher, Vergewaltiger, Dieb, Lügner“ bezeichnet. „Ab nach Den Haag!“, kann man da nur noch sagen, aber wer so etwas im Sudan sagt, wird von Hemetis Privatmiliz ermordet.
- Afghanistan: Da mussten sich deutsche Ministerien von einem UN-Bericht sagen lassen, dass sie mit ihrer Einschätzung der Sicherheitslage für in Afghanistan verbliebene „Ortskräfte“ etwas daneben lagen. Während dem Bundesentwicklungsministerium „nur ein konkreter Fall bekannt war, bei dem eine Ortskraft für eine Woche inhaftiert wurde“, sprach der UN-Bericht von mehr als hundert ehemaligen Regierungsmitarbeitern und Ortskräften, die „außergerichtlich getötet“ wurden oder „gewaltsam verschwunden“ sind. Ob die deutsche Regierung bei ihrer Einschätzung zum Ausdruck bringen wollte, dass man sich bei der Evakuierung von schutzbedürftigen Menschen gar nicht soo beeilen müsse?
Auch in anderen Bereichen lassen die Taliban, wie zu erwarten war, „die Hosen runter“, bzw. das, was sie unter der Kurta tragen. Die Textilmetapher passt gut zu der Vorschrift, dass Modegeschäfte aufgefordert wurden, Schaufensterpuppen zunächst einmal zu enthaupten und dann zu entsorgen.
Unislamische Götzenbilder, noch intakt
Und im Februar erging eine Verfügung, die weiblichen Regierungsangestellten verordnete, den Hidschab zu tragen. Dann folgt der Kleiderwechsel zur Burka/zum Tschadori, und dann löst sich das Problem von selbst – weil es keine weiblichen Regierungsangestellten mehr gibt. Das Burka-Gebot erfolgte dann im Mai. Alle Frauen, die „nicht zu alt (80 aufwärts?) oder zu jung (3 abwärts?) sind“, müssen in der Öffentlichkeit einen Ganzkörperschleier tragen, um „Provokationen“ bei der Begegnung mit fremden Männern zu vermeiden. Die Taliban müssen geile Böcke sein.
- China: Kein Neuzugang, eher Dauergast. Über die Provinz Xinjiang, je nach Sichtweise die Region mit der höchsten Dichte an „Berufsbildungszentren“ oder das „größte Freiluftgefängnis der Welt“, ist jetzt ein Buch unter dem Titel „China-Protokolle“ erschienen, das die Provinz, entgegen dem Regierungsjargon, nicht als „guten Ort“ erscheinen lässt. In die „Berufsbildungszentren“ wird man ohne Angaben von Gründen eingeliefert und einer Gehirnwäsche unterzogen. Frauen sind Freiwild, Folter ist gängige Praxis. Das Überwachungssystem im öffentlichen Leben ist perfekt: An den Eingängen zu den Supermärkten sind Kameras mit einer Software ausgestattet, die es ermöglicht, Kunden nach „Rassen“ zu unterscheiden – wohl damit man vermeiden kann, dass Uiguren höherwertige Lebensmittel einkaufen. Beschrieben wird auch, und Details möchte ich Ihnen ersparen, wie man bei der illegalen Entnahme von menschlichen Organen verfährt. Da bedient man sich als Probanden neben den Uiguren und buddhistischen Falun-Gong Anhängern auch Christen der chinesischen Hauskirchen.
„Randnotizen“
- In einem Leserbrief des AI-Journals beklagt sich eine Leserin, dass sich die deutsche AI-Sektion „nicht klar genug gegen die AfD positioniert“. Wir als Gruppe sind eher gegen Mandatserweiterungen dieser Art, sind aber auch der Meinung, dass der Verfassungsschutz diese Partei beobachten sollte – und zwar genauer, als der damalige Innenminister Horst Seehofer verfügt hat, als er ein Gutachten der Behörde, in dem man sich klar für eine Beobachtung entschieden hatte, „deutlich abschwächen“ ließ. So wäre beispielsweise, ich spitze etwas zu, die Ablehnung von Zuwanderern nicht verfassungsfeindlich, wenn man von edlen Motiven wie der Bewahrung von „nationaler kultureller Identität, Brauchtum und Sprache“ geleitet werde. Dazu die AfD: Tun wir doch!
- Auch die SZ macht sich Gedanken, ob wir mit den Rechten nicht zu freundlich umgehen. Unter dem Titel „Lehrer Höcke?“ kritisierte sie, dass einem Mann die Rückkehr in den Schuldienst offen stünde, für den sich die Demokratie „im letzten Degenerationsstadium“ befindet und der mit dem „System“ gleich noch alle „Kartellparteien“ abschaffen möchte. Nach dem Radikalenerlass von 1972 haben Briefträger ihren Job verloren, weil sie zu Treffen von Linksparteien gegangen sind.
- In München ist ein Urteil gegen den ehemaligen Stadtrat Karl Richter aufgehoben worden, der auf einem Flugblatt Bürgermeister und Stadtratskollegen, darunter auch den Juden Marian Offmann, als „Volksverräter“ bezeichnet hatte. Die Karikatur zeigte ein Münchner Kindl, das die Politiker mit dem Besen aus dem Rathaus herauskehrte. Auf ähnlichen Karikaturen hatten Nazis in Wien die Juden hinausgefegt. Der Richter der 2. Instanz soll die Karikatur als „eher witzig“ bezeichnet haben und den Bezug zur NS-Zeit als „weit hergeholt“. Er sprach Karl Richter frei. Die Staatsanwaltschaft will in Revision gehen. Wir gehen mit.
- Dazu passend eine Meldung aus Berg am Laim. In die gefrorenen Scheiben eines Autos wurden antisemitische Parolen („Judensau“) und ein Hakenkreuz eingeritzt. Die Polizei ermittelt, ob die Täter „gezielt“ beschmierten, denn der Halter des PKW ist jüdischen Glaubens. Wir setzen darauf, dass die Täter eher nicht zur Antifa gehören. Charlotte Knobloch, die Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde, macht der Stadt ein Kompliment mit Vorbehalt:
„München ist weiterhin eine sehr sichere Stadt, aber die Verunsicherung in der jüdischen Gemeinschaft wird eher größer als kleiner.“
- Beängstigend ist auch die „Welle des Hasses“, die über viele unserer Politiker hereinbricht. Ministerpräsident Söder hat einige dieser „Zusendungen“ öffentlich gemacht. Das Repertoire an Schimpfworten ist bei den Absendern unbegrenzt, ganz im Gegensatz zu ihrem Rechtschreibpotential. Es schreiben „meist Männer, über 50, oft alleinstehend und auf alles Mögliche wütend“. Was können da die Frauen tun? Den Ehemännern die Tablets wegsperren und die Junggesellen in eine straff geführte Beziehung zwingen? Würde allerdings die Wut auch nicht dämpfen.
An dieser Stelle ist es mir ein echtes Anliegen, eine staatstragende Bemerkung aus einem Artikel der SZ zu übernehmen. Da ist von einer „verbreiteten Anti-Stimmung in Deutschland gegen Politiker“ die Rede. Der Verfasser fährt fort:
„Diese Anti-Stimmung steht im Kontrast dazu, dass Deutschland im Großen und Ganzen seit Dekaden passabel regiert wird – besser als die meisten Länder der Welt jedenfalls.“
AI-Nachrichten – die uns wütend machen
- Saudi-Arabien will zwei Exil-Uiguren nach China ausliefern. Die beiden Männer, die im Exil in Istanbul leben, waren auf dem Hadsch in Mekka. Einer von ihnen, Hemdullah Abduweli, hielt vor der uigurischen Gemeinde in Riad eine Rede, in der er zum Kampf gegen die „chinesischen Invasoren“ aufrief. Das chinesische Konsulat hatte davon Wind bekommen, Abduweli musste sich verstecken, wurde von den Saudis gefasst und inhaftiert. Jetzt drohen ihm und seinen Pilgerfreund die Auslieferung nach China. Beide Länder arbeiten nämlich an ihren Beziehungen - Saudi-Arabien liefert Erdöl, China Raketenbauteile -, und da ist eine Überstellung von „Terroristen“ eine willkommene Morgengabe. Im März verschwanden sie – wohin auch immer.
- Im Iran ist die französisch-iranische Anthropologin Fariba Adelkhah aus dem Hausarrest heraus erneut in Haft genommen worden. Sie war 2020 wegen „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ und „Verbreitung regimefeindlicher Propaganda“, die üblichen Blockbausteine der iranischen Justiz, zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Die Entnahme aus dem Hausarrest erfolgte ohne Vorankündigung oder Begründung, doch scheint der Iran etwas „verstimmt“ zu sein, weil Frankreich den Verlauf der Wiener Gespräche über das iranische Atomprogramm kritisiert hatte. Deshalb – „Ab in die verschärfte Geiselhaft!“
- Mit der Verurteilung des russischen Menschenrechtlers Jurij Dmitrijew zu
15 Jahren Lagerhaft schlug man gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Zum einen konnte man zeigen, welch zweifelhafte Figuren die inzwischen aufgelöste MR-Organisation Memorial beherbergt hatte, zum anderen war ein Mann auf lange Dauer aus dem Weg, der mit seinen Ausgrabungsarbeiten das Antlitz von Väterchen Stalin beschmutzt hatte. Und so etwas kann Putin auf seinem Marsch zurück ins Sowjetimperium gar nicht gebrauchen. Dimitrijew hatte die Überreste von Opfern des „Großen Terrors“ der 1930er Jahre ausgegraben, als Stalin sich vermeintlicher Gegner entledigte. Verurteilt wurde er aber wegen Nacktfotos von seiner Adoptivtochter, mit denen er, nach eigenen Aussagen, die Entwicklung des Kindes, das er unterernährt aus einem Heim geholt hatte, dokumentieren wollte. Gutachter der 1. Instanz hatten den Vorwurf der Pornografie zurückgewiesen. Den Anklagepunkt „Missbrauch“ sattelte man später drauf, weil man die 15 Jahre etwas „unterfüttern“ musste.
- „Wer über Menschenrechte redet, darf zu Guantánamo nicht schweigen“. So begann ein Essay über das US-Gefängnis auf Kuba, das vor 20 Jahren eröffnet wurde und dessen fortdauernde Existenz und die dort angewandten Praktiken den USA zu Recht um die Ohren gehauen werden. In Guantánamo wurde die Folter in der westlichen Welt wieder „hoffähig“ gemacht, wurde Inhaftierung ohne Rechtsgrundlage praktiziert, wurde das Recht auf ein faires Verfahren verweigert, wurden Anwälte, die Mandate der Terrorverdächtigen übernahmen, beschimpft und bedroht. Biden sollte das Versprechen, das Lager zu schließen, das Obama schon bei seinem Amtsantritt gegeben hat, endlich einlösen, denn wenn Trump wieder ans Ruder kommt, werden die verbliebenen 39 Häftlinge dort vermodern. Bei Trump können nur die Kapitol-Angreifer auf Gnade hoffen.
- Der Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed, seines Zeichens Ministerpräsident von Äthiopien, ist 2021 eher als Kriegstreiber aufgefallen. Umso mehr freut es uns, dass er als Geste der Versöhnung die Freilassung politischer Gefangener ankündigte. Es sollen sogar prominente Mitglieder der Volksbefreiungsfront von Tigray darunter sein, die sich derzeit im Bürgerkrieg auf dem Rückzug befindet. Hoffen wir, dass die Freilassung nicht nur der „Barmherzigkeit des (vorläufigen) Siegers“ geschuldet ist, sondern tatsächlich zu einer „dauerhaften Lösung der Probleme Äthiopiens“ führt. Dann kann Ahmed von uns aus auch den Friedensnobelpreis behalten.
Zu früh gefreut! Im März kam es zum Waffenstillstand, der aber nur fünf Monate hielt. Seit August wird wieder gekämpft – und gehungert, aber die Welt schaut weg. Die ist beschäftigt mit der Ukraine und den steigenden Rohstoffpreisen.
- Zum Schluss eine (halbwegs) gute Nachricht aus – Afghanistan! Dort hatte Professor Faisullah Dschalal in einer Fernsehdebatte das Taliban-Regime „in einem wortgewaltigen Rundumschlag“ kritisiert“ und deren Sprecher als „Kalb“ bezeichnet. Das Wort ist in Afghanistan eine schwere Beleidigung und brachte dem mutigen Herrn eine viertägige Haft ein, weil er „das Volk gegen das System aufwiegeln wollte“.
Der „Stier“ von Kabul
Was in Zukunft mit ihm und seiner Frau passieren wird, die schon einmal die Dreistigkeit besaß, für das Amt des Staatspräsidenten zu kandidieren, möchten wir lieber nicht so genau wissen. Letzte Nachricht: Dschalal lebt heute in Deutschland.
Die Prügelknaben der „Spaziergänger“
Wenn man derzeit am Montagabend durch das Zentrum von Miesbach geht, kommt einem unweigerlich ein großer und gut gelaunter Haufen von „Spaziergängern“ entgegen. Sie schauen zwar etwas überrascht, weil da einer in die falsche Richtung geht, pöbeln einen aber auch nicht an. Auch die Polizei scheint, von einem Montag im Dezember einmal abgesehen, leichtes Spiel zu haben.
- Das ist nicht immer und überall so. In München sind bei manchen Kundgebungen die Polizisten „zum Gegner mutiert“, müssen sich absurde Beleidigungen wie „Volksverräter, Paramilitärs, Psychosöldner“ und Vergleiche mit der SA gefallen lassen, werden gelegentlich direkt angehustet, weil es Corona ja gar nicht gibt.
- Auch Journalisten und Fotoreportern geht es manchmal nicht besser. In Dresden hat man eine Organisation gegründet, die ehrenamtliche Begleitschützer für Journalisten ausbildet, damit diese „ihre 30 Sekunden zur Flucht haben“. Es sind v.a. die Demos von Pandemieleugnern, die für Pressevertreter ein heißes Pflaster sind. Journalisten berichten von Spuck- und Wurfattacken, von Gesten wie „Kehle aufschlitzen“, von beiläufigen Schlägen im Vorübergehen. In Sachsen führten sie auch Klagen über die Untätigkeit der Polizei, die „bei sich anbahnenden Übergriffen gegen Einzelpersonen meist nicht reagieren“.
- Besonders infam reagierten Impfgegner in Markt Schwaben. Clown Pippo wollte dort eine Impfaktion der Gemeinde unterstützen und mit seinem Auftritt die Wartezeit verkürzen. Das führte zu einigen bösen Mails an Bürgermeister und Clown. Pippo wurde als „Rattenfänger von Markt Schwaben“ verteufelt, der Bürgermeister zog es vor, den Auftritt (aber nicht die Impfaktion) abzusagen, weil er Angst hatte, es könne (wie schon einmal) zu Anfeindungen und Handgreiflichkeiten kommen.
Erfolgsmeldungen
- Der EuGH für Menschenrechte hat die Türkei wegen der Inhaftierung des deutschen Journalisten Denis Yücel verurteilt. Es ist eine Entschädigungszahlung in Höhe von 13 300 € zu leisten. Das entspricht bei einer Untersuchungshaft von einem Jahr einem Tagessatz von etwas über 36 €. Wenn er die schon hätte! Einen Freispruch nach vier Jahren, acht Monaten und zwanzig Tagen erreichte die deutsche Journalistin Mesale Tolu. Ihr Prozess wurde „wie Kaugummi“ in die Länge gezogen, an manchen Verfahrenstagen vertagte sich das Gericht nach wenigen Minuten – um weitere sechs Monate. Für Mesale kein Grund zum Feiern, denn am Tag ihres Freispruchs ging der Prozess gegen Osman Kavala weiter.
- In Polen sind die katholischen Bischöfe in einen Shitstorm geraten. Sie sind in ihrer Mehrheit zuverlässig auf der Seite der Regierung, haben aber im Dezember gegen das gnadenlose Vorgehen der Grenzer gegen die Flüchtlinge aus Belarus protestiert und einem staatlichen Sender vorgeworfen, er schüre „Angst vor den Fremden“. Dann aber entlud sich der Volkszorn, und die Angriffe kamen nicht nur aus dem Lager der Nationalisten. Der katholische Sender Radio Marya forderte seine Hörer auf, Dankesbriefe an die Grenzschützer zu schicken und kommentierte den Appell der Bischöfe zur Nächstenliebe wie folgt:
„In jedem Migranten Jesus zu sehen, das bedeutet, sich an eine Modeströmung anzupassen.“
Wenn es eins gibt, werden sich Jesus samt seiner Mutter im Grabe umdrehen.
- Eine weitere Kehrtwendung ist aus Saudi-Arabien zu vermelden. In Medina wurde zum ersten Mal ein Mann gemäß der „Taschhir-Praxis“ öffentlich angeprangert. Er hatte sich einer Frau von hinten genähert, sie begrabscht und mit obszönen Worten verfolgt. Ihm drohen eine Geldstrafe in Höhe von 1200 € sowie acht Monate Haft. Die Zeitungen drucken seinen Namen ab, und er muss dafür bezahlen. In der saudischen Öffentlichkeit ist die Sensibilität beim Thema sexuelle Belästigung gewachsen. Bei einigen männlichen Usern wächst die Angst vor der Zukunft: Frauen am Steuer und auf der Straße vor Belästigung geschützt – wie soll denn das enden?
- Die Fernsehkorrespondentin Golineh Atai hat unter dem Titel „Iran – die Freiheit ist weiblich“ ein bemerkenswertes Buch geschrieben. Es handelt von der Unterdrückung der Frauen, ihrer täglichen Auseinandersetzung mit den Sicherheitskräften (Kleidervorschriften), ihrer Wut auf das Regime, aber auch ihre Enttäuschung über das Versagen der Reformer. Was aber alle porträtierten Frauen gemeinsam haben, ist der „unerschütterliche Glaube an die Möglichkeit zur Veränderung“, ein Glaube, der viele von ihnen ins Gefängnis gebracht hat. Die Familie von Golineh verließ den Iran schon im Jahr der Islamischen Revolution von 1979, aber ihr Buch endet mit dem Satz: „Eines Tages werde ich wieder im Iran sein.“ Goethe würde dazu sagen: „Den Wunsch, den hör‘ ich wohl, allein, mir fehlt der Glaube.“
- Und hier noch ein Märchen vom Flughafen in Kabul. Dort überreichte ein Afghane, Mirza Ali Ahmadi, der mit seiner Familie vor den Taliban flüchtete, in seiner Verzweiflung sein zwei Monate altes Baby Sohail einem US-Soldaten. Der Soldat war überfordert und legte das Baby ab. Es wurde von einem Taxifahrer gefunden, der es in seine Familie mitnahm. Nach einer monatelangen Suche, die von der Nachrichtenagentur Reuters organisiert wurde, fand man das Kind in der Familie des Taxifahrers. Der kassierte dann 950 Dollar, bevor er das Baby (widerwillig) dem Großvater Ahmadi überließ. Dass Sohail inzwischen bei seinen Eltern in Michigan ist, ist anzunehmen.
Freundliche Übernahme
Schluss
Am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus hielt Inge Auerbacher, die in Theresienstadt den Holocaust überlebte, eine bewegende Rede im Bundestag.
„Wir waren 15 000 Kinder in Theresienstadt und nur wenige sind am Leben geblieben, darunter war wie durch ein Wunder auch ich.“
Und dann erinnerte sie an eine Freundin, die das Lager nicht überlebte:
„Ruth, ich bin hier in Berlin, um dich zu besuchen.“
Am Ende hakten Präsident Steinmeier und Bundeskanzler Scholz Inge Auerbacher unter und begleiteten sie aus dem Saal.
Februar 2022
„Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
‘s ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!“
Matthias Claudius, Kriegslied
Der Angriff auf die Ukraine
Es ist nicht anzunehmen, dass Wladimir Putin dieses Kriegslied gelesen hat, denn dann hätte er sich auf Matthias Claudius berufen können, der auch, aber zu Recht, alle Schuld von sich gewiesen hat. Schuldig ist, nach Putin, die Ukraine selbst, die
- im Osten des Landes einen Völkermord veranstaltet
- von Nazis und Drogensüchtigen regiert wird
- nach atomarer Bewaffnung strebt
- eine Eigenstaatlichkeit vortäuscht, die es historisch nie gegeben hat.
Und überhaupt: Es ist ja gar kein Krieg oder eine Invasion, sondern eine „Spezialoperation“. Und bei einer solchen stirbt es sich planmäßig, und die Häuser bauen sich von selbst wieder auf. „Wladimir, du erzählst Lügen“, soll ihm Frankreichs Präsident Macron am Telefon gesagt haben. Und das Fazit aus dem Telefonat gezogen haben, dass Putin sich holen werde, was er sich vorgenommen hat.
Dazu passend, und ich hoffe, Sie vertragen es, ein Witz:
Schneewittchen, Herkules und der Baron von Münchhausen sitzen zusammen im Garten. Da meint Schneewittchen: ich geh mal rein und frage meinen Spiegel, ob ich noch die Schönste im Land bin.“ Sie kommt strahlend zurück, denn der Spiegel hat ihren Status als Schönste bestätigt.
(Auch Herkules genießt die Botschaft, dass er noch der Stärkste ist)
Da will es auch Münchhausen wissen, ob er noch der größte Lügner der Welt ist. Er geht zum Spiegel, kommt aber mit mürrischem Gesicht zurück, wischt sich eine Träne der Verzweiflung aus dem Auge und fragt die beiden anderen: „Wer zum Teufel sind Wladimir Putin und Sergej Lawrow?“
Was sich Putin vorgenommen hat, hätte man schon 2014 ahnen können.
Mein Schatten reicht bis zu meiner Villa in Spanien
Schon der Angriffskrieg als solcher fällt in das Mandat von Menschenrechtsorganisationen, aber es ist für sie auch angebracht, sich gewissermaßen die Bittermandeln herauszupicken. Da sind zum einen die Angriffe auf zivile Objekte (Kranken- und Wohnhäuser), die Verwendung von geächteten Waffen (Streumunition), zum anderen aber auch die Todeslisten, nach denen oppositionelle Ukrainer von russischen Geheimagenten gezielt ausgeschaltet werden. So wurde Wladimir Rybak, der frühere Polizeichef des Städtchen Horliwka/nördlich von Donezk, schon im Jahre 2014 ermordet, nachdem er versucht hatte, die Flagge der Separatisten einzuholen und durch die ukrainische Flagge zu ersetzen. Die Listen sollen daraufhin ergänzt worden sein, dass „Personen, die … den Widerstand gegen russische Einheiten organisieren könnten“, auszuschalten sind.
Nach Ex-Präsident Trump ist der russische Einmarsch (wie auch sonst alles) auf die gestohlene Wiederwahl vom November 2020 zurückzuführen. Er als Präsident hätte „Stärke“ gezeigt und amerikanische Truppen losgeschickt – aber wohl eher, um den „schlauen“ russischen Kollegen zu unterstützen. (Vorsicht Teilsatire!)
Bei uns im Westen herrscht eine Stimmung vor, die man als die „Solidarität der Hilfsbehinderten“ bezeichnen könnte. Zwar wurden, was einer „Zeitenwende“ gleichkommt, auch von Deutschland aus Waffen (und 5000 Helme!) geliefert, wurde einträchtig die unbürokratische Aufnahme von Flüchtlingen vereinbart, verstärkte man die NATO-Truppen in den Anrainerstaaten und fand man klare Worte gegen Putin und sein Lügengespinst, aber vor einem direkten Eingriff oder der Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine schreckten wir zurück. Wir waren, seien wir ehrlich, froh, dass die Ukraine (noch) nicht zur NATO gehört. Ich bin der Meinung, die Zurückhaltung des Westens ist wohl notwendig, um den Krieg nicht zu entgrenzen, aber ob das Gebet für den Frieden ausreicht, ist mehr als fraglich. Ich war trotzdem dabei.
Friedensgebet in Miesbach
Die Olympischen Spiele in Peking
Wer den Einmarsch in die Ukraine und die Reaktion der Demokratien wachen Auges verfolgen wird, ist Putins „guter Freund“ in Peking. Der wittert nämlich eine Blaupause für einen Angriff auf die „abtrünnige Provinz“ Taiwan.
Zwei „gute Freunde“ – bis in den Tod
Zunächst aber genoss Xi Jinping seine Spiele, die seinen Weltmachtsambitionen neue Nahrung verschafften. Immerhin war China das erste Land, das schon Sommer- und Winterspiele ausgerichtet hat. Das bisserl Naturzerstörung für die Sportstätten nahm er in Kauf, der „diplomatische Boykott“ durch die Politprominenz des Westens wurde durch die Anwesenheit von Kollegen aus dem autoritären Lager ausgeglichen.
In Publik-Forum wurden zwei bessere Möglichkeiten aufgezeigt, solchen Staaten die Spiele zu vermiesen:
- Hinfahren und auf die Missstände hinweisen - beispielsweise mit einer Taiwanflagge am Revers von Frank-Walter Steinmeiers Jackett.
- Gar nicht erst möglich machen – beispielsweise die Großsponsoren gegen das IOC in Stellung zu bringen, um die Vergabe zu steuern oder wenigstens Meinungsfreiheit während der Spiele zu gewährleisten.
Wie die Sache mit der Meinungsfreiheit gehandhabt wurde, zeigte sich bei einer Presserunde, bei der westliche Journalisten nach der Tennisspielerin Peng Shuai und nach den KZs für die Uiguren fragten, während ihr chinesischer Kollege lediglich fragen durfte, wie beliebt die Pekingente sei, die in den Athletendörfern serviert werde. Bei der Nennung von Peng Shuai sind wir nahtlos beim deutschen IOC-Chef Thomas Bach gelandet, der sich beim Treffen mit der Spielerin auf eine nette Plauderei beschränkte. Der Merkur kommentierte (ungewöhnlich) schonungslos:
„Bach macht sich weiter zur Marionette der chinesischen Staatspropaganda. Rückgrat vermisst man bei dem Funktionär schon länger. Aber nun scheint Bach den Tiefpunkt seiner Unterwürfigkeit gegenüber China erreicht zu haben.“
Der frühere Vizechef des IOC, Richard Pound, soll übrigens geäußert haben, er wisse gar nicht, ob in China überhaupt Menschenrechtsverletzungen stattfänden. Und ein Preis für ungewollte Ironie gebührt dem IOC-Sprecher Mark Adams, der auf einer Pressekonferenz die Frage nach Konzentrationslagern und Zwangsarbeit in Xinjiang so beantwortete:
„Wir (vom IOC) nehmen den Schutz der Menschenrechte sehr, sehr ernst – im Rahmen der Olympischen Spiele.“
Beide Funktionäre - ab nach Xinjiang!
Der Karikaturist der folgenden Zeichnung scheint auch vom IOC bezahlt worden sein.
Die Bilanz, die die beiden Regionalzeitungen ziehen, fällt irgendwie unterschiedlich aus. Der Merkur meinte, dass „das Schlimmste ausgeblieben sei“, für die SZ war „das moralische Konto vielleicht noch nie so tief im Minus“.
Zum Aschermittwoch hat die New York Times aus dem Bericht eines westlichen Geheimdienstes zitiert, dass es auf höherer Beamtenebene eine Absprache zwischen Moskau und Peking gegeben habe, erst nach Ende der Spiele in die Ukraine einzumarschieren. Wir stehen selbstverständlich hinter der Aussage der chinesischen Botschaft in Washington, dass das nur eine „grundlose Spekulation“ sei. (Vorsicht Satire!) Putin hat dann vier Tage gewartet. Immerhin!
Kurznachrichten - die aus Deutschland etwas länger
- Mit etwas Verspätung hat Mike Pence, Vizepräsident unter Trump, Rückgrat gezeigt, seine Entscheidung verteidigt, die Wahl nicht zu kippen und seinem Ex-Chef vorgehalten, er „liege falsch“. Trump nannte ihn daraufhin ein „Förderband“ der Demokraten, Trumps früherer Chefideologe Bannon drohte, Pence werde seinen Verrat mit „ins Grab“ nehmen.
- Im Schatten der Ukraine-Krise herrscht in Myanmar weiterhin „Bürgerkrieg“. Die ethnischen Rebellengruppen haben sich mit dem demokratischen Widerstand verbunden, und es soll zu zahlreichen Desertionen von Soldaten und Polizisten gekommen sein. Man organisiert „stille Streiks“, bei denen man nicht zur Arbeit oder zum Einkaufen geht und die Kinder nicht mehr zur Schule schickt. Die Generäle, „Gangster in gebügelten Uniformen“, schlagen mit voller Härte zurück, bombardieren die Rebellengebiete und zwingen die Menschen zur Flucht. In Thailand wurden an der Grenze neun Camps eingerichtet, mindestens 30 000 Menschen leben dort
„gestrandet im Nirgendwo, denn in Thailand will man sie nicht, und in die Heimat zurück können sie nicht, solange dort die Junta die Macht in Händen hält“.
Wegen der Gräueltaten an den Rohingyas warfen die USA im März dem Militär Myanmars Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor, die Chinesen taten das nicht.
- Während China gegenüber Taiwan auf seine Militärmacht setzt, hat es dem Rest der Welt gegenüber Milliarden versenkt, um einen Spitzenplatz als „soft-power Weltmacht“ der Kultur zu erreichen. Das Vorbild wäre da: Schon vor 200 Jahren sprachen die Anhänger des Konfuzius von einem „Mandat des Himmels“ unter einem „Herrscher, der nicht durch Zwang und Gewalt regiert, sondern durch Tugend und Menschlichkeit“ also Xi Jinping eben – nicht. Das Land hätte zwar eine Fülle von künstlerischen Talenten, aber die werden zensiert, gebrochen oder vor den Karren der Partei gespannt. Ein Beispiel ist der Regisseur Zhang Yimou, einst Erneuerer des chinesischen Kinos und Liebling der europäischen Kunstfilmfestivals. Derzeit dreht er einen Film über chinesische Scharfschützen im Koreakrieg.
- In Deutschland machten wieder einmal Rechtsextremisten und Hassprediger samt ihren Sympathisanten und Verharmlosern von sich reden. Nach dem Doppelmord an zwei Polizeibeamten in Kusel gab es Hunderte von Hassbotschaften wie
„Zwei Cops erschossen. Schön. Un nu? Werdens schon irgendwie verdient haben.“
- In Würzburg wurden die Ermittlungen gegen die rechtsextreme Splitterpartei „Der Dritte Weg“ eingestellt, die im September 2021 drei Strohpuppen mit Kunstblut beschmiert und nahe den Bildern der damaligen drei Kanzlerkandidaten platziert hatte. Da die Partei vorgab, damit an die tödliche Messerattacke eines Somaliers im Juni 2021 erinnern zu wollen, hielt ihr der Staatsanwalt zugute, man dürfe auch diese „nicht strafbare Deutungsmöglichkeit“ nicht ausschließen. Dass hinter den Bildern ein Transparent mit der Aufschrift „Reserviert für Volksverräter“ zu sehen war, wurde wohlwollend ignoriert.
- Und dabei war noch nicht einmal der AfD-Politiker Jens Maier im Juristenteam. Der Richter, der sich selbst als „kleiner Höcke“ bezeichnet hat, sucht wieder einen Job in der sächsischen Justiz, weil in Sachsen bei der Wahl von 2021 so viele AfD-Kandidaten Direktmandate gewonnen hatten, dass sogar Maiers 2. Platz auf der Landesliste nicht ausreichte, um ihn wieder in den Bundestag zu bugsieren. Im März wurden ihm bis auf weiteres die Amtsgeschäfte untersagt, im Dezember wurde er vom Richterdienstgericht in den Ruhestand geschickt.
- Und vor dem Landgericht Frankfurt begann der Prozess gegen „Sudel-Ede“, wie er sich selbst nannte, oder NSU 2.0, wie er seine jahrelange Drohbotschaftsserie unterzeichnete. Besudelt hat er v.a. weibliche Opfer, die Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz und die Parteichefin der Linken Janine Wissler und andere selbstbewusste und erfolgreiche Frauen. Die Beleidigungen, mit denen sie bedacht wurden, und die der Angeklagte Alexander M. als „Kleinkriminalität“ bezeichnete, wollen wir Ihnen ersparen, nicht aber die Tatsache, dass die Anklagebank möglicherweise zu dünn besetzt ist. Die Korrespondentin der SZ hat akribisch zusammengetragen, dass die Polizei in diesem Fall wohl nicht außen vor ist. Es gäbe einige Hinweise, dass der Frankfurter Polizeicomputer Informationen zu den Opfern und ihren Familien nicht „aus Versehen“ ausgespuckt hätte, sondern dass der Täter von einem Polizisten gezielt beliefert worden sei. Gegen ihn wurde bisher keine Anklage erhoben.
AI-Meldungen
- Verschwindenlassen: Im Irak sind in den letzten 40 Jahren mindestens
250 000 Menschen entführt worden und spurlos verschwunden. Die Praxis des Verschwindenlassens gehört gewissermaßen zur „Landesgeschichte“ und hat das Regime von Saddam Hussein und die Herrschaft des IS unbeschadet überstanden. An der Aufklärung hat der Staat wenig Interesse, weil er „selbst meist involviert ist in das Verschwinden“.
- Pressefreiheit: In Mexiko wurden allein im Januar vier Journalisten ermordet. Damit könnte 2022 für Medienvertreter „das tödlichste Jahre der Geschichte werden“. Die Gründe für die Gewalt liegen im Drogenkrieg und in der Allgegenwart der Korruption. Dazu kommen die Tiraden des Präsidenten gegen kritische Journalisten und die unzulängliche Ausstattung des staatlichen Schutzprogramms. Die Journalisten wehren sich so gut es geht. Angesichts der jüngsten Mordwelle gab es landesweite Proteste, man verzichtet auf Namensnennung unter den Artikeln, man betreibt Selbstzensur – oder geht gleich ins Exil.
Journalismus in Mexiko – ein tödliches Metier
- Todesstrafe: In Pakistan wurde ein Mann zum Tod durch Erhängen verurteilt. Er hatte eine Frau gequält und umgebracht, weil sie seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte. Opfer und Täter entstammten beide der High Society von Islamabad. In ärmeren Kreisen schrecken Frauen (und deren Familien) häufig davor zurück, Fälle von Gewalt anzuzeigen. Human Rights Watch geht von etwa 1000 Fällen im Jahr aus, wo Frauen bei Ehrenmorden getötet werden. Die Verurteilungsquote liegt zwischen ein und 2,5 Prozent. AI ist gegen die Todesstrafe, aber auch gegen allzu großzügige Strafverkürzung. In diesem Monat wurde ein Mann entlassen, der zu lebenslänglich verurteilt worden war. Er hatte nur sechs Jahre verbüßt. Seine Schwester, die er wegen „freizügigem Posieren in den sozialen Netzwerken“ umgebracht hatte, ist auf Dauer tot.
- AI-Report zu Israel: Die Breitseite auf uns selbst haben wir uns für den Schluss aufgehoben. AI hat es geschafft, in einem Leitartikel der SZ zu landen, der sich mit Antisemitismus befasste. Grund war ein AI-Bericht aus der Londoner Zentrale mit dem Titel „Israels Apartheid gegen die Palästinenser“. Anklagepunkte des Reports: Vertreibungen von Palästinensern, israelische Landnahmen, Judaisierung von Ostjerusalem, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Palästinensern durch den Grenzwall und die Checkpoints. Die Reaktion kam prompt: Das Papier zeuge von „purem Antisemitismus“, sei einseitig, missbrauche den Begriff „Apartheid“ und sei Wasser auf die Mühlen der echten Antisemiten in Europa.
Der Grenzwall
Der Vorstand der deutschen Sektion hat im wahrsten Sinne des Wortes zunächst zurückhaltend reagiert und sich entschieden, den Bericht nicht an die Öffentlichkeit zu tragen und keine Aktivitäten dazu zu planen und durchzuführen. In einer späteren Stellungnahme wird der Vorwurf des Antisemitismus zurückgewiesen, und die Verwendung des Begriffs Apartheid gerechtfertigt. Es wird ausdrücklich kein Vergleich mit dem Südafrika der 1980er Jahre gezogen, aber klar herausgestellt, dass Verstöße, die unter diesem System begangen wurden und nach Völkerrecht unter Strafe stehen, auch in Israel vorkommen. AI weist auch darauf hin, dass israelische Menschenrechtsorganisationen diesen Begriff in Bezug auf Maßnahmen israelischer Behörden ebenfalls verwendet haben.
Für mich macht es durchaus Sinn, in Deutschland mit Kritik an Israel zurückhaltend zu sein. Wir werden uns stellen, wenn wir angesprochen werden, darauf verweisen, dass AI auch das Verhalten der Hamas im Gazastreifen und der Palästinenserbehörde im Westjordanland kritisiert, aber den Bericht sicher nicht zum Hauptthema eines Infostandes machen.
Erfolgsmeldungen oder Lichtblicke aus dem Schattenreich
- Als „letzten Optimisten Israels“ hat man Uri Ashi bezeichnet, der seit 2015 jeden Freitag auf einer Brücke in Tel Aviv steht und für Frieden mit den Palästinensern wirbt. Ein angenehmer Aufenthaltsort ist das nicht immer. Er wird ständig als „Peacenik“ verspottet, beschimpft und auch einmal bespuckt, und ein rechter Rapper hat ein Video ins Netz gestellt, mit der Aufforderung, doch endlich von der Brücke zu springen. Früher selbst ein Rechter, wurde er auf einem Friedensseminar umgedreht. Er entdeckte, dass es für jedes Problem in diesem Konflikt längst einen Lösungsvorschlag gibt. Was fehlt, ist der Wille zur Umsetzung. Deshalb hat er ein Buch geschrieben mit dem Untertitel: „Der illustrierte Führer zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts.“ Die Bilder wird er für die Politiker eingefügt haben, damit sie den Sachverhalt besser verstehen.
- Das französische Parlament hat in einer Resolution den Genozid an den Uiguren angeprangert. Es gab nur fünf Enthaltungen und eine Gegenstimme. Die kam wohl von einem von Peking bezahlten „Wolfskrieger“. Die Abstimmung erfolgte kurz vor den Olympischen Spielen. Deswegen hätten wir gar nichts dagegen gehabt, wenn Frankreich im Nationenspiegel weiter vorne gelandet wäre.
- Ungewöhnliche Worte zum Erbrecht von Muslimas kamen von Ahmed al Tayyeb, dem Großscheich von Kairo. Er „wiederbelebte“ ein Rechtsgutachten/Fatwa des
7. Jahrhunderts mit dem Namen „Die Mühe und das Streben der Frauen“. In einem Erbstreit erbte eine Frau damals drei Viertel des Vermögens, weil sie mit ihrem Mann zusammen ein Geschäft betrieben hatte. Der Großscheich wies darauf hin, dass es immer mehr berufstätige Frauen gibt, die das Vermögen ihres Mannes mehren und warb mit aller Vorsicht auf eine schnelle Anpassung der Gesetze.
- Die Zahl der strafrechtlich erfassten Angriffe auf Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte ist 2021 weiter zurückgegangen. Es wurden 1254 (meist rechtsmotivierte) Straftaten erfasst, im Jahre 2016 waren es auf dem Höhepunkt 3500. Ähnlich hoch wie 2020 blieb allerdings die Zahl der massiven Gewalttaten.
- Einen spektakulären Sieg erzielte die grüne Politikerin Renate Künast in Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht wertete Posts wie, sie habe einen „Dachschaden“ und sei „hohl wie Schnittlauch“, um nur die harmloseren Beiträge zu nennen, als strafbare Beleidigungen und wies den Fall zur neuerlichen Prüfung an das Berliner Kammergericht zurück, das die Schwelle für Beleidigungen viel zu hoch angesetzt hatte. Das Urteil von Karlsruhe bedeutet eine deutliche „Akzentverschiebung“ in der Rechtsprechung hin zu einem stärkeren Persönlichkeitsschutz für Politiker/innen und ermöglicht es ihnen, von den Netzwerken die Daten von Hetzern zu erfragen und diese dahin zu bringen, wo sie hingehören – vor Gericht.
Beschließen wir den Monat mit einer Karikatur, deren Aussagekraft nur vorläufig ist. Unbestritten ist die Massivität des Angriffs, aber die Reaktion Europas und der USA ging deutlich über den Einsatz von Nudelwoigler/Nudelholz und Hacklstecka/Krückstock hinaus. Es bleibt abzuwarten, ob die beachtlichen Hörner des Europastiers, zusammen mit der Widerstandskraft der tapferen Ukrainer, die Panzer stoppen können.
Prognose derzeit unbestimmt
März 2022
„Steht nicht, Brüder so herum
Mit verschränkten Händen.
Steht nicht, Brüder, löscht das Feuer:
Unser Schtetl brennt.“
Mordechaj Gebirtig
Diese Zeilen eines jiddischen Volksdichters, der 1942 von einem deutschen Soldaten im Ghetto von Krakau auf der Straße erschossen wurde, habe ich am Monatsanfang geschrieben. Da stand fest, dass das “Schtetl“/die Ukraine brennt, dass die Ukrainer selbst ganz und gar nicht „mit verschränkten Händen herumstehen“, aber es stand nicht fest, ob „das Feuer gelöscht“ werden konnte, und auf wessen Kosten.
Eines der ersten Bilder vom Krieg
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine
Anfang März kam die Diskussion in Gang, die an den Raubritter Eppelein von Geilingen erinnert, dem die Flucht aus der Burg von Nürnberg gelang, was den Nürnbergern viel Spott und ein bekanntes Zitat einbrachte:
„Die Nürnberger hängen keinen – sie hätten ihn den zuvor.“
Könnte es passieren, dass Putin und Konsorten einmal vor dem IStGH in Den Haag landen könnten? Eine Strafverfolgung wegen „Angriffskrieg“ wäre derzeit eher schwierig, da beide Staaten sich der Rechtssprechung des Gerichts unterwerfen müssten. Die Reaktion Russlands kann man sich vorstellen. Einfacher wäre es beim Delikt des „Kriegsverbrechens“: Da genügt es schon, wenn eine Seite die Jurisdiktion des Strafgerichtshofs anerkennen würde, und das tut die Ukraine.
Die Fassadenmalerei in Barcelona mag ein (un)frommer Wunsch sein – und vielleicht auf ewig bleiben,
Jetzt haben sie ihn.
aber den Eppelein haben die Nürnberger später auch erwischt und sehr unsanft zu Tode gebracht. Für Putin hat das der amerikanische Senator Lindsey Graham auch gefordert, der im Sender Fox News, wo denn sonst, an die Russen appelliert hat, „diesen Typen aus dem Weg zu schaffen“. Wir sind natürlich für Den Haag.
An den Kriegsverbrechen würde es der Anklage nicht fehlen:
- Anfang März wurden in Tschernihiw 47 Menschen getötet, die zur Essensausgabe Schlange standen. Eine junge Frau wurde Zeugin dieses Anschlags:
„Wir wollten zu dem Gebäude gehen, aber meine Eltern meinten, die Schlange wäre zu lang, und wir gingen fort. … Die Leute, die in dieser Schlange standen, gibt es nicht mehr.“
- Auf Mariupol sind die russischen Bomber gleich zweimal auf die zivile Infrastruktur los gegangen. Das erste Ziel war eine Geburtsklinik, wo, Berichten zufolge, „Frauen in den Wehen unter den Trümmern begraben“ worden seien. Und eine Woche später war das Theater und sein Luftschutzkeller an der Reihe, ein Angriff, der mutmaßlich 300 Menschen das Leben kostete. Auf den Platz rund um das Theater hatte man das Wort „Kinder“ gemalt, aber die „dumb bombs“/ungelenkte Fliegerbomben können nicht lesen. Und außerdem, so das russische Verteidigungsministerium, greifen die russischen Streitkräfte sowieso keine Städte an.
Ein „seltsamer Heiliger“ ist der orthodoxe Patriarch Kyrill I., der im Namen Putins die Waffen segnet, damit die russischen Soldaten die traditionellen Werte und die Einheit der „Russischen Welt“ gegen die Irrläufer in der Ukraine, gegen äußere Feinde und gegen die „Mächte der Sünde“/Homosexuelle und Feministinnen, verteidigen können – in „evangelischer Nächstenliebe“ und getreu den „hohen moralischen Werten der Wahrheit und Güte“. Diese mit theologischem Schwachsinn untermauerte Kriegstreiberei ist auch russischen Priestern aufgestoßen. Mehrere Hundert von ihnen haben einen Friedensappell unterzeichnet, der zu einem sofortigen Waffenstillstand aufruft und das Recht der Ukraine auf Selbstbestimmung betont. Kyrill soll in jungen Jahren Mitarbeiter des damaligen Geheimdienstes KGB gewesen sein. Und einem (Ex)Kollegen tut man doch gerne einen kleinen Gefallen!
Kollateralschäden an
- der Wahrheit: Ein Video erzählte die Geschichte des Buben David, 16 Jahre, russische Wurzeln und „ein lang ersehntes Wunschkind“. Er soll in Euskirchen/NRW von ukrainischen Flüchtlingen totgeprügelt worden sein, weil er ihnen seine Hilfe auf Russisch anbot. Fake 2.0! Die Frau, die im Video unter Tränen die Geschichte erzählte, berief sich auf Hörensagen und bat um Entschuldigung. Auf ukrainischer Seite gab es Berichte, dass einige von Putins Getreuen beginnen, sich von ihm abzusetzen. Aber der spricht sowieso nur noch mit seinem langen Tisch!
- russischstämmigen Menschen in Deutschland: Neben einer Fülle von Fake-Nachrichten gibt es auch Berichte über Übergriffe, die tatsächlich stattgefunden haben. In einer russisch-orthodoxen Kirche in Berlin wurden Fenster eingeworfen, Passanten wurden angepöbelt, wenn sie russisch sprachen, Kinder in der Schule gemobbt. Andererseits gab es unter dem Deckmantel „Protest gegen Diskriminierung“ in einigen Städten Autokorsos der russischsprachigen Bevölkerung, wo der „Protest gegen Diskriminierung“ oft nur ein Vorwand war, um lautstark den Krieg gegen die Ukraine zu unterstützen.
- ukrainischen Flüchtlingen in Deutschland: Wenn man Überschriften wie „Gefahren für Frauen auf der Flucht“ oder „Dubiose Angebote“ liest und erfährt, dass damit die unseriösen Annährungsversuche von Zuhältern und Sexualstraftätern an geflüchtete Ukrainerinnen gemeint sind, dann kann man schon leicht zu der Meinung kommen, dass es keine menschliche Bosheit gibt, die (manche) Menschen nicht noch toppen können. Es begann mit der (mutmaßlichen) Vergewaltigung einer Ukrainerin durchzwei (afrikanische) Flüchtlinge in Düsseldorf und setzt sich auf Bahnhöfen und vor Ausländerbehörden fort. Da tauchen dann bei den ehrenamtlichen Helfern Männer auf, die alleinstehende Frauen bei sich aufnehmen möchten - und erhalten von der Polizei, die inzwischen mit „massiver Präsenz“ vertreten ist, den Platzverweis. Das Problem gibt es auch in Polen. Haarsträubend das Interview, in dem zwei Frauen einer Menschenrechtsorganisation die Angebote der Menschenhändler beschrieben und erläuterten, wie sie die ankommenden Frauen beraten und ihnen helfen, mit diesen „Angeboten“ umzugehen.
Kollateral, aber ohne Schaden, ereignen sich auch erfreuliche Dinge. Die Kriegsflüchtlinge werden überwiegend freundlich aufgenommen, Menschen machen Wohnraum frei oder haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie keinen frei machen können, Russen und Ukrainer feiern in München einen gemeinsamen Gottesdienst, „Lokalmatadore“ organisieren in Schliersee ein Solidaritätstreffen mit der Ukraine mit 500 Teilnehmern.
Die Initiatoren
Kurznachrichten – weiter stimmungsdämpfend
Afghanistan: Die Taliban zeigen, was für sie die Frauenrechte „im Rahmen des islamischen Rechts“ bedeuten: kein Schulbesuch mehr für Mädchen nach der 7. Klasse. Und Recht haben sie ja – wenn man ein Talib ist, denn, auch die SZ meint:
„Bildung bedeutet Aufklärung. Aufklärung bedeutet die Fähigkeit zum kritischen Denken. Und je mehr Schülerinnen in Afghanistan das kritische Denken lernen, desto mehr werden sie die Taliban-Regierung in Frage stellen.“
Gott sei Dank, haben die 16 Außenministerinnen der „Münchner Gruppe“ ihre Schulbildung bis zum Stadium des kritischen Denkens abschließen können. In einer Erklärung fordern sie für Mädchen den Zugang zu weiterführenden Schulen – und knüpfen daran die Bedingung, dass sich nur so der Geldhahn öffnen lässt.
Im Dezember hat man einen Talib gefragt, ob er seine eigene Tochter trotz dieses Schulverbots auf eine Schule im Ausland schicke. Der Mann rang um Worte, dann bejahte er die Frage.
Saudi-Arabien: Gleich zwei Rekorde auf einmal brach die Justiz der Golfmonarchie, als sie an einem Samstag gleich 81 Menschen hinrichtete. Damit wurden im Jahr 2022 bereits mehr Menschen hingerichtet, als in den beiden Vorjahren. Man traut sich gar nicht, eine Hochrechnung für die nächsten neun Monate anzustellen. Unter den Hingerichteten waren (angeblich) Mörder und Vergewaltiger, aber offensichtlich kam auch das Antiterrorgesetz zur Anwendung – und die Hälfte der Opfer waren Schiiten, die ja bekanntlich auf Grund ihrer Religion überwiegend Mörder und Vergewaltiger sind. (Vorsicht Satire!)
Singapur: Das Land hat zum ersten Mal seit 2019 wieder einen Menschen hingerichtet. Sein Vergehen: Drogenhandel. Einen Tag zuvor wurde der Einspruch eines anderen Drogenhändlers abgewiesen. Die Hinrichtung kann jeden Tag erfolgen, obwohl der Mann geistig behindert ist.
USA: Die Hinrichtung bleibt einem möglicherweise auch nicht erspart, wenn man Mutter von 14 Kindern ist. Melissa Lucio soll am 27. April in Texas hingerichtet werden, weil sie im Jahre 2007 ihre zweijährige Tochter vorsätzlich die Treppe hinuntergestürzt haben soll. Melissa beteuert weiterhin ihre Unschuld, und es gab mehr als unschöne Szenen bei ihren Verhören. Eine Rechtsprofessorin bezeichnete die Anklage als „bei weitem der schwächste Fall für einen Kapitalmord, den ich kenne“.
48 Stunden vor der Hinrichtung wurde der Vollzug ausgesetzt. Es sollen neue Beweise für ihre Unschuld geprüft werden. Ihre Chancen auf einen Freispruch „stehen rein statistisch nicht sehr gut“, aber im April wurde die Hinrichtung (zunächst) aufgeschoben.
Russland: Der Kreml-Kritiker Nawalny wird systematisch vernichtet. Den (vorerst) letzten Prozess hat man ihm, um Transportkosten zu vermeiden oder weil eine Entlassung sowieso nicht zur Debatte stand, gleich in der Strafkolonie gemacht. Wegen Betrugs, genauer „Diebstahl von fremdem Eigentum durch eine organisierte Gruppe“ – ein Delikt, das bei der Kreml-Elite verbreitet ist, aber eher straffrei bleibt -, und Beleidigung einer Richterin („die gewissenloseste Richterin der Welt“) wurde er zu weiteren neun Jahren Haft verurteilt, abzusitzen in einer Strafkolonie unter verschärften Bedingungen.
Landkreis Miesbach: Das Jugendamt des Landkreises hat nach einer Anfrage der SPD-Kreistagsfraktion bestätigt, dass auch im Landkreis Miesbach die Zahl der „Kindswohlgefährdungen“ stark zugenommen hat. Ob das der Pandemie zuzuschreiben ist – „Home Office + Kinderbetreuung + Home Schooling + Covid“ -, oder ob es sich um einen langfristigen und bundesweiten Trend handelt, ist nicht ausgemacht – und wird den betroffenen Kindern wohl auch ziemlich egal sein. Alarmierend ist jedenfalls die Zahl der „Inobhutnahmen“, die sich inzwischen auf 10 bis 20 Fälle pro Jahr beläuft. Der bürokratische Begriff bedeutet, dass die Kinder ihren Familien „entnommen“ werden (müssen).
Meldungen – von moderat aufhellend bis erfolgsträchtig
Ausschluss: Die Paralympics in Peking wären fast genauso „weichgespült“ eröffnet worden wie die Olympiade des Thomas Bach im Februar. Der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees/IPC, Andrew Parsons, schrie bei seiner Eröffnungsrede zwar noch das Wort „Peace“ in dem Raum, nannte aber weder Russland noch die Ukraine beim Namen. Und den russischen und belarussischen Sportlern war zunächst noch die Teilnahme unter neutraler Flagge erlaubt. Dann kam der kanadische Journalist Lee Reaney. Er hatte in einer Pressekonferenz Parsons mit dem Foto eines im Krieg gefallenen Biathleten konfrontiert und Parsons gefragt, wie man dessen Eltern erklären könne, warum man Athleten aus den Staaten der Aggressoren die Teilnahme erlaubt hätte. In einer Hauruck-Entscheidung und nach den Boykottdrohungen verschiedener Teams wurde dann der Ausschluss vollzogen.
Protest: Nur sechs Sekunden dauerte ihr Auftritt in der Nachrichtensendung des russischen Staatssenders Erster Kanal. Die Redakteurin Marina Owsjannikowa hielt ein Plakat hoch mit der Aufschrift:
„Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen. Russians against war/Russen gegen den Krieg.“
Marina wurde zunächst wegen Verstoßes gegen die Protestgesetze zu einer Geldstrafe verurteilt, sollte aber im April wegen „Diskreditierung der Streitkräfte“ vor Gericht erscheinen. Außerdem wird man ihr wohl den zweimaligen Gebrauch des Tabuwortes „Krieg“ um die Ohren hauen. Ihre Familie ist wegen des „Vorfalls“ hoffnungslos zerstritten und wird sie vielleicht nicht im Gefängnis besuchen. Sie wird sicher ein Fall für AI werden, aber bis dahin müssen wir uns damit begnügen, das Foto ihre Aktion zu veröffentlichen.
Fokus bitte auf die Frau im Hintergrund
Ein Fall von AI wurde sie nicht, denn als ihr Name Anfang Oktober auf einer Fahndungsliste auftauchte, setzte sie sich mit ihrer Tochter ab – nach „Europa“, wie es ihr Anwalt ausdrückte.
Entschädigung: Mit Dänemark erscheint in unserem Jahresbericht ein seltener Gast. Sein Auftritt ist einem „Experiment“ geschuldet, das das Land im Jahre 1951 an 22 grönländischen Kindern verübt hat. Sie wurden ihren Familien entrissen, nach Dänemark gebracht und gründlich „dänifiziert“. Sie sollten zur Elite der damaligen Kolonie Grönland ausgebildet werden. Die Kinder, die 1952 in ihre Heimat zurückkehrten, konnten sich nicht einmal mehr mit ihren Müttern unterhalten. Einige von ihnen hatten später Alkohol- und Drogenprobleme, einige brachten sich um. Jetzt erhielten sie eine Entschädigung. Der Staat hatte lange genug gewartet, nur noch 6 von einst 22 waren noch am Leben.
Friedenschancen: Je nach Erfolgs- und Misserfolgsaussichten, hatten sich im Bürgerkrieg zwischen der äthiopischen Zentralregierung und den Kämpfern in Tigray abwechselnd beide Seiten zum Waffenstillstand bereit erklärt. Zum ersten Mal taten sie es jetzt zeitgleich. Wie haltbar die Zusage ist, kann derzeit noch nicht gesagt werden, die Einträge im Netz hörten Ende März auf.
Freilassungen: Sie zu zählen, hat man in diesem Monat die Finger einer ganzen Hand gebraucht.
- Im Iran hat man die Doppelstaatler Nazanin Zaghari-Ratcliffe und Anoosheh Ashoori nach sechs bzw. fünf Jahren Haft wieder nach Großbritannien entlassen. Zuvor hatte die britische Regierung angekündigt, alte Schulden aus der Zeit vor der Islamischen Revolution von 1979 zu begleichen.
- Geld spielte auch eine Rolle bei der Freilassung eines uralten AI-Falles ebenfalls aus dem Iran. Nach 18 Jahren Haft in der Todeszelle wurde Mohammad Reza Haddadi nach Zahlung eines Blutgeldes freigelassen. Zur Tatzeit war er 15 Jahre alt.
- In Tansania wurde von einem Gericht die Freilassung des Oppositionsführers Freeman Mbowe angeordnet. Ob die Anklage wegen Terrorismus fallen gelassen wurde, weil sich die Regierungspartei der Opposition annähern wollte, oder weil die Präsidentin ihr erstes Jahr im Amt feiern wollte, hat man dem Anklagepunkt relativ wenig zu tun. Einen echten Terroristen hätte man wohl nicht freigelassen.
- In Saudi-Arabien wurde der Blogger Raif Badawi entlassen. Er war 2014 wegen „Beleidigung des Islams“ zu zehn Jahren Haft und 1000 (!) Peitschenhieben verurteilt worden. 50 Hiebe hat man ihm verabreicht, den Rest wegen der internationalen Protestwelle ausgesetzt. Um sich noch einige Zeit die Möglichkeit offen zu halten, ihm die restlichen 950 Schläge zu verpassen, hat das Gericht ein 10-jähriges Ausreiseverbot verfügt. Seine Frau in Kanada wird deswegen weiter auf ihn warten müssen.
Warten auf Raif
Einen Tag nach seiner Freilassung wurden, wie erwähnt, 81 Menschen hingerichtet.
Kuriosum: Unter dem Titel „Mach mal sauber“ hat die SZ in letzter Zeit einige Artikel über den „übersteigerten Antirassismus“ veröffentlicht. Jüngstes Beispiel ist die Musikerin Ronja Maltzahn, die für die Fridays for Future-Gruppe in Hannover ein Konzert für die Opfer des Krieges in der Ukraine geben wollte. Sie wurde ausgeladen, weil sie „Dreadlocks“/Filzlocken trägt, sich damit als Weiße die Kultur der Schwarzen aneignet, ohne deren „Unterdrückung zu erleben“. Da kann man nur sagen: „Wohl dem Land, das solche Probleme hat!“
April 2022
„April ist der grausamste Monat …“
Ukraine
Mit der Anfangszeile aus T.S.Eliots Gedicht „Das öde Land“ hatten wir schon im Jahresbericht von 2021 den Monat April eröffnet. Wie grausam es in diesem Monat tatsächlich zugehen kann, zeigte sich, als die Stadt Butscha/Nähe Kiew am 1. April von der ukrainischen Armee befreit wurde. Unter den 280 Menschen, die noch am gleichen Tag in Massengräbern beerdigt wurden, waren nicht nur „reguläre“ Todesopfer, d.h. in den Kämpfen getötete Soldaten, sondern auch viele Zivilisten, die die abziehenden russischen Truppen als „Abschiedsgabe“ hinterlassen hatten. Einige Leichen hatten wochenlang am Straßenrand gelegen, einige waren gefesselt, einer lag unter seinem Fahrrad, ganze Familien wurden in ihren Autos erschossen, Frauen wurden vergewaltigt. Das übliche „mutmaßlich“ kann man sich sparen, denn man hat Funksprüche russischer Soldaten abgefangen, in denen geschildert wurde, wie man Personen vom Fahrrad geschossen hat. Einer der Schützen wurde von den Ukrainern gefangen genommen und im Mai vor Gericht gestellt.
Tod auf dem Fahrrad
Moskau sprach von ´“Provokationen ukrainischer Extremisten“ und von „Inszenierung“. Letzteres ist wohl so zu verstehen, dass nach den Filmaufnahmen die ermordeten Familien in einem neuen Auto weggefahren sind, der erschossene Radfahrer wieder aufgestiegen ist, die vergewaltigte Frau ihre Kleider geordnet hat. Präsident Putin hat Soldaten der 64. Motorschützenbrigade, die in Butscha im Einsatz waren für ihr „Heldentum“ geehrt, die Ukraine gegen zehn von ihnen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die Kriegsverbrechen in Butscha sind auch Gegenstand der Anzeige, die die ehemaligen deutschen Minister Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Gerhart Baum gegen Putin, die Mitglieder des russischen Sicherheitsrates und einzelne Soldaten eingereicht haben.
Wie reagiert man auf den Krieg/die militärische Spezialoperation? In Russland folgt eine Mehrheit immer noch der Regierungspropaganda, selbst Mütter, denen man den Sohn im Sarg nach Hause geschickt hat, stehen hinter „Väterchen Putin“. Wer dagegen ist, und das sind v.a. die jungen Leute, die Zugang zu sozialen Medien haben, wird von der eigenen Familie als „Verräter“ bezeichnet.
Der Papst in Rom tut sich schwer mit einer deutlichen Verurteilung des russischen Angriffskrieges. Er sprach zwar von der Brutalität des Krieges, gab aber auch der NATO eine Mitschuld, weil sie durch ihre Präsenz in den Nachbarländern, Russland die Invasion „vielleicht erleichtert“ hat. Es gibt Spekulationen, dass er eine Friedensaktion starten möchte und seine Vermittlerrolle nicht gefährden möchte. Man darf bezweifeln, ob Putin schon auf ihn wartet. Der beichtet lieber bei seinem Hausgeistlichen Kyrill I. Deutlichere Worte fand Landesbischof Bedford-Strohm, der der Ukraine das legitime Recht zusprach, sich mit Waffen zu verteidigen, und anderen Ländern, „unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit“ entsprechende Waffen zu liefern.
Karfreitag 2022
Ob die Lieferung schwerer Waffen, wie von der Bundesregierung verfügt, unter „verhältnismäßig“ fällt, wird von den Unterzeichnern eines offenen Briefes an Kanzler Scholl verneint. Hier einer der umstrittensten Passagen aus diesem Brief: Es ist ein Irrtum zu glauben,
„dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe, und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern“.
Wer so verschwurbelt formuliert, kann nicht (ganz) recht haben!
Unter (westlichen) Völkerrechtlern wird diskutiert, ob die Kriegsverbrechen in Butscha und anderswo bereits den Tatbestand des Völkermordes erfüllten, ob es also auf russischer Seite den Vorsatz gäbe, die Ukrainer als nationale Gruppe zu vernichten. Aber unabhängig davon, ob er als Völkermörder oder nur als Kriegsverbrecher eingestuft wird, was soll nach Ende der „Spezialoperation“ mit Präsident Putin geschehen? Wohnungstausch mit Nawalny, Überstellung nach Den Haag oder friedlicher Ruhestand in seinem „Versailles“ am Schwarzen Meer? Wir verweisen zurück auf die Fassadenmalerei von Barcelona.
AI-Meldungen
Meinungsfreiheit: Der russische Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa, Mitglied eines Antikriegskomitees, wurde am 12. April wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt zu 15 Tagen Haft verurteilt. Er habe beim Anblick von Polizisten „die Richtung geändert und seinen Schritt beschleunigt“. Elf Tage später wurde ein Verfahren wegen „Falschaussagen über die russische Armee“ eröffnet. Kara-Mursa, der zwischen den USA und Russland pendelt, hatte im März vor dem Repräsentantenhaus von Arizona von „Kriegsverbrechen, durch das diktatorische Regime im Kreml“ gesprochen. Die Wahrheit könnte ihm zehn Jahre einbringen.
Straffreiheit: Die Türkei hat sich elegant eines leidigen Problems entledigt und das Verfahren zur Klärung des bestialischen Mordes an dem Journalisten Jamal Khashoggi im Oktober 2018 abgegeben – aber nicht nach Den Haag, sondern nach Saudi-Arabien, dahin also, wo das Killerkommando damals herkam. Ebenso gut hätte man es dem Mann im Mond anvertrauen können. Die Türkei erhofft sich jetzt „Gerechtigkeit“ in Form von Krediten und Investitionen.
Politische Gefangene: Wie um zu beweisen, dass die türkische Justiz auch anders kann, wurde der Kulturmäzen Osman Kavala zu lebenslanger Haft verurteilt. Von der Anklage, er habe 2013 die Proteste zur Rettung des Istanbuler Gezi-Parks finanziert, wurde er freigesprochen, aber noch am selben Tag wegen Beteiligung am Putschversuch von 2016 erneut verhaftet. Weder der europäische Gerichtshof für Menschenrechte noch einer der drei türkischen Richter sah Beweise für eine Schuld. Ein Ausschluss der Türkei Erdogans aus dem Europarat wäre mehr als überfällig, bis Ende April aber „erwog man nur Konsequenzen“.
Willkürjustiz: In Myanmar wurde Aung San Suu Kyi nach Anklage Nummer 18 zu weiteren fünf Jahren verurteilt. Diesmal ging es um Korruption, ein Delikt, bei dem sich die Militärs besonders gut auskennen. Alle Anklagen wirken konstruiert, aber die Absicht der Militärs ist klar: Frau Suu Kyi soll für immer weggesperrt werden. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es türkische Menschenrechtler sind, die gegen Mitglieder der Junta von Myanmar Strafanzeige wegen Folter gestellt haben.
Todesstrafe: In Texas wurde Carl Buntion hingerichtet. Er hatte bei einer Verkehrskontrolle einen Polizisten erschossen – aber das war im Juni 1990. Die Todesstrafe als solche ist absurd, aber eine Hinrichtung nach mehr als 30 Jahren – so etwas kann doch nur in Texas passieren!
Weitere Stimmungstöter – nur in Kurzfassung erträglich
Mexiko: In Mexiko werden an jedem Tag im Schnitt zehn Frauen getötet. Ein Grund ist der Machismo in der Gesellschaft, ein anderer die Brutalität der Drogenbanden, die ihr Tätigkeitsfeld auf Menschenhandel und Zwangsprostitution ausgedehnt haben. Und wenn da eine Frau nicht so spurt, …! Nach dem Tod der 18-jährigen Debanhi Escobar gab es landesweite Proteste unter Transparenten mit der Aufschrift „Wie viele noch?“
Zu jung, um zu sterben
Afghanistan: Konkurrenz für die Taliban – auch der IS geht auf die Schulen los. Diesmal traf es eine Knabenschule in einem Stadtviertel von Kabul, das mehrheitlich von den schiitischen Hasara bewohnt wird. Und das sind die Lieblingsfeinde der sunnitischen Islamisten.
Großbritannien: Das Land will Flüchtlinge nach Ruanda verfrachten. Federführend ist die Innenministerin Priti Patel, die den Plan fröhlich als „Weltpremiere“ bezeichnet. Vom Stammbaum her hat sie selbst eine Immigrationsgeschichte, was sie aber nicht hindert, Flüchtlingen gegenüber „hart wie Kruppstahl“ aufzutreten. Für Ruanda wäre die „Entsorgung“ der Flüchtlinge ein gutes Geschäft. Zum einen gäbe es die Parkgebühren aus Großbritannien, zum anderen wäre das Nachschub für Menschenschmuggler, die schon bei der Abschiebung von Flüchtlingen aus Israel zwischen 2014 und 2017 kräftig „abgesahnt“ hatten.
China: Wegen des Anstiegs der Infektionszahlen haben die Behörden in Shanghai einen harten Lockdown verhängt. Zur „Prävention“ werden positiv getestete Babys und Kleinkinder von ihren Eltern getrennt und in staatlichen Gesundheitszentren behandelt. Teenager werden in Quarantänezentren gesteckt. Man möchte sich lieber nicht vorstellen, was diese Behörden mit den „Spaziergängern“ machen würden, die am Montagabend mit dem Ruf nach „Freiheit“ (von den Corona-Auflagen) durch Miesbachs Straßen marschieren.
Deutschland: Die Zahl antisemitischer Straftaten hat einen neuen Höchststand erreicht. Und das ist nicht nur den Palästina-Demos geschuldet, sondern auch den verqueren Ideen mancher Querdenker, die von „Spritzenholocaust“ sprechen und in der Pandemie sowieso nur „die Weltverschwörung einer jüdischen Finanzelite“ sehen.
Aufheller – könnten mehr sein!
- Kehren wir nach Texas zurück. Im März haben wir von Melissa Lucio berichtet, die zur Hinrichtung freigegeben worden war. Jetzt hat ein Berufungsgericht, wie erwähnt, den Vollzug vorerst aufgehoben, weil erhebliche Zweifel an der Schuld der Frau bestünden. Zu untersuchen wären „möglicherweise falsche Zeugenaussagen, ein erzwungenes Geständnis und die Unterdrückung von Beweisen zur Entlastung der Angeklagten“. Wohlgemerkt – wir sind in den USA, und nicht in einem stalinistischen Schauprozess der 1930er Jahre!
- Eindrucksvoll war eine Demo der Organisation „Freie Russen gegen den Krieg“ auf dem Marienplatz in München. Die Demo richtete sich nicht nur gegen den Krieg in der Ukraine, sondern auch gegen die Autokorsi putintreuer Russen in einigen deutschen Großstädten, aber auch im Allgäu.
Ein russisches Zeichen gegen den Krieg
- Ein Zeichen gegen den Krieg setzte auch die Familie Prochazka im Martinsmünster von Fischbachau, die ein Konzert mit einheimischen Künstlern organisierte. Es kamen 3400 Euro zusammen, die an die Ukraine-Nothilfe überwiesen wurden.
Ich schließe mit deiner Denksportaufgabe. Sie müssen herausfinden, ob in der folgenden Passage das Zitat irgendwo in der Mitte aufhört oder bis zum Fragezeichen durchläuft. Die Integrationsbeauftragte der bayrischen Staatsregierung hat für die ukrainischen Flüchtlinge einen schnelleren Zugang zu Sprachkursen gefordert und ihre Eignung wie folgt unterstrichen: Ihnen „muss nicht erklärt werden, wie eine Waschmaschine funktioniert, oder dass auf dem Zimmerboden nicht gekocht werden darf. Im Gegensatz zu den Wilden, die sonst Schutz suchen in Bayern“.
Auch wenn die grausamen Meldungen in diesem Monat eindeutig überwiegen, beenden wir den April mit einem Spruch von Heinz Rühmann:
„Ein Optimist ist ein Mensch, der alles halb so schlimm
oder doppelt so gut findet.“
Ein bisschen Weltfremdheit muss auch in einem AI-Bericht erlaubt sein!
Mai 2022
„Das Recht des Stärkeren
Ist das stärkste Unrecht.“
Marie von Ebner-Eschenbach
womit wir nahtlos bei dem Krieg gelandet sind, der verschämt/schamlos „Spezialoperation“ genannt wird und einer schweren Operation immer ähnlicher wird, weil es da auch nicht ohne „Blutverluste“ abgeht.
Ukraine – Schlagzeilen aus dem Wonnemonat Mai
1. Mai: Misstöne bei Mai-Demo
Bei der Kundgebung in München trat auch die ukrainische Gewerkschaftlerin Adriana Bil auf und bat um militärische Hilfe für ihr Land. Vom linken Rand der Szene kamen Pfiffe (im Kommentar des Merkur ein Dauer-Pfeifkonzert), ein Mann mit roter Kappe schrie „So ein Schmarrn!“, sein Nachbar schlug ihm die Kappe vom Kopf. Die SZ vermerkte ironisch: „Kampftag der Arbeiterklasse?“
2. Mai: „Die Eskalation hat längst begonnen“. - So kritisiert der Kabarettist Christian Springer die Unterzeichner des offenen Briefes an Kanzler Scholz, in dem ein Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine gefordert worden war. Der „Krieg der deutschen Künstler und Intellektuellen“ mag zwar einige Freundschaften gefährden, wird aber aller Voraussicht nach unblutig verlaufen.
3. Mai: „Hitlers jüdisches Blut“ – Der russische Außenminister Lawrow äußerte sich in einem Interview mit einem italienischen Privatsender auf die Frage nach der „Nazifizierung“ der Ukraine, wie es auch sonst seine Art ist, aber noch verquerer als die britische Innenministerin. Er sagte:
„Dass (Präsident) Selenskij Jude ist, will nichts heißen. Wenn ich nicht irre, hatte Hitler auch jüdisches Blut. … Das weise jüdische Volk sagt von sich, dass die Juden selbst oft die größten Antisemiten sind.“
Die israelische Regierung, die Russland zu Kriegsbeginn nur sehr vorsichtig kritisierte, sprach diesmal Klartext und warf Lawrow „eine Verdrehung historischer Fakten“ und die Heranziehung des Holocausts als „politisches Werkzeug“ vor. In einem Telefonat soll sich Putin nach israelischen Angaben für die Äußerung Lawrows entschuldigt haben. Das Telefonat wurde vom Kreml bestätigt, die Entschuldigung aber nicht.
6. Mai: „Wahrheitssuche in Ruinen“ – Das bezieht sich auf die Arbeit von NGO-Aktivisten, die in Zusammenarbeit mit der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft den Spuren von Kriegsverbrechen nachgehen. Eine dieser NGOs hat den treffenden Namen „Truth hounds“/Wahrheitsjagdhunde, aber selbst, wenn sie fündig werden, würden sie es schwer haben, die Hauptoperateure nach Den Haag zu zerren.
9. Mai: „Schwarzer kritisiert Selenskyj“. – Die Initiatorin des besagten offenen Briefes wünscht sich vom ukrainischen Präsidenten gemäßigtere Töne und „bedauert es, dass er nicht aufhört zu provozieren“. Aber wenn einem das Wasser bis zum Hals steht, dann flüstert man nicht um Hilfe, dann schreit man.
19. Mai: „Ernüchternde Bilanz für Putin“ – Da war der Wunsch der Vater des Gedankens. Der Artikel trägt zusammen, was für Putin und seine Armee trotz der Einnahme von Mariupol alles schiefläuft: hohe Verluste, Nachschubprobleme, ukrainischer Widerstand, Wirkung der Sanktionen, Gerüchte über einen Putsch gegen Putin. Ende Herbst wird ein solcher Artikel eher eine ernüchternde Bilanz für die Ukraine vermelden.
20. Mai: „Plaudern als Verhängnis“ – Viele Russen bekommen Ärger mit der Justiz, weil Mitbürger sie denunzieren. Zu Sowjetzeiten gab es den „Stukatsch“/Klopfer, der Bekannte oder Nachbarn bei den Behörden verriet. Heute sind die „Klopfer“ Väter, die ihre Söhne verpfeifen, Schüler, die ihre Lehrer melden. Eine Aktivistin der Organisation „Russland hinter Gittern“ sieht eine Generation heranwachsen, für die das Denunzieren normal sei, weil sie es in der „Junarmija“, der russischen Hitlerjugend, gelernt habe. Da fragt man sich dann schon, welches Land „entnazifiziert“ werden müsste.
24. Mai: „Russischer Soldat verurteilt“ – Er hatte am 28. Februar einen Ukrainer erschossen, der die russische Gruppe beim Autodiebstahl beobachtet hatte, zum Telefon griff und vermutlich die ukrainische Armee benachrichtigen wollte. Der Täter hat, nach eigenen Aussagen, auf Befehl geschossen. In seinem Schlusswort bereute er seine Tat. Er bekam lebenslänglich, sein ukrainischer Anwalt legte Berufung ein.
Wadim Sch. – „die Kleinen hängt man, …“
24. Mai: „Das schwerste Verbrechen“ – Ein russischer Diplomat in Genf hat wegen des Kriegs in der Ukraine seinen Rücktritt erklärt. Er habe sich noch nie „so geschämt für sein Land wie am 24. Februar“. Hoffentlich hat er genügend Geld, um sich Leibwächter und Vorkoster leisten zu können.
25. Mai: „Moskaus Propaganda-Endlosschleife“ – Wer sich in Russland ausschließlich über das Staatsfernsehen informiert und auf Kritik am Krieg nicht zugreifen kann oder will, sieht ukrainische Soldaten mit Hakenkreuz-Tattoos, gesäuberte Gebiete, wo die Menschen Russlandfähnchen schwenken und prorussische Kämpfer ausgebildet werden. Als sich die letzten Soldaten in Mariupol ergeben, müssen sie sich auf offener Straße ausziehen und durchsuchen lassen. Für die Chefredakteurin des russischen Propagandasenders RT ein willkommener Anlass, mit einem sarkastischen „Schaut, wie sie sich ergeben haben – in grünen Unterhöschen“ über die ukrainischen „Feiglinge“ herzuziehen. Auf all das kann man nur mit Tucholsky antworten:
„Sag mal, verehrtes Publikum: bist du wirklich so dumm?“
Nachrichten aus der übrigen Welt
USA: Nach einem rassistischen Massaker in einem Supermarkt in Buffalo, war zwei Wochen später eine Grundschule in Uvalde/Texas an der Reihe. Ein Amokläufer, der sich zum 18. Geburtstag (?) ganz legal zwei halbautomatische Waffen zugelegt hatte, erschoss 19 Grundschüler und zwei Lehrerinnen. Die örtliche Polizei kam schwer unter Kritik, weil sie mehr als 45 Minuten verstreichen ließ, bis sie in das Klassenzimmer eindrang, wo der Schütze um sich schoss. Donald Trump und die Waffenlobby forderten wahlkampftauglich und interessengemäß mehr Waffen an Schulen. Von einer Senkung des Mindestalters für Waffenerwerb auf Grundschulniveau war allerdings bisher noch nicht die Rede, aber in der Karikatur existiert sie bereits.
Im Juni beschloss der Kongress eine Verschärfung der Waffengesetze, die Bewertung des Beschlusses reichte von geringfügig bis minimal.
Nicht schon wieder!
China: Der chinesische Staatschef hat den neuen Regierungschef Hongkongs für seine Standfestigkeit und seinen Patriotismus gelobt. John Lee war früher Sicherheitschef und maßgeblich für die Niederschlagung der prodemokratischen Bewegung verantwortlich. Er ist einer der ganz „harten Hunde“, die Xi Jinping gerne in unruhige Regionen schickt. Eine Abwahl hat er nicht zu befürchten, da das Wahlsystem so beschaffen ist, dass sieben Millionen Hongkonger keine Mitsprache haben.
Philippinen: Das Land bleibt uns wohl AI-mäßig erhalten, denn nach dem Drogenkrieger Duterte kommt ein Wiedergänger an die Macht, genauer gesagt, dessen Sprößling. Ferdinand Marcos jr., Sohn des kleptokratischen Tyrannen, von dem sich das Volk 1986 mutig befreit hatte. Die SZ ging sehr ungnädig mit ihm um:
„Das Ereignis (der Wahlsieg) wirkt ähnlich wie die Wahl von Donald Trump. Wie der Brexit: Man fragt sich, was nur mit den Wählerinnen und Wählern los ist, die ihre Stimme anscheinend dazu nutzten, um ihr eigenes Verderben zu wählen.“
Israel/Palästina: Die Reporterin des TV-Senders Al-Jazeera Shireen ist bei einem israelischen Militäreinsatz im Westjordanland getötet worden, mutmaßlich von einem palästinensischen Kämpfer (so die israelische Seite), Opfer einer gezielten Hinrichtung (so die palästinensische Seite). Beide Seiten ermitteln getrennt, aber auch die USA dringen auf Aufklärung, da Shireen auch die amerikanische Staatsangehörigkeit besaß. Am Ende des Monats waren die Umstände ihres Todes noch nicht geklärt.
Wer erschoss Shireen Abu Akleh?
Im Juni haben die Ermittlungen von Journalisten (!) ergeben, dass die Kugel von einem israelischen Soldaten abgefeuert wurde – entweder aus Versehen oder mit Absicht. Diese Ermittlungen wurden im Juli vom US-Außenministerium dahingehend bestätigt, dass ein israelischer Schütze „wahrscheinlich“ gewesen sei. Im November hat sich der FBI eingeschaltet, worauf die israelische Regierung „unerträglich störrisch reagiert“ und jegliche Kooperation abgelehnt hat. Wenn Netanjahu Ministerpräsident ist, wird er in Ruhe abwarten, bis sein amerikanischer Wiedergänger (und Spezi) Donald Trump wieder in Amt und Würden ist.
Am Ende des Monats fand in Jerusalem der traditionelle Flaggenmarsch der israelischen Rechten statt. Es gab zwar im Vorfeld Drohungen von der Hamas und der Hisbollah und Provokationen von Seiten der Marschierer, aber, wider Erwarten und Jehova und Allah sei Dank, keine größeren Zwischenfälle.
Deutschland: Rechtes Gedankengut aber gibt es auch in Deutschland – und antisemitisches dazu. Da erzählt Anfang April bei einem Hoagarten des Trachtenvereins Rosenheim 1 der Ansager einen Witz, der auf das Klischee des geschäftstüchtigen Juden abzielt. Der Ansager hat (zunächst) kein Unrechtsbewusstsein, aber die Reaktion des Publikums ist „deutlich verhalten“, und der Trachtenverein entschuldigt sich. Eine Besucherin will bei ihrem Vordermann ein kleines Hakenkreuz als Hutanstecker gesehen haben. Hat er wohl 1945 vergessen abzunehmen.
Bei der Vorstellung des 2. Lageberichts über Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden kam heraus, dass immerhin 327 Beschäftigte als Gegner der demokratischen Grundordnung aufgefallen sind. Die Zahl der Prüffälle ist deutlich höher als 2020, und das hat nicht nur statistischen Gründe. Eine andere Zahl gibt nicht weniger zu denken. Das BKA berichtet von 596 Rechtsextremen, nach denen gefahndet wird. Und ganz besonders viele Fälle sind in Bayern untergetaucht. Ist halt doch ein schönes Bundesland!
Und dann stellten SZ und NDR ihre Recherchen zu einer „Chronik der Schande“ zusammen. Sie listet auf, wie und wo die Neue Rechte Orte des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus attackiert. Einer der letzten Einträge stammt vom April 2022. In der Orleansstraße/München wurde eine Informationstafel am Gedenkort „Weiße-Rose-Zaun“ zerstört. Zeit wieder einmal, an das Brecht-Zitat zu erinnern: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das/er kroch.“
„Moralisch und politisch ordentlich daneben liegen“ kann man auch links. Im März wurde die Sängerin Ronja Maltzahn von einer Fridays-for-Future Gruppe ausgeladen, weil sie als Weiße mit Dreadlocks aufträte. Sie habe sich unbedarft und unbetroffen ein Widerstandssymbol schwarzer Menschen angeeignet. Ronja hat sich (trotz Aufforderung) ihre Filzlocken nicht abgeschnitten, aber auch ihre Verbindung zu Fridays für Future nicht gekappt.
Habe ich noch einmal erzählt, um ein wenig die Balance zu wahren. Aber Wiederholungen schleichen sich ein, wenn man den Bericht monatlich verfasst. Mein Rat: Wenn Sie es merken, einfach überspringen!
AI-Meldungen – mal so, mal so
Türkei: Man hat von Belarus gelernt: Wahlen gewinnt man am besten, wenn man aussichtsreiche Gegenkandidaten einsperrt. In Istanbul bestätigte das Oberste Berufungsgericht eine Reihe früherer Urteile gegen Canan Kaftancioglu von der Oppositionspartei CHP. Sie wurde mit einem Politikverbot belegt, und es drohen ihr fast fünf Jahre Haft wegen „Beleidigung des Staatsoberhauptes/der Republik“. Solche Beleidigungsverfahren laufen auch gegen den CHP-Bürgermeister von Istanbul, der im kommenden Jahr gegen Erdogan antreten könnte. (s. Dezember)
Griechenland: Freigesprochen vom Vorwurf, sein Kind zu gefährden, wurde ein Afghane, der im November 2020 mit seinem sechsjährigen Sohn in der Türkei ein Flüchtlingsboot bestiegen hatte. Der Sohn ertrank vor Samos, dem Vater wurde als Beileidsgeste noch der Prozess angehängt, den Menschenrechtsgruppen als Versuch kritisierten, „Migration zu kriminalisieren“. Der „Steuermann“ des Bootes erhielt eine Bewährungsstrafe.
Belarus: Im Mai 2021 hatte die unterbeschäftigte Luftwaffe des Landes einen spektakulären Coup getätigt. Sie zwang eine (unbewaffnete) Ryanair-Maschine mit dem Blogger Roman Protassewitsch und seiner russischen Freundin Sofja Sapega an Bord zur Zwischenlandung in Minsk. Während das Verfahren gegen Roman noch läuft, wurde Sofja jetzt zu sechs Jahren Haft verurteilt. Man warf ihr u.a. „Gewalt oder Drohungen“ gegen die Polizei vor, aber wenn man seit einem Jahr unter Hausarrest steht, kann einem den Bewachern gegenüber schon mal was rausrutschen. Ende Juni stellte sie ein Gnadengesuch: Ihre oppositionelle Tätigkeit sei der „Jugend und Dummheit“ geschuldet gewesen.
Ihr weiteres Schicksal ist unklar. Im Juni sah man das Paar gemeinsam durch Minsk spazieren, im Juli meldete sich Protassewitsch auf Twitter zurück. Gehirnwäsche oder Propaganda?
Stuttgart: Scharfe Kritik am Moskauer Patriarchen Kyrill I. hat ein Arbeitskreis von orthodoxen Theologen und Theologinnen im deutschsprachigen Raum geübt. Sie nähmen
„mit Entsetzen wahr, wie ihr Glaube und das Wort Christi missbraucht und für politische Propaganda instrumentalisiert werden könne“.
Kyrills Konzept vom „Heiligen Russland“ grenzt für die Unterzeichner an Häresie.
Brasilien/Deutschland: Der Volkswagen-Konzern muss sich in Brasilien einem neuen Ermittlungsverfahren stellen. Es geht u.a. um Menschenhandel und um Ausbeutung durch Sklavenarbeit, aber nicht etwa am Fließband, sondern auf einer Rinderfarm. Der Autobauer wollte zwischen 1974 und 1986 ins Fleischgeschäft einsteigen, und da damals in Brasilien das Militär herrschte, brauchte man es mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen.
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Italien: Der Prozess gegen vier Crewmitglieder der Iuventa/Jugend rettet wurde wegen eines Verfahrensfehlers der Behörden auf Herbst vertagt, kaum dass er begonnen hatte. Die Staatsanwaltschaft hatte es versäumt, die Angeklagten nicht ordnungsgemäß über den Abschluss der Ermittlungen informiert zu haben. Unser Rat: Prozess gleich einstellen! Seenotrettung ist kein Verbrechen! Unser Rat wurde leider nicht befolgt, im Dezember fand eine erste Anhörung von Mannschaftsmitgliedern statt.
China: Ein Datenleak, offenbar aus Polizeicomputern in Xinjiang, ermöglicht Einblicke in das Lagersystem, das zur Unterdrückung der Uiguren betrieben wird: Inhaftierungsgründe < illegale Apps auf dem Mobiltelefon, Umgang mit Ausbrechern >- Erschießen, Misshandlung von Insassen - Schlagstöcke auf knieende Gefangene, Ausmaß der Internierungsrate - 4-mal höher als landesweit.
Die UN-Kommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, hat die Xinjiang Police Files/Polizeiakten nicht im Reisegepäck mitgeführt, als sie auf eine sechstägige China-Tour ging. Schon im Vorfeld musste sie betonen, dass es sich nicht um eine „Untersuchung“, sondern um eine „Möglichkeit zum Dialog“ handle, aber allzu viel hat sie nicht sagen oder sehen dürfen. In Xinjiang beispielsweise habe sie mit allen Gesprächspartnern „ohne Überwachung“ reden können – soweit es die Corona-Vorschriften zuließen. Und das, was sie bei der Pressekonferenz äußern durfte, z.B. ihre Bewunderung für die großen Erfolge Chinas bei den Menschenrechten, hat man dann auch noch hineinmanipuliert. Als Abschiedsgeschenk hat ihr der Außenminister ein Buch von Parteichef Xi Jinping geschenkt, eine Anleitung zur besseren Achtung und dem Schutz der Menschenrechte. Frech-dümmer geht’s nimmer!
Frau Bachelet, die in der chilenischen Militärdiktatur Pinochets selbst Folteropfer geworden war und als Hochkommissarin auch deutlich werden konnte, verzichtete im Juni auf eine zweite Amtszeit. Wenn man das Foto von dem virtuellen Treffen mit Xi Jinping sieht, kann man ahnen, dass ihre Chinareise „im potemkinschen Stil“ für ihren Amtsverzicht mitverantwortlich war.
„Der habe ich es gezeigt!
Aber es gibt noch eine Fortsetzung! (s. August)
Todesstrafe: Da hatten einige Länder wegen der Pandemie 2021 einen gewissen „Nachholbedarf“. AI dokumentierte mindestens 579 Hinrichtungen in 18 Staaten – verglichen mit dem Vorjahr ist dies ein Anstieg um 20 Prozent. Aus China sind keine Zahlen bekannt, deshalb hält den „Rekord“ der Iran, der vermehrt Drogendelikte mit der Todesstrafe ahndete. Trotz dieses Rückschritts weist 2021 die zweitniedrigste Anzahl von Hinrichtungen seit 2010 auf.
Vatikan: Papst Franziskus hat sich für den Missbrauch an kanadischen Indigenen durch die katholische Kirche entschuldigt. Im letzten Jahr wurden in der Nähe früherer katholischer Internate Hunderte von Kinderleichen entdeckt, die bis in die 1990er Jahre hinein ihren Familien entrissen worden waren. Die Indigenen schenkten ihm Mokassins und Schneeschuhe als „Mahnung, mit ihnen den schwierigen Weg weiterzugehen“.
Lichtblicke
- Ihr seid „die mutigsten Frauen Europas“. So nannte unsere Außenministerin die belarussischen Bürgerrechtlerinnen Veronika Zepkalo, Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa, die den Karlspreis der Stadt Aachen bekamen. Für Maria, die für ihre Proteste gegen die Wahlfälschung/Verschwörung zur verfassungsfeindlichen Machtergreifung eine Haftstrafe von elf Jahren absitzt, musste ihre Schwester einspringen.
- Bei jungen Amerikanern hat die Verschwörungstheorie „Birds aren’t real/Vögel gibt’s nicht wirklich“ breiten Zulauf. Sie besagt, dass der CIA seit 1959 Milliarden von Vögeln getötet und sie durch Spionagedrohnen ersetzt hat, mit denen die Menschen überwacht und mit Drogen versorgt werden können. Die Vogel-Kampagne mit Autoaufklebern, Pullis und Demos ist aber kein Ableger von QAnon und Konsorten, sondern versucht, „Verrücktheit mit (noch größerer) Verrücktheit zu bekämpfen“. Wie man den Montagsmarschierern von Miesbach kreativ den Vogel zeigen kann, hat man leider noch nicht herausgefunden.
- Ein denkwürdiges Konzert mit Punk, Rap und Electronic gab „Pussy Riot“ in den ausverkauften Kammerspielen in München. Auf der Pressekonferenz kritisierten die Frauen das System Putin, den Moskauer Patriarchen, aber auch Europa, das durch den Kauf von Öl und Gas den Krieg sponsore und die Friedensbewegung, die nachlesen müsse, was Hitler mit Kompromissen gemacht habe. Der Sängerin Maria Aljochina war erst eine Woche zuvor eine spektakuläre Flucht aus Russland geglückt, und sie trug demonstrativ ihre elektronische Fußfessel, die man ihr für den Hausarrest verpasst hatte. Den Erlös ihrer Konzerttournee durch Europa wollen sie einem Kinderkrankenhaus in Kiew spenden.
Konzert mit Fußfessel und Ersatzschnürsenkel
Juni 2022
„Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne/
Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt./
Und gehen sie einher auch wie blutige Hähne/
Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.“
Bertold Brecht
Ein passendes Gedicht zur „Zeitenwende“, die wir so dringend nötig haben, und das beileibe nicht nur, was die Ausrüstung der Bundeswehr anbelangt.
Russland
Unser „blutiger Hahn“ Putin will vom Ende nichts wissen und droht, „man habe erst angefangen mit der Ukraine“. Er setzt dort auch seine „Privatarmee“, die Wagner-Gruppe, ein, die in anderen Ländern (Libyen, Syrien) für die „Drecksarbeit“ zuständig war. In der Ukraine war sie bei Kriegsbeginn auf Selenskyj und andere ukrainische Politiker angesetzt, bei den Kämpfen in der Ostukraine soll sie 3000 Männer verloren haben. Ein Ex-Söldner hat jetzt ausgepackt: Der Chef der Gruppe trägt den Kampfnamen „Wagner“, weil er den deutschen Komponisten bewundert. Von daher ist es nicht ganz abwegig, die Gruppe als Pendant zur Waffen-SS zu betrachten. Der Verbindungsmann zum Kreml trägt den Spitznamen „Putins Koch“, weil der den Präsidenten während seiner Tätigkeit in St. Petersburg in seinem Restaurant bedient haben soll. Jetzt serviert er ihm die Söldner.
Putins „Stimmen im/in den Westen“ hocken vor Computern und treten im Fernsehen auf. Es sind Influencer/innen wie Alina Lipp, die Putins These von der Naziherrschaft in der Ukraine nachbeten, die „Lüge von Butscha“ dahin korrigieren, dass die Massaker von ukrainischen Soldaten begangen wurden – und ihrerseits Lügen verbreiten. So hat beispielsweise die Lipp (wie schon erwähnt) im März die „Lüge von Euskirchen“ gepostet – und das war tatsächlich eine Lüge. Die Influencer sind nicht dumm, sie genießen ihren Bekanntheitsgrad und werden vermutlich gut bezahlt, aber ihren (zahlreichen) Followern kann man nur das folgende Zitat um die Ohren hauen, das (in etwa) lautet:
„Und ist das Stück auch noch so dumm, es findet doch sein Publikum.“
Flüchtlingsdramen
- Bei San Antonio/Texas starben mindestens 50 Migranten in einem Lastwagen, dessen Klimaanlage bei 40 Grad nicht eingeschaltet war. Auch entlang der Straße lagen Leichen, weil der Fahrer offensichtlich die Türe einen Spalt geöffnet hatte und noch einige Meter weitergefahren war, bevor er sich aus dem Staub machte. Die Menschen waren dann aus dem Laderaum gerollt. Der Gouverneur, natürlich ein Republikaner, hatte schnell den Täter gefunden:
„Diese Toten gehen auf Joe Biden. Sie sind ein Ergebnis seiner tödlichen Politik der offenen Grenzen.“
Der Fahrer wies jede Schuld von sich. Er habe nicht bemerkt, dass sich 100 Menschen im Laderaum befänden.
- Gestorben wird auch an der Außengrenze zu Europa, und auch hier lassen Politiker ihrem Überschuss an Empathie freien Lauf. Zwischen Marokko und der spanischen Enklave Melilla starben mutmaßlich 37 Flüchtlinge, was den spanischen Ministerpräsidenten veranlasste, die „außergewöhnliche Arbeit unserer Sicherheitskräfte zu loben“.
- Da eine Anfrage der britischen Regierung bei Jeff Bezoz ergab, dass sein geplantes Weltraumhotel erst 2030 fertig wird (Vorsicht: Satire!), musste sich London anderweitig behelfen und versuchte, die ersten Flüchtlinge nach Ruanda abzuschieben. Das ist das Land in Afrika, wo die Wirtschaft seit Jahren boomt und der Präsident ein notorischer Garant der Menschenrechte ist. Zur Monatsmitte wurde die Abschiebung durch einen Beschluss des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte/EGMR gestoppt. Die britische Regierung war empört: Man wollte Flüchtlingen doch nur die gefährliche Überfahrt durch den Ärmelkanal ersparen.
Kurznachrichten – wie immer schwer verdaulich
Deutschland: Dass es Sinti und Roma in Deutschland schwer haben, ist sattsam bekannt. Deshalb wurde von der Bundesregierung erstmals ein Beauftragter gegen Antiziganismus bestellt. Auch Roma, die aus der Ukraine geflüchtet sind, machen die Erfahrung, dass sie zu den „Flüchtlingen gehören, die man nicht haben will“. Schon auf dem Weg nach Deutschland wurden sie an der Einreise gehindert und dann bei uns in gesonderten Unterkünften untergebracht. In München trägt man sich jetzt immerhin mit dem Gedanken, eine Straße nach Hugo Höllenreiner zu benennen, ein Sinto, der als Kind das KZ überlebte und sich nach dem Krieg gegen Rassismus engagierte.
Nigeria: In der Stadt Owo stürmten Terroristen einen katholischen Pfingstgottesdienst und töteten 22 Menschen, darunter Kinder und schwangere Frauen. Dabei war der Südwesten des Landes bisher von derartigen Angriffen verschont geblieben. Als Täter kommen islamistische oder (andere) kriminelle Gruppen in Frage.
Türkei: Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman ist in der Türkei mit einem warmen Händedruck und allen militärischen Ehren empfangen worden. Eine Kettensäge hatte der Kronprinz diesmal sicher nicht im Gepäck, vermutlich aber Zusagen für Investitionen. Man ist wieder im Geschäft, und der Mann im Hintergrund (des Mordes an Jamal Khashoggi) ist wieder salonfähig.
USA: Bei der Anhörung vor dem Parlamentsausschuss, der sich mit dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 befasst, ist mit Cassidy Hutchinson eine Zeugin aufgetreten, die bei Trump keine Karriere mehr machen dürfte. Sie schilderte einen Präsidenten, der „zunehmend den Verstand verliert“, mit Tellern schmeißt, den Befehl gibt, Metalldetektoren abzubauen, damit seine Anhänger mit ihren Waffen aufkreuzen können und nur durch den Geheimdienst gehindert werden konnte, höchstpersönlich in den „Putsch“ einzugreifen. Dass die Republikaner jetzt einsehen, dass Trump nicht mehr wählbar ist, zeichnet sich noch nicht ab. Die Zeugin steht erst einmal unter Polizeischutz.
Ungarn: Viktor Orbán hat mit der EU ein weiteres Mal Katz und Maus gespielt. Nachdem man ihm beim sechsten Sanktionspaket weitgehend entgegengekommen war, setzte er mit seinem Veto durch, dass der Kriegstreiber Kyrill I. von der Sanktionsliste gestrichen wurde. Für seinen Umgang mit dem Veto gäbe es ein einfaches Mittel: Ungarn das Stimmrecht zu entziehen. Aber dafür müsste Polen auf sein Vetorecht verzichten. Und auch das zeichnet sich (noch) nicht ab.
AI-Meldungen
Protest: Zum Fußballländerspiel Deutschland-Italien entrollte eine Fangruppe von Borussia Mönchengladbach ein riesiges Transparent mit der Aufschrift: „15 000 Tote für große Kulissen. FIFA und Co. Ohne Gewissen. Boycott Katar.“ Beim DFB scheint die Protestbereitschaft gegen die Ausbeutung der Arbeiter und die Unterdrückung der LGBTQ-Szene nicht sehr ausgeprägt zu sein, man will sich nach zwei missglückten Turnieren mehr auf die sportlichen Zielsetzungen konzentrieren. Die Fans sahen das anders.
Die Ultras gegen Katar
Die Zahl 15 000 bezieht sich auf Gesamtzahl von nicht-katarischen Staatsbürgern, die seit der Vergabe der WM zwischen 2010 und 2020 in Katar verstorben sind. Bei den tödlichen Bauunfällen kann man zwischen drei (Katar), 50 (Internationale Arbeitsorganisation/ILO) und 6500 (Guardian) wählen.
Haftbedingungen: Alexej Nawalny ist unfreiwillig umgezogen. Er wurde in ein Straflager für Wiederholungstäter verlegt, wo die Bedingungen deutlich härter sind. Er darf seltener Besuche empfangen, kann in einer Einzelzelle isoliert werden und hat bei Regelverstößen mit härteren Strafen zu rechnen. Wir kennen einen Wiederholungstäter, der auf einem roten Teppich durch goldene Türen schreitet.
Meinungsfreiheit: In Simbabwe steht das Urteil gegen Tsitisi Dangarembga bevor – und das schon seit zwei Jahren. Tsitsi hatte 2020 mit einer Freundin am Straßenrand gegen die Korruption protestiert und die Freilassung eines inhaftierten Journalisten gefordert, also zu „öffentlicher Gewalt aufgerufen und gegen die Covid-19 Regelungen verstoßen“. Im Mai 2021 erhielt sie in Abwesenheit den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, im Mai dieses Jahres glückte ihr die Ausreise zu ihrem deutschen Ehemann.
Politische Gefangene: In Kuba sind 381 Oppositionelle zu teils hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden, weil sie im Juli 2021 weitgehend friedlich gegen die Misswirtschaft und für demokratische Rechte demonstriert hatten. Die Urteile seien „auf einwandfreier rechtlicher Grundlage“ gefällt worden. Darauf braucht man einen Cocktail Cuba Libre!
Todesstrafe: Im irakischen Parlament, normalerweise heillos zerstritten, wurde mit großer Mehrheit ein Gesetz angenommen, das Irakern unter Androhung von lebenslanger Haft oder der Todesstrafe jeglichen Kontakt zu Israelis oder israelischen Institutionen verbietet. Das Gesetz lautet: „Normalisierung und Aufnahme von Beziehungen mit dem zionistischen Gebilde kriminalisieren“ – und ist nicht mehr wert als der Wortlaut, wie es formuliert ist.
Extralegale Tötungen: Im Norden Mexikos wurden zwei Jesuiten und ein Touristenführer in der Kirche erschossen. Die Jesuiten hatten sich in der vom Bandenkrieg heimgesuchten Region um friedliche Strukturen bemüht. Auch der Touristenführer scheint auf der Flucht vor der Drogenmafia gewesen zu sein.
Notizen aus einer gespaltenen Welt
„Wir haben nur diese eine Erde“, aber es geht sehr widersprüchlich auf ihr zu. Hierzu einige Überschriften:
„Istanbul prügelt, New York macht Party“: 373 Festnahmen bei ‚Gay Pride‘ Parade/Christopher Street Day in der Türkei – friedliche Party im Big Apple/New York.
„Kleines Wunder gegen Waffengewalt“ – aber schnell entzaubert: Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hat sich der Kongress in Washington auf eine Reform der Waffengesetze geeinigt, aber auch das war nur möglich, weil die geplanten Veränderungen mehr als dürftig sind. Und einen Tag später hat das Oberste Gericht das Recht zum Tragen von Waffen in der Öffentlichkeit gestärkt. Das ist bei uns der Polizei vorbehalten, aber zuhause stapeln sich in Bayern immerhin 1,2 Millionen legale Schusswaffen, also eine für jeden elften Bayern – und einige von ihnen in der Hand von Rechtsextremisten. Da kommt mir wieder eine Meldung aus dem Jahre 2017 in den Sinn, die unter dem reißerischen Titel
„Als Miesbach wie Chicago war“
die Zahl der legalen Schusswaffen im Landkreis aufführte. Man kam zunächst auf 12 518 Personen. Diese Zahl erwies sich als grob unrichtig, aber nur was die Anzahl der Personen anbelangte. Die Zahl 12 518 bezog sich auf die Anzahl der Waffen, und die waren in den Händen von 2 523 Personen, im Schnitt also fünf Waffen pro Person. Ob diese Korrektur beruhigt, sei dahingestellt.
„Khashoggi-Weg vor Saudi-Botschaft“: Der Stadtrat von Washington D.C. hat die Straße gegenüber der saudischen Botschaft unbenannt – und das kurz vor der Reise von Biden nach Saudi-Arabien.
„Friedlichen Verlauf erzwungen“: Selbst der Merkur, der den massiven Polizeieinsatz beim G-7 Gipfel im Elmau grundsätzlich begrüßt hat, fand es doch
„auch in Teilen bizarr, wenn Hundertschaften ein Häuflein von 50 Demonstranten zu einem Fleckchen fahren, von dem man fast nur durchs Fernrohr das Schloss sehen kann, um sie dort 30 Minuten Transparente halten zu lassen“.
Schlusschoral
Ben Rhodes, einst Redenschreiber von Obama hat ein Buch geschrieben, das bei aller Kritik an Russland und China auch das Versagen des Westens in den Blick nimmt. Und ein Rezept, um dem „liberalen und demokratischen Idealismus“ wieder zu beleben, ist die Zentrierung der Menschenrechte im weltweiten Dialog.
„Menschenrechte dürfen nicht mehr nur Thema unter vier Augen sein, wo in maximaler Diskretion einige Fälle besprochen werden – sie müssen das zentrale Thema im weltweiten Dialog werden.“
Juli 2022
„Was der Juli verbricht,
rettetet der September nicht.“
Bauernregel – aber auch gültig für andere Berufsgruppen
Russland – Ukraine
Wenn man sich frägt, wer, was, wo im Juli verbrochen hat/wurde, was im September (voraussichtlich) nicht gerettet ist, stößt natürlich unweigerlich auf den Krieg vor unserer Haustür. Dazu gab es einen weiteren Brief deutscher Intellektueller, die an die Ukraine appellierten, auf die Fortführung des Krieges zu verzichten, sich die Rückeroberung der besetzten Gebiete (einschließlich der Krim) aus dem Kopf zu schlagen und den Traum von einem vollständigen Sieg über Russland aufzugeben. Der Westen solle auf Sanktionen und Waffenlieferungen verzichten und sich stattdessen um Vermittlung zwischen den Kriegsparteien bemühen. Der Brief wurde unter dem Titel „Waffenstillstand jetzt!“ veröffentlicht, aber im Bericht des Merkur tauchte auch das Wort „Kapitulation“ auf - und das bezieht sich wohl auf die Ukraine.
Näher am Verbrechen im engeren Sinn ist die Drohung prorussischer Separatisten, drei zum Tode verurteilte Ausländer hinzurichten. Die Männer waren im April in Mariupol gefangen genommen worden und wurden als „ausländische Söldner“ eingestuft, die keinen Anspruch auf den Schutzstatus von Kriegsgefangenen hätten. Auch reguläre ukrainische Gefangene berichten von Misshandlungen und Folter, die im Gegensatz zu den Übergriffen ukrainischer Soldaten, wo es sich um „Einzelfälle“ zu handeln scheint, „systematischen“ Charakter hätten.
Genug Material für die Internationale Konferenz, zu der die Niederlande nach Den Haag eingeladen hatten. Das Thema: Verfolgung russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine. Der niederländische Außenminister betonte, dass man auch „die Großen nicht laufen lassen“ dürfe:
„Es war der Kreml, es war Putin, der diesen komplett ungerechten Krieg angefangen hat. Seine Armee begeht schreckliche Kriegsverbrechen.“
Die Konferenz wurde nur von westlichen Staaten beschickt. Es kam eine Grußbotschaft von Selenskij, aber keine von Putin.
Weitere Konfliktherde
Nicaragua: Zu Fuß verließen 18 Nonnen von Mutter Teresas Orden „Missionarinnen der Nächstenliebe“ das Land in Richtung Costa Rica. Die Schwestern hatten in Nicaragua Gemeinde- und Sozialarbeit betrieben, aber Ende Juni nahm man dem Orden die Rechtspersönlichkeit und eskortierte die Nonnen aus dem Land. Als Grund für die Ausweisung wurde u.a. unklare Auskünfte über die Finanzierung des Ordens angegeben, aber dahinter steckt wohl eher der Konflikt der Regierung mit der katholischen Kirche, die inzwischen zu den letzten Kritikern des zunehmend repressiveren Systems gehört. Dabei hatte Präsident Daniel Ortega einmal als „Hoffnungsfigur der globalen Linken“ gegolten. Jetzt führt der Mann sein Land in die Diktatur zurück, aus der er es 1979 befreit hat.
Die Ausweisung der Nonnen
Im August wurde dann bei einer nächtlichen Razzia der Bischof von Matagalpa festgenommen. Um die Polizeiautos auszulasten, hat man gleich noch vier Priester, zwei Seminaristen und einen Laien mitgenommen.
Brasilien: Die Präsidentschaftswahlen vom Oktober werfen ihre Schatten voraus – und die sind nicht schwarz, sondern rot. Im Gefolge einer Geburtstagsparty, auf der auch die Kandidatur von Lula da Silva von der linken Arbeiterpartei gefeiert wurde, kam es zu einem Konflikt des „Geburtstagskindes“ mit einem Anhänger des amtierenden Präsidenten Bolsonaro. Als dieser sein Autoradio aufdrehte und Musik spielte, die für Bolsonaro warb, gab es zunächst Beschimpfungen und dann einen Schusswechsel, bei dem der Lula-Anhänger starb und der Bolsonaro-Fan schwer verletzt wurde. Eine Zeitung erinnerte an den Ausspruch Bolsonaros aus dem Wahlkampf von 2018:
„Knallen wir den Abschaum von der Arbeiterpartei ab.“
Hongkong: Am 1. Juli wurde in der Stadt der 25. Jahrestag der Übergabe Hongkongs an China gefeiert. In der Vergangenheit war das der Anlass, um in einem Massenaufmarsch für Demokratie und Freiheit zu demonstrieren. Heuer wurde das Ereignis von einem Großteil der Bevölkerung ignoriert, vor Protestaktionen wurde gewarnt, und das „Fest“ fand hinter einer hohen Absperrung vor einer Reihe handverlesener „Patrioten“ statt. Zu den Gästen zählte Parteichef Xi Jinping, der Festlandchina zum ersten Mal seit der Pandemie wieder verlassen hatte. Er begrüßte es, dass "die Stadt aus der Asche auferstanden“ sei und lobte die „korrekte“ Umsetzung des Prinzips „Ein Land, zwei Systeme“. Seit der Einführung des Sicherheitsgesetzes kann von zwei Systemen keine Rede mehr sein. Was Freiheitsberaubung anbelangt, wird Hongkong China immer ähnlicher.
USA: „Gegen den Willen des Volkes“, so die SZ, entscheide derzeit der Oberste Gerichtshof, der von einer „fundamental-christlichen Mehrheit“ im Verhältnis 6:3 dominiert wird. Und im Untertitel heißt es unheilvoll:
„Abtreibung, Waffen, Klima, Kirche und Staat: Die Entscheidungen des Supreme Court bedeuten für die USA … den Aufbruch in eine finstere Zukunft.“,
die, so ist hinzuzufügen, nur noch durch die Rückkehr von Donald Trump ins Präsidentenamt zu toppen ist. Was ist passiert?
- Kirche und Staat: Das höchste Gericht hat es einem Fußballtrainer an einer Schule erlaubt, vor oder nach Spielen öffentlich auf dem Spielfeld zu beten. Das verstößt gegen die Trennung von Kirche und Staat, wäre aber bei uns und in vielen US-Staaten kein großer Aufreger.
- Klima: Das Gericht hat die Befugnisse der Umweltbehörde EPA eingeschränkt. Die Regierung darf der Stromwirtschaft nun keine Grenzwerte für den Ausstoß von Treibhausgasen mehr vorschreiben. Jetzt ist zu befürchten, dass die USA ihre Klimaziele verfehlen.
- Waffen: Wie schon erwähnt, hat sich das Gericht auch der Waffengesetze angenommen. Es erklärte ein Gesetz des Bundessstaates New York, dass das Tragen von Waffen in der Öffentlichkeit nur mit einer Lizenz erlaubte, für verfassungswidrig. Jetzt darf man im Central Park ungestraft auf Tauben schießen.
- Abtreibung: Die Entscheidung, die am meisten Furore machte und tatsächlich gegen den Willen der Mehrheit gefällt wurde, war die Aufhebung des landesweiten Rechts auf Abtreibung, die in den meisten Bundesstaaten innerhalb der ersten 20 Wochen möglich war, und die Rückübertragung an die Gesetzgebung der Bundesstaaten. Und die haben begierig zugegriffen. Jetzt muss man sich als Frau in einem von Republikanern regierten Bundesstaat schnell überlegen, in welchen Staat man fahren muss, wenn man ein Kind nicht bekommen möchte.
Da in manchen Staaten ein Abtreibungsverbot auch für Schwangerschaften gilt, die durch Vergewaltigung oder Inzest zustande kamen, musste ein 10-jähriges Mädchen aus Ohio, das nach einer Vergewaltigung schwanger wurde, nach Indiana fahren. Gegen die Ärztin, die dort den Abbruch durchführte, wurde eine Ermittlung eingeleitet, weil sie den Abbruch angeblich nicht fristgerecht den Behörden gemeldet hatte.
Abbilden möchten wir natürlich nicht dieses Mädchen, wohl aber den „Verein“, dessen Mehrheit Urteile gegen Klimaschutz aber für das Waffentragen gefällt hat. Seine Mitglieder sind auf Lebenszeit gewählt, eine „Abtreibung“ der Sechsergruppe ist leider nicht möglich.
Nur auf dem Foto friedlich vereint.
AI-Nachrichten
Politische Gefangene: Innerhalb weniger Tage sind im Iran drei prominente Filmemacher verhaftet worden. Die Regisseure Mohammad Rasoulof und Mostafa Al-Ahmad wurden wegen eines Aufrufs gegen Gewalt festgenommen. Sie sollen eine Erklärung mit dem Titel „Put down your gun/Leg‘ dein Gewehr ab“ verfasst haben, die als „konterrevolutionär“ eingestuft wurde. Der Dritte im Bunde, Jafar Panahi, wurde festgenommen, als er sich vor Ort nach seinen beiden Kollegen erkundigte. Er war schon früher wegen „Propaganda gegen das System“ zu sechs Jahren verurteilt worden, und diese Strafe musste er jetzt antreten. Man vermutet, dass die iranischen Filmemacher davor gewarnt werden sollen, der sich ausbreitenden Protestbewegung auf dem Lande und in den Kleinstädten Bild und Stimme zu geben. Derzeitiger Status unbekannt.
Verschwundene: In Mexiko gelten seit 1964 mehr als 100.000 Menschen als verschwunden. Die meisten sind vermutlich ermordet worden. In nur 35 Fällen kam es zu einer Verurteilung von Tätern. Die 43 Studenten von Ayazinto, die 2014 von der Drogenmafia in Kooperation mit dem Militär ermordet wurden, hat man im August für tot erklärt.
„Lebendig wollen wir sie zurück“
Kriegsverbrechen: Das AI-Krisenteam in der Ukraine hat zweifelsfreie Belege für Kriegsverbrechen durch russische Truppen geliefert. Genannt werden der Einsatz verbotener Streumunition und die Bombardierung von Wohnvierteln in Charkiw und des Theaters von Mariupol. Im August wird ein kritischer (und kritisierter) AI-Bericht erscheinen, in dem der ukrainischen Armee vorgeworfen wird, Stützpunkte in Wohngebieten zu errichten und von dort aus Angriffe durchzuführen. Diesen Bericht nehmen wir uns für den August vor.
Frauenrechte: Frauen sterben „einen Tod in Zeitlupe“, so wird im AI-Bericht zu Afghanistan eine afghanische Journalistin zitiert. Schulen für ältere Mädchen werden geschlossen, Reisen sind nur in männlicher Begleitung erlaubt, Demonstrantinnen werden misshandelt oder verschwinden, Zwangsverheiratungen sind auf dem Vormarsch – und wer als Frau zuhause Gewalt erfährt oder mit dem aufgezwungenen Ehemann nicht zurechtkommt, trifft auf zugesperrte Frauenhäuser. Im Zuge der „Aufräumungsarbeiten“ wurden nach einem UN-Bericht 173 Journalisten und 65 Menschenrechtsaktivisten angegriffen und 160 Mitarbeiter der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräfte getötet. Als AI-Mitglied darf man es sich ja nicht wünschen, aber wenn sich der IS und die Taliban gegenseitig fertigmachen würden, …!
Todesstrafe: Aufgeräumt wird seit dem Putsch vom Februar 2021 auch in Myanmar. Gemordet hat das Militär von Anfang an, aber im Juli wurden die ersten „offiziellen“ Hinrichtungen vollzogen. Die Opfer waren Demokratie-Aktivisten, einer von ihnen ein ehemaliger Abgeordneter. Zu einer harten Verurteilung durch die UN kam es nicht, weil China und Russland ihre Zustimmung verweigerten, verständlich, weil China Myanmar wirtschaftlich ausbeutet, und Russland der Junta Waffen verkauft. Ob darunter auch die Landminen sind, die, nach einem AI-Bericht, das Regime „auch in Höfen, Häuern und Treppenhäusern platziert“, ist durchaus vorstellbar.
In Singapur kam es erneut zu einer Hinrichtung, die fünfte sei März. Diesmal traf es einen „Großhändler“ im Drogengeschäft. Er war im Besitz von 33 Gramm (!) Heroin erwischt worden.
Schutz von Minderheiten: Die EU-Kommission klagt (wieder einmal) gegen die ungarische Regierung. Die hatte vor einem Jahr ein „Kinderschutzgesetz“ erlassen, das u.a. Werbung verbietet, in der Homo- oder Transsexuelle als Teil einer Normalität erscheinen. Die Kommission ist der Meinung, dass das Gesetz Minderheiten auf Grundlage ihrer sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität diskriminiert. Was mit Sicherheit nicht mehr „Teil der Normalität“ ist, ist Orbans Verständnis von „Rechtsstaatlichkeit“.
UN-Menschenrechtsrat: Wir haben im Mai herbe Kritik an der Chinareise der Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet geübt, aber der Rat ist als Ganzes ein Problem. Ein UN-Beamter vergleicht ihn mit einer „Polizeitruppe, die aus Kriminellen besteht“. Die Kriminellen sind die Autokratien und Diktaturen, die in ihren Ländern nach Belieben und ungestraft schalten und walten (China in Xinjiang), aber „sich mit ihrem Sitz im Menschenrechtsrat schmücken“. Dass es bei der 50. Sitzung trotzdem zu einer „Sternstunde“ gekommen ist, war dem Klimawandel zu verdanken. Da scheint sich der Rat auf den Weg zu machen, um eine Art Klima-Menschenrecht zu etablieren.
Erfolgsmeldungen – oder wie man’s nimmt
- Die Ordensfrau Juliana Seelmann wurde vom Vorwurf der Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt freigesprochen. Die Schwester hatte eine Nigerianerin, die einen negativen Bescheid erhalten hatte, aber bei einer Zurückweisung nach Italien dort möglicherweise wieder in der Zwangsprostitution gelandet wäre, im Kloster Oberzell bleiben lassen. Das Gericht war der Meinung, Beherbergung und Verpflegung allein wären noch keine Beihilfe. Da hatte jemand bei Gericht offensichtlich die Bibel gelesen, denn die Speisung der Hungrigen gehört dort zu den Seligpreisungen und dürfte nicht zu Schuldsprüchen führen.
- Ein Erfolg ist es sicher nicht, wenn eine gut integrierte nigerianische Familie aus Karlsfeld/Lkr. Dachau in der Nacht abgeholt und abgeschoben wird. Außer vielleicht für die zuständige Behörde, die „Vollzug“ melden konnte! Aber eindrucksvoll war der Protest vor dem Rathaus in Dachau, bei dem sich 250 Menschen versammelten und wo der SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Schrodi sagte:
„Wenn das Recht so ist, dass es solche Fälle zulasse, dann müsse das Recht geändert werden.“
„Holt sie heim!“
Eine besondere Tragik erhält der Fall, weil die Familie vermutlich gute Aussichten gehabt hätte, unter das neue Chancen-Aufenthaltsrecht zu fallen, das die Bundesregierung plant. Hätte man, meint da der Flüchtlingshelfer in seiner angeborenen Naivität, dieses Gesetz nicht noch abwarten können?
- Eine Gesetzesänderung, bei der man abwechselnd mit dem Kopf nickt und den Kopf schüttelt, ist das Vorhaben von Justizminister Buschmann die Ersatzfreiheitsstrafen zu halbieren. Bei Schwarzfahren und kleineren Diebstählen saß man bisher einen Tag im Gefängnis, wenn man den Tagessatz der Geldstrafe nicht bezahlen konnte. Jetzt soll es nur noch einen halben Tag geben. Man verspricht sich davon nicht nur eine Reduktion der Kosten für die Haftplätze, sondern auch einen Anreiz für die Täter, gemeinnützige Arbeit zu leisten. Einige von ihnen waren allerdings von den 24 Stunden (?) „Hilfsarbeit“ so abgeschreckt, dass sie lieber ins Gefängnis gingen.
- Papst Franziskus war auf einer schweren Bußwallfahrt zur indigenen Bevölkerung in Kanada und bat um Vergebung für die Behandlung von über 100.000 indigenen Kindern, die man ihren Familien entrissen hatte und an den „Residential Schools“ und angeschlossenen kirchlichen Internaten zu „waschechten“ Kanadiern erziehen wollte. Die letzte dieser Schulen wurde erst 1996 geschlossen.
Papst mit indigener Tiara
Ob ein Papst im Federschmuck allerdings ausreicht, um den „kulturellen Genozid“ auszugleichen, sei dahingestellt.
Kuriosa – nicht alle jugendfrei
Da sich die schlechten Nachrichten im Monat Juli gehäuft haben, sollen zur Entspannung (?) einige Meldungen nachgereicht werden, die in Deutschland und in der Region durchaus Ereignischarakter hatten und das bekannte Zitat aus dem Geschichtsunterricht „Andere mögen Kriege führen, du glückliches Österreich heirate“ etwas abwandeln. Wir in Deutschland heiraten nicht gleich, wir machen auf Sexismus.
Der Partysong „Layla“: Das Lied, das gerne am Ballermann, aber auch bei der Jungen Union Hessen gesungen wird, hat einige ordinäre Zeilen, die unter die Gürtellinie, zumindest unter die Gürtellinie von Frauen, gehen. Als es auf einem Volksfest verboten wurde, marschierte es postwendend als offizieller Sommerhit an die Spitze der deutschen Charts und wurde von Justizminister Buschmann verteidigt, als wäre die Kunstfreiheit in Gefahr. Ist sie nicht, meine ich, wenn man das Lied von der Playliste eines Volksfestes streicht! In der Bierhalle vom Gillamoos hat man meinen Appell leider nicht gehört. Dort schallte das Lied durch den Raum, nachdem der Landrat von Kelheim auf der CSU-Party einen unflätigen Vergleich zwischen Alkoholkonsum und Fahrtüchtigkeit in München und im (fiktiven) Obergunzelszell gezogen hatte. Und es war schwer zu entscheiden, ob jetzt das Lied oder der Vergleich blöder waren.
Das Plakat für die „Starkstromparty“: Nicht um die Freiheit des Singens, sondern um die des Zeigens ging es dem Burschenverein von Dietramszell, als er mit einer knapp bekleideten Frau für eine Party warb. Viele Dietramszeller waren empört, das Unrechtsbewusstsein des Burschenvereins hielt sich in Grenzen. „Auch die Mädchen in meinem Bekanntenkreis haben kein Problem damit“, meinte der Vorstand der Burschen. Im Gegensatz zu anderen Ländern ist in Deutschland sexistische Werbung nicht verboten. In Dietramszell wurden die Plakate schließlich an den Wänden von Privathäusern aufgehängt, weil das Landratsamt eine Entfernung an den Straßen entlang verfügt hatte. Könnte ja die Autofahrer ablenken!
Frauenfußball: In Großbritannien wurde bei der Europameisterschaft der Frauen so guter Fußball gespielt, dass man den Männerfußball nicht vermisste. Was die SZ dann aber über den Sexismus der Männer in Vergangenheit und Gegenwart geschrieben hat, treibt einem die Haare zu Berge. Wir begnügen uns mit einem Zitat der Torhüterin Almuth Schult:
„Wenn da jemand fragt, ob er ein Foto mit einem machen kann, und plötzlich hat man seine Hand am Hintern.“
All das sind, wie es die Kolumnistin Jagoda Marinic (viel zu) dezent ausdrückte, „Symptome eines bestehenden Missstands in unserer Gesellschaft“.
August 2022
„Ob ihr mit dem Nächsten sprecht oder durch die Straßen geht,
seid ganz gütig und habet ein offenes Herz.“
Vinzenz von Paul
„Bösmenschen“
Da gibt es doch tatsächlich Menschen, die den heiligen Vinzenz von Paul weder kennen, noch seinen Rat beherzigen. Und dabei könnte man, wenn man ihm folgen würde, gelassener miteinander reden und weitaus ruhiger durch die Straßen gehen.
- Civitanova Marche/Italien: In dem Badeort an der Adria wurde ein nigerianischer Straßenhändler von einem Süditaliener totgeprügelt – und das vor laufender Kamera. Offenbar hatten Umstehende das Geschehen gefilmt, aber nicht eingegriffen. Die Polizei wurde erst gerufen, als der Täter geflüchtet war. Nach seiner Festnahme vermied die Polizei das Wort „Rassismus“, sondern sprach von einer „abnormen Reaktion“. Ob das schon vorauseilender Gehorsam auf die Wahlen im September war, wo ein Rechts-Rechts Bündnis den wachsenden Rassismus im Lande eher fördern als bekämpfen wird?
- Leipzig: Im Stadtteil Lausen-Grünau wurde ein Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft verübt. Nur zwei Tage später wurde im gleichen Stadtteil an der Eingangstüre einer Kita, die ukrainische Kinder betreut, ein weiteres „punktuelles Feuer“ gelegt. Über der Tür hängt ein Schild mit der Aufschrift „Willkommen“.
- Mühldorf: An der Gedenkstätte des KZ-Außenlagers „Mühldorfer Hart“ wurden Graffiti mit Hakenkreuzen und antisemitischen Parolen entdeckt. Auch der Name „Hitler“ ist gut zu sehen. Im Außenlager wurde seit 1944 ein Rüstungsbunker gebaut. 3000 der insgesamt 8300 Häftlinge sollen bis Kriegsende umgekommen sein. Die Polizei schließt als Täter „irrationale und destruktive Jugendliche“ nicht aus, denn, Gott sei Dank, hat man auch ein einsames „Shit Nazis“ unter den Schmierereien gefunden.
Graffiti von Rechtsaußen
Schon im Juli, wohl zum „Gedenken“ an den 20. Juli 1944, hatten Unbekannte nahe der Gedenkstätte des KZs Buchenwald/Weimar sieben Erinnerungsbäume zerstört. Waren vermutlich „destruktive Holzfäller“!
- Freie Sachsen: Eine der unsympathischsten Gruppierungen des rechten Flügels wollte in Heidenau einen Schauprozess gegen Wirtschaftsminister Habeck und seine Energiepolitik führen. Das Straßentheater wurde verboten, aber sein Vorläufer auf Facebook hätte Vinzenz von Paul sicher nicht gefallen. Da zeigte man einen Körper in einem orangefarbenen Häftlingsanzug mit Sack über dem Kopf, und eine Stimme verkündete, dass Habeck „vom Volk zu 16 Wochen Pranger auf dem örtlichen Marktplatz“ verurteilt worden sei. „Ab nach Guantánamo!“ kann man die Freien Sachsen leider nicht schieben, obwohl zu ihrem Parteiprogram notfalls auch der „Austritt aus der BRD“ gehört.
- Wutwinter: Die Freien Sachsen gehören auch zu jener Allianz, die aus dem Gemenge von Energieknappheit, Inflation und Ukraine-Krieg Kapital schlagen möchte. Auch die AfD verspricht einen heißen Herbst, der „Volkes Zorn“ auf die Straßen bringen soll. Die Angst vor dem Wutwinter treibt aber auch die Regierung um. Außenministerin Baerbock hat vor möglichen „Volksaufständen“ gewarnt, aber schnell wieder zurückgezogen, als sie merkte, mit welchen Gesellen sie sich da eingelassen hätte. Und der Verfassungsschutz hat die Einheit „Komplex“ eingerichtet, die herausfinden soll, wie heiß Herbst und Winter werden könnten. Zugegeben, das Gemenge ist beängstigend, aber den „Massenaustritt aus der BRD“ wird es nicht geben.
Eher „Bescheuert!!“
Im Dezember, nach dem Entlastungspaket mit dem knalligen Namen „Doppelwumms“, gab es Signale der Entspannung. „Der befürchtete Wutwinter ist ausgeblieben.“ Das Wort „bisher“ hat man vergessen.
- Der Fall Lisa-Maria Kellermayr: In diesem Fall ist die Wut berechtigt. Die österreichische Ärztin hatte sich Ende Juli das Leben genommen, weil sie die Beleidigungen und Morddrohungen von Impfgegnern nicht mehr ertragen hatte. Die SZ nahm den Selbstmord zum Anlass, um dafür zu plädieren, auch gegen virtuelle Täter härter vorzugehen. Anders als in der realen Welt, werden Anpöbelungen und Morddrohungen
„im Netz seit Jahren geduldet. Dort ist ein Mob unterwegs, der seine Gegner immer systematischer mit übelsten Methoden attackiert. Es gibt Anleitungen dafür, wie Stalker ihre Opfer zermürben sollen.“
Wen man solche Meldungen liest, vergisst man für Augenblicke seine christliche Sozialisation und versteigt sich zu der Behauptung, dass „es Menschen gibt, auf die man gut verzichten könnte“.
Nachrichte aus dem Ausland
- Ukraine: Bei einer Explosion im Gefangenenlager Oleniwka in der Ostukraine sind Ende Juli zwischen 50 und 100 ukrainische Kriegsgefangene ums Leben gekommen. Wie üblich beschuldigt man sich gegenseitig: Russland behauptet, die ukrainische Armee hätte das Lager mit Himars-Raketen beschossen, die Ukraine geht davon aus, dass das russische Militär durch Liquidierung der Gefangenen Spuren von Folterungen verbergen wollte. Für die ukrainische Version spricht die Tatsache, dass angeblich schon vor dem Anschlag Gräber ausgehoben worden waren und vom russischen Personal niemand verletzt wurde.
Die Trauer der Angehörigen
- Bangladesch: Verstörend ist das Schicksal der 700.000 Rohingya, die 2017 aus Myanmar vertrieben worden waren. Das „Zufluchtsland“ Bangladesch will sie nicht behalten, das „Heimatland“ Myanmar sie nicht zurückkehren lassen. Zum Symbol der Ausweglosigkeit ist nun eine winzige Insel im Schwemmland des Indischen Ozeans geworden. Dorthin sollen 100.000 Rohingyas umgesiedelt werden, wohl bis der Anstieg der Ozeane das Problem auf „natürliche“ Weise löst.
- Afghanistan: 40 Frauen feierten in Kabul den Jahrestag der Machtergreifung durch die Taliban auf ihre Weise. Sie marschierten mit einem Transparent mit der Aufschrift „Der 15. August ist ein schwarzer Tag“ vor das Bildungsministerium, skandierten dabei „Brot, Arbeit und Freiheit“ – bis die Demo durch Schüsse in die Luft und Schläge mit dem Gewehrkolben aufgelöst wurde.
Zerstörte Träume in Afghanistan
- Mittelmeer: Die Zahl der Flüchtlinge im Mittelmeer steigt wieder drastisch an, mehr als 1000 sollen dieses Jahr bereits ertrunken sein. Einige EU-Länder reagieren darauf mit einem „Solidaritätsmechanismus“, der die Verteilung der Flüchtlinge regeln und die Anrainerstaaten entlasten soll. Rund läuft der Mechanismus allerdings noch nicht: Einige Länder weigern sich, Flüchtlinge aufzunehmen, man kann sich mit Zahlungen an die Anrainerstaaten freikaufen, und die Vorbereitungen sind noch am Laufen und sollen erst „zeitnah“ umgesetzt werden. Da stellt sich dann schon die Frage, ab wie vielen Ertrunkenen die „Zeitnähe“ erreicht ist.
Nachrichten aus Deutschland
- Flüchtlinge: Selbst für Pro Asyl weist das neue „Chancen-Aufenthaltsrecht“ der Bundesregierung „in die richtige Richtung“ – und es hätte, nebenbei gesagt, einen griffigeren Namen verdient. Das Gesetz zielt darauf ab, dass Menschen, die bereits lange in Deutschland leben, die Chance auf ein gesichertes Bleiberecht erhalten. Pro Asyl weist aber auch auf Hürden hin, die darauf zurückzuführen sind, dass dieser Aufenthaltstitel nur auf ein Jahr befristet ist und der Flüchtling beispielsweise Schwierigkeiten hätte, sich in dieser Zeit einen Identitätsnachweis aus seinem Herkunftsland zu besorgen, da viele Botschaften ihre Mitarbeit verweigern.
- Polizei: Bei einem Polizeieinsatz in Dortmund wurde ein 16-jähriger Senegalese durch vier Kugeln aus einem Maschinengewehr tödlich getroffen. Bei der Frage, ob die tödlichen Schüsse „verhältnismäßig“ waren, blieb vieles unklar. Selbst dem NRW-Innenminister Herbert Reul „drängte sich der Eindruck auf, dass einige Dinge nicht einwandfrei gelaufen sein können“.
- „Krieg gegen Russland“: In einem Tweet gegen die Grünen hat Sahra Wagenknecht für Aufregung gesorgt. „Der Klimawandel war für Grüne gestern wichtig, heute habe der wahnsinnige Krieg gegen Russland“ bei der Ökopartei oberste Priorität. Ihre Parteikollegen überschlugen sich mit Distanzierungen. Parteichefin Janine Wissler erklärte, Russland führe einen Angriffskrieg und das „anders darzustellen“ sei eine „Verdrehung der Fakten“ und nicht Position der Linken. Trotzdem durfte Frau Wagenknecht die Partei in der Haushaltsdebatte vertreten und sorgte mit ihrer Äußerung, die Bundesregierung führe „einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten“ für weiteres Kopfschütteln – und für Applaus der AfD und dem Teil der Linksfraktion, der nicht durch Abwesenheit glänzte.
- Ukraine-Flüchtlinge 2. Klasse – Sinti und Roma:
Der Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung hat mehr Hilfe für diese Personengruppen gefordert. Teilweise kämen Hilfeleistungen bei ihnen nicht an. Auch seien sie Benachteiligungen ausgesetzt. Sie seien, wie bereits erwähnt, aus Zügen verwiesen und bei Vermittlung an Privatunterkünfte nicht berücksichtigt worden. Es scheint auch bei uns eine geradezu genetische Abneigung gegen „Zigeuner“ zu geben.
AI-Nachrichten – jede Menge
Mordversuch: Salman Rushdie, der Verfasser der „Satanischen Verse“ (1988), wurde in Chautauqa/ New York State Opfer eines Attentats, das er nur knapp überlebte. Der Täter hatte im nacheilenden Gehorsam die Fatwa des Ayatollah Chomeini aus dem Jahre 1989 vollstreckt, in der Chomeini „alle Muslime aufgefordert hatte, Rushdie, ohne zu zögern zu töten“. Es ist umstritten, ob diese Fatwa je zurückgenommen worden ist, das Kopfgeld jedenfalls war auf 3,3 Millionen Dollar erhöht worden. Das wird sich Hadi Matars Familie dann von den iranischen Revolutionsgarden abholen, denn er soll in den sozialen Medien solche Kontakte gepflegt haben. Der Iran weist jede Verstrickung in die Tat zurück und schiebt die Verantwortung Rushdie selbst zu. In muslimischen Kreisen, die in Rushdie den Leibhaftigen sehen, wird Matar als Held gefeiert.
Der „Satansjäger“
Meinungsfreiheit: Russland räumt mit den Restbeständen der Opposition auf. Alexej Podnebesnij wurde zu 30 000 Rubel verurteilt, weil er die „militärische Spezialoperation“ in Anführungszeichen gesetzt hatte, die Lehrerin Irina Gen erhielt fünf Jahre auf Bewährung, weil sie „nicht wahrheitsgetreue Nachrichten“ über die russischen Streitkräfte verbreitet hätte. Sie soll u.a. behauptet haben, die Armee habe „Gebiete anderer Staaten besetzt“. Ein Schüler hatte ihre Worte zum Krieg heimlich auf Band aufgenommen. Dem Oppositionspolitiker Ilja Raschin drohen zehn Jahre Haft, weil er auf seinem Youtube-Kanal einen BBC-Bericht über den Tod von Zivilisten in Butscha gezeigt hatte. In der vorgeschriebenen Version des Kremls war Butscha nur eine „Provokation westlicher Geheimdienste“. Im Dezember wurde Jaschin wegen „Fälschungen über die Streitkräfte“ zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt.
Menschenrechtsaktivisten: Im Westjordanland gab es eine nächtliche Razzia. Die israelische Armee schloss die Büros von sechs palästinensischen NGOs, die im Oktober 2021 als „Terrororganisationen“ eingestuft worden waren. Die handfesten Beweise für eine Zusammenarbeit mit der radikalen Volksfront zur Befreiung Palästinas, die Europäer und Amerikaner gefordert hatten, wurden nicht geliefert. Selbst die CIA fand keine Hinweise auf Terrorunterstützung. Deshalb erhärtet sich der Verdacht, dass „Israel … lediglich unbequeme Kritiker seines Besatzungsregimes mundtot machen will“.
Dazu passend das Urteil, das ein israelisches Gericht im Juni gegen Mohammed el-Halabi, einen palästinensischen Mitarbeiter der amerikanischen NGO World Vision verhängte. Er wurde zu 12 Jahren verurteilt, u.a. deswegen, weil er Hilfsgelder unterschlagen und an die Hamas vermittelt haben soll. Sowohl el-Halabi wie auch World Vision haben den Vorwurf zurückgewiesen. Die sechs Jahre, die er bereits in Haft verbrachte, werden ihm (gnädigerweise) vom Strafmaß abgezogen.
Homophobie: „Russlands Kampf gegen den Regenbogen“ titelte der Merkur einen Artikel über den Plan konservativer Kreise, per Gesetz öffentliche Äußerungen über Homosexualität und „nicht traditionelle Werte“ zu unterbinden. Auch die Regenbogenflagge, die westliche Botschaften in Moskau gehisst hatten, soll verboten werden. Dem Gegenwind zum Trotz outen immer mehr Menschen ihre (vom Mainstream abweichende) sexuelle Orientierung. Die Tennisspielerin Darja Kassatkina beispielsweise sagte in einem Interview, dass sie eine Lebenspartnerin hat. Darja trainiert in Spanien, aber da sie sich auch sehr deutlich zum Krieg in der Ukraine geäußert hat, sollte sie besser auch dort bleiben.
Darja mit Partnerin
In Singapur hingegen hat der Premierminister angekündigt, Sex zwischen Männern zu entkriminalisieren. Für Frauen (und andere Geschlechter) hatte es ein Verbot von „Akten grober Unanständigkeit“ nie gegeben. Die Frauen hat man wahrscheinlich verheiratet, bevor sie auf „dumme Gedanken“ kamen.
AI-Bericht zur Ukraine – Ohrfeige 2
Nachdem AI im Februar schon einen umstrittenen Bericht zu Israel veröffentlicht hatte, setzte London jetzt noch einen drauf. In einem Bericht zur Ukraine warf man der ukrainischen Armee vor, routinemäßig Truppen in Wohngebieten, Schulen und (manchmal) auch in Krankenhäusern zu stationieren, von dort auch Angriffe zu starten und damit Zivilisten zu gefährden. Die SZ warf AI vor, Täter und Opfer gleich zu setzen, die AI-Chefin der Ukraine trat zurück und beschuldigte London, die russische Propaganda übernommen zu haben, und die deutsche Sektion bedauerte, dass es nicht gelungen war, die Botschaft vom Schutz der Zivilbevölkerung „präzise und sensibel“ zu vermitteln. Aber wie die Zerstörung des Theaters von Mariupol belegt, geht die russische Armee ohnehin auch auf Ziele los, die eindeutig und ausschließlich Zivilisten beherbergen.
Diskriminierung
Es wird Zeit für eine AI-Meldung, wo nur der Titel echten Schrecken verbreitet. „Grau und grausam“ titelte die SZ einen Artikel über die 58-jährige Moderatorin Lisa
LaFlamme in Kanada, der gekündigt wurde, weil sie keine Lust mehr hatte, jeden Morgen vor ihrer Sendung ihren Haaransatz mit Farbe zu besprühen. Ihr Vorgänger war mit 77 Jahren in den Ruhestand gegangen, selbstverständlich weißhaarig – aber eben ein Mann. Im „wokeness-Jargon“ würde man sagen: Sexism und Agism gehen Hand in Hand. Im September erhielt LaFlamme von einer anderen Nachrichtenagentur den Auftrag, die Beerdigung von Elisabeth II. zu kommentieren. Beim Tod einer 96-Jährigen spielt die Haarfarbe der Reporterin offensichtlich keine Rolle mehr.
Erfolgsmeldungen
UN-Bericht zu China – ein Paukenschlag: Im Mai haben wir über die Reise der UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet nach China berichtet. Und zwar wenig schmeichelhaft! Jetzt aber hat sie, wenige Minuten (!) vor Ende ihrer Amtszeit „die Sau rausgelassen“ und China das vorgeworfen, was ohnehin jeder weiß, nämlich, dass in Xinjiang an der uigurischen Minderheit Menschenrechtsverletzungen begangen werden, die „Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen könnten“. Im Zentrum ihres Berichtes stehen die sogenannten „Berufsbildungseinrichtungen“, wo die „Schüler“ erniedrigender Behandlung und Folter ausgesetzt sind.
„Nun lernt mal schön, Chinese zu sein!“
Frau Bachelet hat die zögerliche Veröffentlichung ihres Berichts auf den „immensen Druck“ zurückgeführt, der auf sie ausgeübt wurde, um das Erscheinen des Berichts zu verhindern. Sie sprach von 40 Regierungen, ohne aber einzelne Länder zu benennen. Aber da braucht man wohl nur auf die Staaten schauen, die von Chinas Gießkanne abhängig sind oder einmal von der Seidenstraße zu profitieren hoffen.
Die SZ wird sehr deutlich:
„Der Text ist ein harter Schlag gegen das Regime in Peking, denn noch nie hat eine so hochrangige UN-Institution Chinas Vorgehen in Xinjiang so deutlich benannt und verurteilt. Nun liegt ein UN-Dokument vor, dem sich keiner entziehen kann: kein Investor in Xinjiang (Volkswagen), kein Kanzler auf Arbeitsbesuch in China.“
Bei seinem Besuch im November wird Bundeskanzler Scholz dem Staats- und Parteichef Xi Jinping keine Grüße von Frau Bachelet ausrichten. Die Wette gilt!
Juristischer Beistand für Sea-Watch
Der Europäische Gerichtshof/EuGH hat entschieden, dass italienische Behörden Rettungsschiffe in ihren Häfen nicht kontrollieren dürfen, wenn es keine belastbaren Anhaltspunkte dafür gibt, dass eine Gefahr für Gesundheit, Sicherheit oder Umwelt vorliegt. Allein die Anzahl der Personen sei für sich genommen kein Grund für eine Überprüfung. Ob deswegen der ehemalige und möglicherweise neue italienische Innenminister Salvini seinen Taschenrechner zuhause lässt, ist fraglich.
Abschlussdissonanz
Ob es als Gegenstück zum Begriff „homo sapiens“ auch den „homo stupidus“ gibt, weiß ich nicht. Dass das folgende Foto diesen Menschentyp (und dessen Hintermänner) zeigt, steht außer Frage. Da stehen sich an einem Grenzübergang zwischen Indien und Pakistan Soldaten gegenüber und versuchen, sich mit einem Ritual einzuschüchtern. Aber solange sie sich selbst die „Hände hoch!“ halten, können sie wenigstens nicht schießen.
In der Gemeinde Wilpoldsried/Allgäu hingegen, ist man dabei, ein Kriegerdenkmal zu einem Friedensdenkmal umzugestalten. Auf dem Denkmal sollen in Zukunft nicht nur der gefallenen Soldaten des Dorfes und zweier Zivilistinnen gedacht werden, sondern auch zweier hingerichteter polnischer Zwangsarbeiter, eines russischen Offiziers und vierer amerikanischer Soldaten, die beim Absturz eines Bombers ums Leben kamen. Ende September soll es eingeweiht werden. Wir lassen gleich einmal den Platz für das Foto frei.
Das Friedensdenkmal von Wilpoldsried
September 2022
„Frauen, Leben, Freiheit“
ist der Slogan, mit dem Frauen (und Männer) seit Mitte September im Iran auf die Straße gehen, und man kann sich kaum eine Begriffsreihe vorstellen, deren Elemente sich so drastisch widersprechen. Frau sein im Iran bedeutet, sich nicht kleiden zu dürfen, wie man will/Kopftuchzwang und den Tod im Gewahrsam der (Un)Sittenpolizei zu riskieren, wenn man einige Haarsträhnen unter dem Kopftuch zeigt. Am
13. September starb die Kurdin Mahsa Amini im Krankenhaus, nachdem sie von der Sittenpolizei wegen ihres „unislamischen“ Outfits festgenommen wurde, dagegen protestiert hatte und dann (mutmaßlich) nach einer Lektion in Sittenlehre ins Koma gefallen war.
Mahsa Amini, 22 Jahre, plötzlicher Frauenstod
Dann gingen die Menschen landesweit auf die Straße, prominente Iranerinnen schnitten sich die Haare ab, die Proteste stellten bald das Regime der Mullahs als Ganzes in Frage, man skandierte „Tod dem Diktator!“, die Gewaltbereitschaft nahm auf beiden Seiten zu. Ende Oktober war von über 300 Todesopfern die Rede, darunter mindestens 23 Kinder. Im Dezember war man schon bei 500. Die Kommentare in den westlichen Medien waren zunächst resignativ: „… werden niedergeschlagen wie die Proteste von 2009, 2017 und 2019“, aber inzwischen fügt man hinzu, dass „Auch wenn es dem Regime gelingen sollte, diese Protestwelle niederzuschlagen, wird das nur der Beginn einer neuen sein“.
Fortsetzung folgt im Oktober, womöglich unter der Schlagzeile „Iran stoppt Drohnenverkauf an Russland – wegen Eigenbedarf!“
Russland-Ukraine
- Die Wut wächst auch in Russland, weniger über den Angriffskrieg als solchen, sondern wegen der Teilmobilmachung, die zu Protesten und chaotischen Szenen geführt hat. Es sollen Diabetiker, Väter von fünf Kindern und Männer ohne jegliche militärische Erfahrung eingezogen worden sein. Demonstranten wurden zunächst festgenommen und anschließend gleich eingezogen. Vor den Grenzen der Nachbarländer bildeten sich lange Autoschlangen, und in Deutschland wird diskutiert, ob man russischen Kriegsdienstverweigerern generell Schutz bieten sollte (Die Linke), ob man nicht den Einzelfall prüfen sollte, damit sich keine Saboteure einschlichen (Ampelkoalition), oder ob man sie nicht zurückschicken sollte, weil sie im Westen nur das Dolce Vita genießen wollten (Ex-Botschafter Melnyk).
- „Grausige Funde“ gab es in Isjum, das von der ukrainischen Armee zurückerobert wurde. In 443 Gräbern wurden an die 1000 Tote gefunden, die an Hunger oder durch russischen Beschuss gestorben waren, „nach der Zahl ziviler Opfer zwei Butschas“. Außerdem wurden Orte entdeckt, die je nach Sichtweise als „Folterräume“ oder „Filtrationspunkte“ identifiziert wurden. „Filtration“ bedeutet nach ukrainischer Lesart eine entwürdigende Überprüfungsprozedur, der sich Ukrainer unterziehen müssen, bevor sie nach Russland einreisen dürfen – oder dorthin „evakuiert“ werden. Zur Praxis der Verschleppung und „Filtration“ hat AI im November einen Bericht veröffentlicht, den man als Gegenstück zum AI-Bericht vom August sehen kann, wo das Vorgehen der ukrainischen Armee massiv kritisiert worden war. (s. Ohrfeige 2)
- Die Ukraine mischte sich auf die harte Art in die anstehenden Referenden in der (Süd)Ostukraine ein. In Luhansk kam der Generalstaatsanwalt bei einer Explosion ums Leben, in Berdjansk wurden die Organisatoren des Referendums getötet.
Fehlverhalten – unbedarft bis bedenklich
- Uli Hoeneß hat telefonisch in eine Sendung von Sport 1 eingegriffen und sich einen verbalen Schlagabtausch mit dem ehemaligen Sportfunktionär Andreas Rettig geliefert, der es gewagt hatte, der WM in Katar ein „PR-Desaster“ zu wünschen. Hoeneß nannte Rettig einen „König der Scheinheiligen“, weil er im Winter warm duschen möchte – und das mit dem Gas, das Katar (irgendwann einmal) nach Deutschland liefern würde. Dann zählte er auf, wie gut es den WM-Arbeitern inzwischen gehe und vermied geflissentlich, dass einige der Reformen das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen und dass viele Wanderarbeiter die „Reformen“ gar nicht mehr erleben durften. Rettig konterte, indem er Hoeneß zum „Botschafter von Katar“ ernannte.
Herr Hoeneß ist übrigens in „guter“ Gesellschaft. Auch andere ehemalige Fußballgrößen, wie Lothar Matthäus und David Beckham, trommeln für die WM in Katar. Ob die Trommler von der FIFA oder von Katar bezahlt werden, darüber „ist Stillschweigen vereinbart“. Das gilt auch für die Höhe der Beträge, die „aber nicht diese Dimensionen erreichen, die ihr euch vorstellt“. (Originalton Matthäus in einem Gespräch mit der SZ).
- Der Kurienkardinal Kurt Koch hat den „Synodalen Weg“, den die deutschen Katholiken beschreiten, mit den Verirrungen der Deutschen Christen zur Nazi-Zeit verglichen. Letztere hätten als neue Quelle der Offenbarung die Blut- und Boden Mythologie Hitlers herangezogen, die deutschen Synodalen würden sich zu sehr an den „Zeichen der Zeit“ orientieren. Was er damit genau meinte, hat er nicht gesagt. Georg Bätzing, Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz, nannte die Unterstellung eine „völlig inakzeptable Entgleisung“ und forderte eine Entschuldigung. Anfang Oktober soll Koch in einem Gespräch mit Bätzing etwas zurückgerudert sein.
- Friedrich Merz hatte in einem Interview mit Bild-TV ukrainischen Flüchtlingen „Sozialtourismus“ vorgeworfen, da sie im Pendelverkehr „nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine“ sich stets aufs Neue die Grundsicherung erschlichen. Er scheint dann recht schnell gespürt haben, dass er in Richtung Rechtspopulismus überzogen hat, denn wenige Stunden nach dem Interview entschuldigte sich Merz öffentlich. Aber immerhin – der Satz (und der Verdacht) ist in der Welt.
- Bei seiner „Energie-Einkaufstour“, die ihn zunächst nach Saudi-Arabien führte, haben sich Bundeskanzler Scholz und Kronprinz bin Salman mit einem kräftigen Händedruck begrüßt. Ein „fist bump“/Faust-zu-Faust Gruß à la Joe Biden hätte es auch getan, aber wir sind halt ölabhängiger als die USA. Scholz soll „Fragen der Menschenrechte“ angesprochen haben, aber bevor ihm der Name Khashoggi über die Lippen gekommen wäre, hat er die noch kräftig zugekniffen.
- Den Klimaaktivisten, die sich bei der Automesse IAA über der Lindauer Autobahn abgeseilt und einen langen Stau verursacht hatten, drohte zunächst wegen Nötigung von 1296 Autofahrern eine Gefängnisstrafe zwischen zwei und vier Jahren. Die Anklage und die (mögliche) Verlegung des Prozesses vor ein Schöffengericht erhärtet den Verdacht, dass es in der bayrischen Justiz Tendenzen gibt, den radikalen Klimaprotest strenger zu bestrafen als bisher. Ende des Monats hatte das Gericht in Fürstenfeldbruck noch nicht über eine Zulassung der Anklage entschieden.
Es werden sich jetzt natürlich einige fragen, auf wessen Seite ein Fehlverhalten vorliegt, und das werden wohl nicht nur Autopendler sein. Ich sehe die Abseilaktion ebenfalls kritisch, es könnte ja auch zu Unfällen kommen, aber wenn eine solche Tat derart strafbewehrt ist, ist „etwas faul im Freistaat Bayern“. Inzwischen ist ein Einzelrichter für den Fall zuständig, sodass ein niedrigerer Strafrahmen zu erwarten ist.
- Zum Polizeieinsatz in Dortmund im August sind jetzt einige verstörende Einzelheiten bekannt geworden, die Zweifel aufkommen lassen, ob der Einsatz „korrekt und verhältnismäßig abgelaufen ist“. Der 16-jähriger Senegalese hatte ein großes Messer auf sich selbst gerichtet, wurde mit Reizgas und Elektro-Tasern aus seiner Lethargie aufgeschreckt, lief dann mit dem Messer los und wurde von vier Kugeln aus der Maschinenpistole eines Polizisten getötet. Auf großes Unverständnis stieß, dass es 12 Polizisten nicht gelang, einen suizidverdächtigen Jugendlichen auf unblutige Weise zu „fixieren“. Der Schütze ist suspendiert, gegen vier weitere Beamte wird wegen „Körperverletzung im Amt“ ermittelt. Zur Trauerfeier für den erschossenen Senegalesen kam auch der Dortmunder Oberbürgermeister.
AI-Nachrichten
Fußball: Zugegeben, ein seltener Gast in dieser Rubrik, aber auch die Tribüne kann ein Tatort sein. Sexualisierte Gewalt gehört zum Alltag in den Fußballstadien, und das nicht nur in den Fankurven, sondern auch in den VIP-Bereichen. Die Fangruppen des FC Bayern haben jetzt E-Mail Adressen eingerichtet, über die sich Betroffene an ehrenamtliche Helferinnen und Helfer richten können, eine für Männer und eine für Frauen. Man geht nicht fehl in der Annahme, dass die Adresse für Frauen stärker beansprucht werden wird, denn, so ein Politikwissenschaftler,
„das Stadion ist traditionell ein männlich dominierter und alltagssexistischer Ort, wo Frauen es immer noch sehr schwer haben“.
Sollen halt zuhause bleiben, oder?
Pressefreiheit: Wer als Rechter in Fretterode/Thüringen Jagd auf Journalisten macht und sie brutal attackiert, „dem droht: fast nichts“. Drei Jahre ließ man sich Zeit bis der Prozess gegen zwei Rechtsextremisten anfing, und ein geschlagenes Jahr hat er gedauert. Da ist dann etwas Gras darüber gewachsen, die (lebensgefährlichen) Schnittwunden und die Prellungen (vom Schraubenschlüssel) sind verheilt – und ein mildes Urteil leichter zu vermitteln. 200 Arbeitsstunden für den einen Täter, ein Jahr auf Bewährung für den zweiten. Da kann man es später wieder einmal probieren. Bemerkenswert die Urteilsbegründung: Es sei kein Angriff auf die freie Presse gewesen, denn die Täter hätten in den Journalisten „Zecken“ gesehen und sie für Angehörige der linken Szene gehalten. Das erinnert fast an einige Urteile der bayrischen Justiz der 1920er Jahre.
Haftbedingungen: Die grüne Landtagsabgeordnete Anne Franke hat die „menschenunwürdigen Zustände“ in der JVA Stadelheim angeprangert. In manchen Zellen werde es im Sommer über 40 Grad heiß, Fenster seien so hoch eingesetzt, dass ein Blick ins Freie unmöglich sei, Toiletten seien verdreckt und von der Kostklappe her einsichtbar, die Größe der Zellen entspreche „gerade noch“ den Menschenrechtsstandards. Das „letzte Drecksloch“ schreibt der Knasti mit dem Decknamen „Gringo“. Die Strafanstalt heißt im Volksmund St. Adelheim. Einen Heiligen dieses Namens gibt es nicht, wohl aber einen Adelhelm. Der war Benediktiner im Schwarzwald und wurde u.a. wegen der „strengen Bußen“ als Heiliger verehrt. Diese Bußen aber hatte er sich selbst auferlegt!
Kein Vergleich allerdings mit den Haftbedingungen, denen derzeit Alexej Nawalny unterworfen ist. AI hat Informationen erhalten, dass in der Strafkolonie alles getan wird, um seinen Willen zu brechen. So soll er schon viermal in eine Isolationszelle gesperrt worden sein, einmal beispielsweise, weil ein Knopf an seinem Hemd nicht geschlossen war.
Sklaverei: ist doch nach Artikel 4 der AEMR verboten, oder? Wird aber trotzdem praktiziert, besagt ein Bericht der ILO/Internationale Arbeitsorganisation der UN. Demnach gibt es weltweit 28 Millionen Zwangsarbeiter und 22 Millionen Menschen, die zwangsverheiratet wurden. Und: „Das Problem bestehe in praktisch jedem Land der Welt.“ Wenn man „Sklaverei in Deutschland“ googelt, findet man die modernen Formen der Sklaverei unter den Stichwörtern „Menschenhandel/sexuelle Dienstleistungen, Arbeitsausbeutung/Baubranche und Zwangsehen. Onkel Toms Hütte ist immer noch bewohnt.
Todesstrafe: Im Gazastreifen hat die Hamas fünf Männer hingerichtet, drei wegen Mordes und zwei wegen Spionage für Israel. Es waren die ersten Hinrichtungen seit 2017. Das Innenministerium verlautete: „Die Hinrichtungen wurden nach Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten vollstreckt.“ AI wären da durchaus noch andere Möglichkeiten als die Hinrichtung eingefallen, die man hätte ausschöpfen können.
Zurück in den Iran. Als Reaktion auf die Todesstrafenorgie des ersten Halbjahres von 2022, haben Familien von Todesstrafenkandidaten eine Kampagne in den sozialen Medien gestartet, um verurteilte Mitglieder vor der Hinrichtung zu retten und die Abschaffung der Todesstrafe zu fordern.
Protest gegen die Todesstrafe
Im genannten Zeitraum wurde mindestens eine Hinrichtung pro Tag vollzogen.
Eine gute Nachricht kommt aus einem Land, das man als Deutscher erst auf der Karte suchen muss. Äquatorialguinea hat die Todesstrafe abgeschafft. Das Land zählt zwar zu den autoritärsten Staaten der Welt, hat sich jetzt aber einen „einzigartigen Moment“ gegönnt. Willkommen im Klub der 112 Staaten, die die Todesstrafe vollständig abgeschafft haben!
Sexuelle (Des)Orientierung
Ein seltsamer Schlusspunkt unter einen Monatsbericht, aber schließlich war Oktoberfest. Und wenn Bedienungen berichten, wie übergriffig es dort zugeht, erinnert man sich irgendwie an die iranischen Frauen. Hier ein paar Überschriften aus dem Artikel der SZ:
„Wenn es abends voll wird, dann ist es nur noch eklig.“
„Wiesn ist Anarchie.“
„Die Hemmschwelle geht verloren.“
„Es herrscht eine ‚Stell dich nicht so an‘–Mentalität.“
Das letzte Wort aber überlassen wir Helmut Dieser, Bischof von Aachen. Der hat in Sachen Homosexualität einen Lernprozess hinter sich, den viele Bischöfe noch vor sich haben. In der Beilage Christ und Welt schreibt er:
„Ja, meine Sicht hat sich verändert. Homosexualität ist keine Panne Gottes, sondern gottgewollt im selben Maße wie die Schöpfung selbst.“
Ob sich die Sicht der iranischen Mullahs auf die Frauen auch einmal verändert?
Oktober 2022
„Und geht es draußen noch so toll,
Unchristlich oder christlich,
Ist doch die Welt, die schöne Welt,
So gänzlich unverwüstlich!“
Theodor Storm
Wir wollen, den Weltläufen entgegen, mit dem „unverwüstlich „beginnen. Vor 50 Jahren wurde in Miesbach die Amnesty-Gruppe gegründet, und es gibt sie immer noch. Aber jetzt zum tollen Treiben in der Welt mit der neuen Rubrik
Durchgeknallt
- Durchgeknallt ist die Russin Yulia P., die von Landshut aus die Spezialoperation begleitet. Sie tanzt auf Tiktok mit der russischen Flagge, postet Bilder von Bombenangriffen, belästigt ukrainische Frauen und ruft ihre Follower zur bewussten Energieverschwendung auf, um Deutschland zu schaden und Putin zu helfen. Sie lebt bei uns ohne Aufenthaltsgenehmigung, aber abschieben kann man sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht, denn seit Beginn des Krieges sind direkte Linienflüge nach Russland ausgesetzt. Aber die Linie nach Belarus wäre noch offen!
- Durchgeknallt ist auch der Amerikaner Alex Jones, der verbreitet hatte, dass das Massaker an der Grundschule von Sandy Hook/Connecticut, bei dem im Jahre 2012 26 Menschen getötet wurden, inszeniert gewesen sei, um schärfere Waffengesetze durchzusetzen. Er wurde jetzt zur Zahlung einer Geldstrafe in Höhe von 965 Millionen Dollar an die Angehörigen der Opfer verurteilt. Jones verdient sein Geld hauptsächlich mit Produkten für Katastrophenfälle (Rucksäcke, Waffen, Potenzmittel), aber vielleicht wird auch die Waffenlobby von der NRA etwas in die Tasche greifen.
- Durchgeknallt sind auch die Täter, die einen Brandanschlag auf das „Spreehotel“ in Bautzen verübten. Es war geplant, dort eine Unterkunft für Asylbewerber einzurichten. Der Weg zum Hotel war vorgezeichnet, denn bereits im Dezember 2016 war es Ziel eines Anschlags gewesen. Dem Anschlag war eine Demo der AfD vorausgegangen. Auch die Aussage des sächsischen Innenministers, der Zustrom von Flüchtlingen werde „in Kürze kaum noch zu bewältigen“ sein, mag als Brandbeschleuniger gewirkt haben.
Wir gehen über zu den leichteren Fällen der Psychiatrie:
- Der Entertainer Dieter Bohlen hat bei einem Videoauftritt auf Empathie gemacht. Dem Land wäre im Ukrainekrieg einiges erspart geblieben, wenn man auf die Sanktionen verzichtet und sich stattdessen „vernünftig an einen Tisch gesetzt“ hätte. Jetzt erst merkt man, dass er mit dem Land nicht die Ukraine, sondern Deutschland gemeint hat. Und erspart geblieben wäre uns die kalten Zimmer und der „ganze Firlefanz“. Es gab keine Buhrufe, sondern zustimmender Applaus.
- Zum 5. Jahrestag der Geburt von „Me Too“ hat Wolfgang Kubicki/FDP von einem missglückten Flirt von vor 20 Jahren erzählt. Er habe seinen männlichen Charme spielen lassen, um Frau Koch-Mehrin als neue Generalsekretärin für die Partei zu gewinnen, sei aber von ihrem „gut gebauten“ Ehemann verjagt worden. Damals, so Frau Koch-Mehrin, habe sie die Anmache „als ganz normale Situation in der Partei“ empfunden, aber 20 Jahre später, und mit den „Me Too“-Geschichten im Hinterkopf versteht sie, „dass diese Normalität zutiefst belastend“ gewesen sei. „Die soll sich doch so haben“ würden betrunkene Wiesenbesucher gröhlen und „Layla“ anstimmen.
- Und dann noch Christian Lindner. Man möge mir die Doppelung verzeihen, aber der ist auch in der FDP. Den hat man gefragt, wie er sich die „Care-Arbeit“ vorstelle, wenn einmal Kinder da seien. Er meinte, da habe er schon seine Vorstellungen: „Bücher schreiben, vielleicht promovieren, jagen, fischen, imkern“. Kinder, die da still halten, solche Kinder müsste man haben!
Es ist höchste Zeit, sich wieder ernsteren Themen zuzuwenden, und „Me Too“ ist ein guter Übergang zum
Iran
Drohnen gegen Demonstranten, wie im September angedeutet, werden noch nicht eingesetzt, aber (fast) alles andere schon. Die Ereignisse in Schlagzeilen und Stichworten – beides durchaus wörtlich zu nehmen:
4. Oktober – Massive Gewalt gegen Demonstranten an Universität. Der oberste geistige Führer Chamenei sieht in den Protesten eine Verschwörung der USA, Israels und der „iranischen Verräter im Ausland“.
7. Oktober – Revolte der Schulkinder. Videos zeigen Mädchen in Schuluniform – ohne das zur Uniform vorgeschriebene Tuch. Dem Vertreter der Bassidsch, der Prügeltruppe des Regimes, rufen sie zu: „Hau ab, Bassidsch.“
Protest mit Haaren und Mittelfinger
8. Oktober – Tod einer 17-Jährigen sorgt für Aufregung. Die Leiche von Nika Shakarami war Anfang Oktober an einem Gebäude in Teheran entdeckt worden. Familienmitglieder machen den Geheimdienst verantwortlich, die Polizei sagt, sie habe sich aus dem Hochhaus gestürzt. Zwei Wochen später starb die 15-jährige Schülerin Asra Panahi, als Beamte in Zivil ihr Gymnasium in Ardabil „angegriffen“ hatten.
10. Oktober – Außenministerin Baerbock hat sich nach Wochen des Zögerns für Iran-Sanktionen ausgesprochen. Ihre „wertegeleitete Außenpolitik“ kollidiert mit der Sorge um die Sicherheit deutscher Staatsbürger im Iran und der Befürchtung, damit die Gespräche um das iranische Atomprogramm zu gefährden.
11. Oktober – Stille auf dem Basar. Die Rollläden im Großen Basar von Teheran blieben am Wochenende geschlossen. Die Bazaris hatten nicht etwa Angst vor Beschädigungen, sondern wollten ihre Solidarität mit den Demonstranten zeigen. Das ist umso bemerkenswerter, als sie weltanschaulich eher den Klerikern nahestanden.
13. Oktober – Iran-Proteste weiten sich aus. Besonders heftig sind die Unruhen in den Kurdengebieten. Die Proteste werden inzwischen von Menschen aller Gesellschaftsschichten getragen.
25, Oktober – An einer Universität in Teheran machten Studierende der obligatorischen Geschlechtertrennung in der Mensa ein Ende. Man sah Männer und Frauen gemeinsam an Tischen sitzen.
27. Oktober – In Teheran ging man mit Tränengas gegen Mediziner vor. Die Ärzte demonstrierten gegen die Präsenz von Sicherheitskräften in Kliniken, wo auch Teilnehmer der Proteste behandelt werden. In Saqqez, der Heimatstadt von Mahsa
Amini, kamen am 40. Trauertag an die 10 000 Menschen an ihrem Grab zusammen. Sie folgten dem Aufruf „Es ist nicht die Zeit für Trauer, sondern für Wut“.
Trauerzug in Saqqez
Die Sicherheitskräfte sollen auf die Trauergäste geschossen haben, ganz im Sinne der Mullahs.
In der Nachbarschaft wird auch geschossen. Wir gehen in sicherer Entfernung über zum Krieg zwischen
Russland und Ukraine
1. Oktober – Es rumort in Russland. Nachdem Putin die Annexion der vier ukrainischen Regionen mit allem verfügbarem Pomp zelebriert hatte, kam das Ergebnis einer Umfrage einer kalten Dusche gleich. Nur noch 23% der Befragten gaben an, „stolz auf Russland“ zu sein. Da geriet sogar eine von Putins Chefpropagandistinnen in Panik und verstieg sich zu der Aussage „Wir müssen aufhören, auf allen Ebenen zu lügen, …“. Die wird bald bei Nawalny in der Einzelzelle landen.
10. Oktober – Sprengstoff und Schadenfreude. Mit Genugtuung reagiert die Ukraine auf die Beschädigung der Krim-Brücke durch eine Bombe, die in einem Lastwagen versteckt war. Der Anschlag kam nicht ganz punktgenau, denn die Bombe explodierte einen Tag nach Putins 70. Geburtstag, aber er scheint von langer Hand geplant gewesen zu sein, denn die Ukraine brachte sofort eine Briefmarke auf den Markt, die einen riesigen Feuerball auf der Brücke zeigte.
14. Oktober - Russland bleiben nur noch wenige Freunde. Die UN ächtet in einer Resolution die völkerrechtswidrigen Annexionen in der Ukraine mit einer historischen Mehrheit. 143 Staaten stimmten der Resolution zu, nur Russland und vier weitere Staaten stimmten dagegen. Da muss man dann an Freunden nehmen, was halt so übrigbleibt.
Schurkenstammtisch
15. Oktober – Putin hält derzeit weitere massive Angriffe auf die Ukraine nicht für nötig, kündigte aber im gleichen Atemzug an, weitere Städte unter Beschuss zu nehmen. Von 29 Objekten seien sieben „nicht so beschädigt worden“ wie geplant. Das hole man nach – aber, wie gesagt, nicht so „massiv“.
27. Oktober – „Butscha mal drei, vier oder fünf“. So beschrieben Menschen, die es überlebten, die Situation in den 22 Folterzentren rund um Charkiw und Isjum. „Sie waren nie weniger als fünf Mann, die auf einen losgegangen sind“, erinnert sich Andrij Kozar, der den russischen Besatzern gleich dreimal in die Hände fiel.
28. Oktober – Dass man nicht mehr lügen dürfe, hat sich im russischen Außenministerium noch nicht herumgesprochen. Dort hatte man Beweisfotos veröffentlicht, die zeigen sollen, dass die Ukraine an einer „schmutzigen Bombe“ arbeite. Die Fotos stammten aber aus Slowenien und zeigten Rauchmelder, die zwar kleine Mengen an radioaktivem Material enthielten, aber kein Uran oder Plutonium. Der Westen befürchtet, die Anschuldigung gegen die Ukraine diene Russland dazu, selbst eine solche Waffe einzusetzen.
Tiefherbstliches Allerlei
Katar: Die „beste WM aller Zeiten“, so der FIFA-Präsident Gianni Infantino, wirft ihre Schatten voraus. Der offizielle WM-Botschafter Katars bezeichnet Homosexualität als „geistigen Schaden“, und in Katar wird der deutsche Botschafter einbestellt, weil Innenministerin Faeser es gewagt hatte, vorsichtig anzudeuten, dass die Vergabe sportlicher Großereignisse auch auf Grund von außersportlichen Kriterien wie Einhaltung der Menschenrechte und Nachhaltigkeitsprinzipien erfolgen sollte. Was Infantino unter „beste WM“ verstanden hat, ist inzwischen auch klar: die FIFA erwartet einen Gewinn von 6,6 Milliarden US Dollar. Da kann sie leicht die Prozesskosten für ihre
20 Funktionäre übernehmen, die gerichtlich belangt werden.
Schwarze Schafe bei der Polizei: In München begann der Prozess gegen zwei sadistische Polizisten, die ihre Nachtschicht „voller Vorfreude“ antraten, „um Menschen zu zerstören“. Ihre Opfer waren bevorzugt Menschen, wo man wusste, „dass bei Anzeigen „die Polizei gewinnt“. Einmal wurde ein Obdachloser so stark getreten, dass „er nur noch geweint und gewimmert hat“. Ihre Heldentaten hatten sie in Chatnachrichten festgehalten, bei deren Lektüre die Richterin „in Abgründe geblickt“ habe. Im November wurden sie zu Bewährungsstrafen verurteilt. Da sie vom Dienst suspendiert sind (und hoffentlich auch suspendiert bleiben!), müssen sie sich beruflich neu orientieren. Einer von ihnen will studieren. Er hat sich für Jura entschieden.
Afghanistan: Im Oktober sprach die Bundesregierung von 32 Ex-Mitarbeitern der Bundeswehr, die inzwischen nicht mehr am Leben sind, beeilte sich aber hinzuzufügen, dass es bei keiner dieser Personen einen Hinweis gäbe, dass sie wegen ihrer Tätigkeit für das deutsche Kontingent getötet wurden, bzw. verstorben sind. „Die Botschaft hör‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ (Faust)
Palästina: „Die ‚Löwen‘ ziehen in den Kampf“, titelte die SZ und meinte dabei leider nicht die Fußballer von 1860 mit ihrem Drang in Richtung 2. Bundesliga, sondern eine neue Miliz im Westjordanland. Die Miliz „Höhle der Löwen“ besteht aus wütenden jungen Palästinensern, die nicht nur Israel sondern auch die palästinensische Autonomiebehörde herausfordern. Die Zahl bewaffneter Konflikte mit der israelischen Armee ist im Steigen begriffen, und als im September die Autonomiebehörde einen „Löwen“ festnehmen wollte, kam es in Nablus zu einem eintägigen Straßenkampf. Auch auf israelischer Seite macht die Radikalisierung Fortschritte. Bei den Wahlen im November gab es einen Rutsch von rechts nach rechtsextrem, und wenn in Zukunft die religiösen Zionisten auf die „Löwen“ treffen, wird es in Israel und im Westjordanland nicht langweilig werden.
Flüchtlingsabtrieb: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, heißt es in Artikel 1 der AEMR. Das müsste man den türkischen Grenzschützern wieder einmal vorlesen, die nach Angaben der griechischen Regierung
92 Flüchtlinge (fast) nackt über den Grenzfluss Evros nach Griechenland getrieben haben. Beide Länder schieben jetzt den Schwarzen Peter hin und her, aber Frontex hat die griechische Version bestätigt.
Das Passauer Landratsamt hat einen abgelehnten iranischen Asylbewerber regelrecht in den Hinterhalt gelockt. Er war mit dem Versprechen einbestellt worden, eine Beschäftigungserlaubnis als Pflegehelfer zu erhalten. Als er Ende September zum Termin erschien, wurde er in Abschiebehaft genommen. Nach sechs Tagen stoppte das Innenministerium die Abschiebung und veranlasste eine erneute Prüfung des Falles – und des hinterfotzigen Vorgehens der Passauer Behörde. Man kann nur hoffen, dass es für Reza R. genauso glimpflich ausgeht, wie für das Landratsamt. Letzteres hätte nicht in betrügerischer Absicht gehandelt, es hätte nur eine Zuständigkeitskollision gegeben, weil „eine Person die Durchführung der Abschiebung bearbeitet hat und eine andere die Beschäftigungserlaubnis“.
AI-Meldungen
Meinungsfreiheit: In Simbabwe wurde die Schriftstellerin Tsitsi Dangarembga, die 2021 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten hatte, zu einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Zur Begründung hieß es, sie habe mit einem Plakat, mit dem sie mit einer Freundin friedlich durch die Hauptstadt Harare marschiert war, zu „öffentlicher Gewalt angestachelt“. Die Aufschrift auf Tsitsis Plakat hatte es tatsächlich in sich. Da stand nämlich: „Wir wollen etwas Besseres. Reformiert unsere Institutionen.“ Aber statt auf Reformen setzt Präsident Mnangagwa wie sein Vorgänger Mugabe lieber auf ein System der Abschreckung, in dem Regierungskritiker jahrelang und ohne Prozess im Gefängnis landen.
Klare Aufstachelung zu öffentlicher Gewalt
Ich weiß, der Fall wurde schon im Juni erwähnt, sogar mit einem „happy ending“.Bitte, „einen besseren Bericht“!
Justizerfolg: Fünf Jahre nach der Ermordung der maltesischen Journalistin Daphne Galizia sind zwei Brüder wegen Morde zu Haftstrafen von je 40 Jahren verurteilt worden. Sie hatten sich nach wenigen Stunden Verhandlung überraschend schuldig bekannt. Ob sie diese 40 Jahre absitzen werden, ist zu bezweifeln. Für die Tat soll es Hintermänner in der Politik gegeben haben, und die „werden es schon richten“.
Häusliche Gewalt: Die SZ hat einem Phänomen ganze drei Seiten gewidmet, das bisher nur dann einmal in die Schlagzeilen geriet, wenn es um Scheidung oder Abfindungszahlungen ging. In dem Artikel „Mit voller Wucht“ erheben mehrere Frauen Anschuldigungen gegen bekannte Fußballer, die sie in ihrer Beziehung mit Schlägen, Tritten und Psychoterror traktiert hätten, die aber, wenn es zu einem Verfahren kommt, von einem Netzwerk aus Vereinen, Anwälten und Beratern geschützt werden.
Der ehemalige Bayernspieler Jérôme Boateng stand jetzt wegen Tätlichkeit gegen seine Frau in München wieder vor Gericht. In erster Instanz war er schon verurteilt worden, ging aber in Berufung. Während des Verfahrens kam es zu einem Zwischenfall: Eine Zeugin, Freundin der Ehefrau, gerät bei der Befragung ins Stocken und schiebt das zunächst auf Erinnerungslücken, verursacht durch Long Covid. Auf Nachfrage aber erklärt sie, sie habe Angst, da sie vor dem Gerichtsgebäude von zwei Männern gefilmt worden sei. Die Männer waren Boatengs Leibwächter, die Zeugin, so die Verteidigung, sei aber „nur zufällig ins Bild geraten“. Boateng wird wegen Beleidigung und Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 1,2 Millionen Euro verurteilt. Gegen das Urteil legen sowohl Staatsanwalt wie auch Verteidiger Revision ein. Das Verfahren wird wohl erst beim Jüngsten Gericht beendet sein, denn, so die SZ, „Geld (ist) da, Gewissen (ist) weg“.
AI-Kampagne: Bei unserer Katar-Kampagne „Fußball Ja – Ausbeutung Nein“ verzeichnete AI einen Zwischenerfolg. Der DFB schloss sich eindeutig und öffentlich unseren Forderungen nach einem Entschädigungsmechanismus für erlittene Menschenrechtsverletzungen und der Einrichtung eines Zentrums für Arbeitsmigranten/tinnen an.
Die WM in Berlin
Machtverhältnisse: Die westlichen Staaten haben im UN-Menschenrechtsrat in Genf eine Schlappe gegen China eingesteckt. Der Antrag, eine Debatte über die Uigurenregion Xinjiang zu führen, wurde mit 19 gegen 17 Stimmen abgelehnt – und das trotz des glasklaren Berichts der früheren Hochkommissarin.
Friedensnobelpreis
Zu seinem 70 Geburtstag wurde Präsident Putin nicht nur mit der Explosion auf der Krimbrücke, sondern auch mit dem Friedensnobelpreis bedacht – und zwar durch Vergabe desselben an Gruppen, die nicht unbedingt zu seinem Freundeskreis gehören.
Die Preisträger
- Preisträger ist die bekannteste russische Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich bei der Aufarbeitung der Verbrechen der Stalin-Zeit große Verdienste erworben hat, dann als „ausländischer Agent“ eingestuft und 2021 aufgelöst wurde. Moskau hat auf die Preisverleihung auf seine Art reagiert und beschlagnahmte am gleichen Tag das Stammhaus von Memorial für den russischen Staat.
- Preisträgerin, da fast ausschließlich von Frauen geleitet, ist das ukrainische Zentrum für bürgerliche Freiheiten/CCL, das sich in der Vergangenheit mit Übergriffen des ukrainischen Geheimdienstes und dem Machtmissbrauch von Behörden bis hinauf zu Präsident Selenskij befasste, ab dem 24. Februar 2022 aber auf russische Kriegsverbrechen und die Lage von ukrainischen Kriegsgefangenen fokussiert ist.
- Preisträger ist schließlich, und das ist ein Denkzettel für den Autokraten in Putins Nachbarschaft, der Menschenrechtsanwalt Ales Bjaljazki, der 1996 das Menschenrechtszentrum Wjasna gegründet hat, um politischen Gefangenen und ihren Familien rechtliche und finanzielle Hilfe zukommen zu lassen. Seit einem Jahr sitzt er da, wo Lukaschenko solche Leute gerne sieht – im Gefängnis.
Es ist eine gute Wahl, auch wenn die Ukraine zu Unrecht kritisiert, dass „Vertreter zweier Länder den Friedensnobelpreis erhalten, die ein drittes überfallen haben“.
Was wir uns wünschen würden: Dass Leute, die an Friedensliebe leiden, nicht mehr paranoisiert werden (müssen)!
November 2022
„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn macht, egal wie es ausgeht.“
Vaclav Havel
Ich habe diesen Aufhänger deshalb gewählt, weil sich in diesem Monat Dinge ereignet haben (und sich noch ereignen), wo man nicht so recht weiß, ob etwas Sinn macht, wie man es beurteilen soll und ob es gut ausgehen wird.
Die WM in Katar
Die FIFA und ihr Präsident: Da die deutsche Mannschaft aus dem sportlichen Geschehen schnell raus war, können wir uns auf andere Aspekte diese Megaereignisses konzentrieren, z.B. auf die infantile Bösartigkeit der FIFA und ihres Präsidenten Infantino, der jetzt sein Domizil nach Doha verlegt hat, weil ihm in der Schweiz der Boden den unter den Füßen zu heiß geworden ist. In einem einstündigen Monolog kritisierte er die „Doppelmoral“ der Europäer, die sich erst für ihre Missetaten der letzten 3000 Jahre (!) entschuldigen und sich Katar als Vorbild nehmen sollten, weil dort Menschen auf legale Weise ihr Glück suchen könnten. Und wo Missstände noch in Spurenelementen vorhanden seien, werde demnächst Abhilfe geleistet – und das unter tatkräftiger Mitwirkung der FIFA, die in den vergangenen zwölf Jahren verständlicherweise nicht auch noch die Bauaufsicht übernehmen konnte.
Und dann kam auch noch das Katz-und-Maus Spiel mit der Armbinde. Als die europäischen Verbände für die Mannschaftskapitäne eine OneLove-Binde als Protest gegen die queerfeindlichen Katarer durchsetzen wollten, sprach die FIFA in letzter Minute ein Machtwort, verwies auf „Ausrüstungsregeln“ die eine vom Veranstalter (FIFA oder Emir?) genehmigte Armbinde vorschrieben, stellte gravierende Strafen in Aussicht und ließ aber dabei offen, ob die Kapitäne nur die rote Karte bekämen oder gleich noch auf dem Platz von katarischen Schwulenwächtern erschossen würden (Vorsicht: Teilsatire!). Und da knickte Europa schnell ein. Die FIFA bot eine alternative „No discrimination“ Binde an, die ist neutral genug, um auch Katar und der FIFA selbst Platz zu bieten.
Die Boykottgesten der deutschen Mannschaft: Im Spiel gegen Japan, der Anfang vom Ende, marschierte Kapitän Neuer mit einem Herzerl auf der Armbinde ein, seine OneLove-Binde hatte er Innenministerin Faeser geliehen, die beim Spiel gegen Japan neben Infantino auf der Ehrentribüne saß. Und dann kam der Moment vor dem Anpfiff, der in der Heimat als „Kasperltheater oder unverbindliche „Märtyrerpose“, im Ausland aber als „mächtige Geste“ gegen die Zensur der FIFA gewertet wurde. Die Mannschaft hielt sich kollektiv den Mund zu.
Auch bei unserem Schulbesuch in Bad Tölz im Dezember waren dazu die Meinungen geteilt: Ein Schüler sprach von „Schwachsinn“, ein Mädchen fand es gut, dass man den Protest zumindest „angedeutet“ habe. Wir halten es mit dem Mädchen und bescheinigen der Nationalmannschaft, dass dieser Kurzauftritt beeindruckender war, als die 90 Minuten, die darauf folgten.
Beim Abschied der deutschen Mannschaft aus Katar winkten elf Talkshowgäste im katarischen Fernsehen höhnisch in die Kamera und hielten sich dabei den Mund zu. Sollten die Katarer einmal in Deutschland spielen, dann … aber halt, wir brauchen ja ihr Erdgas!
Der OneLove-Tanker
Der „Gefangene dieser Weltmeisterschaft“. Die Katarer haben sich ihre „Sklaven“ nicht nur für den Haushalt und die WM-Baustellen geholt, sondern auch für höhere Positionen. Der Jordanier Abdullah Ibhais fungierte zunächst als Kommunikationsdirektor des Vorbereitungskomitees, sitzt aber seit November 2021 eine dreijährige Haftstrafe ab, weil er sich bei einer Auftragsvergabe bestechen ließ - so ein katarisches Gericht, weil er einem deutschen Fernsehjournalisten Material über die katastrophalen Arbeitsbedingungen auf den Baustellen zuspielte - so die Menschenrechtsorganisationen. Wir wissen, wem wir zu glauben haben! Um sicher zu stellen, dass er aus dem Gefängnis heraus keine „Dummheiten“ macht, wurde er Anfang November 2022 in Isolationshaft gesteckt.
„… die im Dunklen sieht man nicht“ (Brecht)
Die Kleber der „letzten Generation“
„Ich klebe dir eine“, war zu meiner Jugendzeit ein gängiger Ausdruck, um eine Ohrfeige anzukündigen. Später schnüffelte die Jugend Klebstoff, um billig high zu werden. Und jetzt klebt man sich auf Straßen und Rollbahnen, um eine Verkehrswende herbeizuführen, den Kampf gegen den Klimawandel zu forcieren, um nicht zur „letzten Generation“ zu gehören – auch wenn man sich so nennt. Das ist die freundliche Lesart des Protests, ein Autofahrer, der deswegen im Stau steht, wird ihn anders lesen. Ich hocke irgendwo dazwischen und teile deshalb nach zwei Seiten aus:
An die Adresse der Kleber:
- Vermeidet Situationen, wo Menschen gefährdet werden! In München soll vor kurzem ein Flugzeug mit einem Notfallpatienten an Bord wegen einer Rollbahnblockade zu einer „Ehrenrunde“ gezwungen gewesen sein.
- Verzichtet auf flapsige Bemerkungen wie „Es ist Klimakampf, nicht Klimakuscheln. Shit happens/So etwas kann passieren!“
- Nehmt keinen Multikomponentenkleber, sondern einen Kleber, der sich schnell entfernen lässt! Eine Blockade von zehn Minuten sollte genügen.
- Lasst die Finger von den Museen! Ein Kunstwerk kann man nicht mit einem süchtigen SUV-Fahrer in einen Topf werfen.
- Stellt Forderungen, die mehrheitsfähig sind, die Beibehaltung des 9 Euro-Tickets, eine Geschwindigkeitsbegrenzung, vielleicht nicht auf 100 aber auf 120!
An die Adresse der Gegenseite:
- Vemeidet unpassende Vergleiche, auch wenn sie einem bestimmten Publikum gefallen mögen! Die Aktivisten sind keine „Klima-RAF“.
- Differenziert zwischen Anliegen und Methode! Was die zaghaften Schritte gegen den Klimawandel anbelangt, haben die Aktivisten recht. Ob man diesen Standpunkt einer Schlange von Pendlern oder Fluggästen aufzwingen soll, ist eine andere Sache.
- Hütet euch vor einer Konsequenz, wie sie blöder nicht sein kann! Den Klimawandel weiter/wieder zu ignorieren, weil man den radikalen Protest ablehnt.
- Zeigt als Autofahrer mehr Gelassenheit! Eine kurze Blockade akzeptiert man ja auch bei Unfällen und Schneestürmen.
- Und 30 Tage Sicherheitsgewahrsam (wie in Bayern möglich) ist entschieden zu viel! Das geht sogar dem neuen Chef der Polizeigewerkschaft zu weit.
Ich habe in meinem Artikel zu Katar durchaus Verständnis gezeigt, wenn Leute die WM boykottieren, habe aber im Schlusssatz geschrieben, dass man mit dem deutschen Team im Finale „jedes Boykottversprechen brechen dürfe“. Auch beim Thema „Kleber“ bin ich eher moderat: die Demos der „Fridays for Future“ sind mir lieber.
Im Dezember waren die Kleber mit ihren Aktionen eines der Reizthemen des Monats, die auch die unterschiedliche Ausrichtung unserer beiden Regionalzeitungen – scharfe Verurteilung (Merkur) vs. Kritik an der Radikalität des Protests, Entlastungsversuche (SZ) deutlich machten.
Wir beschränken uns auf das Gespräch, zu dem der evangelische Landesbischof Bedford-Strohm Klimaaktivisten und den bayrischen Innenminister zusammengebracht hatte. Der Bischof hatte eine Art „Weihnachtsfrieden“ vorgeschlagen, der es den Aktivisten ermöglichen würde, neue Kraft zu schöpfen und der Polizei zusätzlichen Feiertagsdienst ersparen würde. Die Politik hätte wieder etwas Zeit, „sich auf ein entschiedenes Handeln zu konzentrieren“. Ob er damit das Vorgehen gegen die Klimaaktivisten oder gegen den Klimawandel meinte, blieb in der dpa-Meldung offen, aber wer den Bischof kennt, weiß, was er meinte. Eine Sprecherin der „Letzten Generation“ lehnte eine Pause ab, aber im Netz war mit dem Protest in München/Sonnenstraße am 20. Dezember zunächst einmal Schluss. Offensichtlich wollte die „Letzte Generation“ auch Weihnachten feiern – daheim oder im Gefängnis.
Und übrigens: Wir stimmen von Herzen zu, dass „Klima-Terrorist“ zum Unwort des Jahres 2022 gewählt worden ist.
Iran
- Befremdlich ist der Stellenwert, den das Kopftuch der Frau für die Identität der Islamischen Republik hat. Die Journalistin Natalie Amiri formuliert wie folgt:
„Das Kopftuch ist das Symbol der frauenfeindlichen Gewaltherrschaft und eine der Säulen des Regimes. Fällt es, ist das der Beginn vom Ende. Aber bis dahin ist es ein weiter Weg.“
- Wie weit und dornig dieser Weg ist, wenn er denn überhaupt begangen wird, zeigt die Reaktion des Regimes. Wenn auch manche symbolische Gesten „aus taktischen Gründen“ toleriert werden, beispielsweise ein gemeinsamer Tanz von Männern und Frauen auf der Straße, setzt die Führung weiterhin auf größtmögliche Härte. Der oberste Richter empfiehlt, Teilnehmer an den Straßenprotesten mit dem Tode zu bestrafen. Die ersten Todesurteile wurden verkündet und Anfang Dezember vollstreckt.
- Wie man die iranische Fußballmannschaft zuhause empfangen hat, nachdem sie bei der WM die Hymne gar nicht oder nur verhalten mitgesungen hat, war Mitte Dezember noch nicht bekannt.
- Die EU hat gegen Offiziere der Sicherheitskräfte Sanktionen verhängt, u.a. gegen die vier namentlich bekannte Sittenpolizisten, die Mahsa Amini am 13. September zu einer „Erziehungsstunde“ auf die Polizeiwache verbracht hatten. In Genf haben Deutschland und Island ihren Antrag an den UN-Menschenrechtsrat, die Gewalt der iranischen Führung gegen die Protestbewegung unabhängig untersuchen zu lassen, mit klarer Mehrheit durchgebracht. Jetzt schickt der „Satan“ (der Westen, Israel, Saudi-Arabien) seine (Ermittler)Legionen aus, um die Ayatollahs und die Sicherheitskräfte dahin zu befördern, wo sie hingehören. So wäre es wenigstens gedacht!
- In München kamen bei einer Demo immerhin 4000 Leute zusammen. Die Sittenpolizei hätte allen Grund gehabt, auf die weiblichen Teilnehmer zuzugreifen.
Novemberstimmungen
„Spezialoperation“ Russland-Ukraine: Russlands Frauen begehren auf, weil ihre Söhne und Männer an die Front geschickt werden – ohne ausreichend ausgerüstet und ausgebildet zu sein. Da russische Staatsfernsehen sendet dazu Bilder von Rekruten in Kampfausrüstung der Luxusklasse.
Ein Video hat den UN-Hochkommissar für Menschenrechte in Wallung gebracht. Es zeigt gefangene russische Soldaten, die am Boden liegen und von Ukrainern bewacht werden. Dann hört man Schüsse, und auf einer weiteren Aufnahme sieht man knapp ein Dutzend Leichen. Russland wirft der Ukraine vor, die Gefangenen hinterrücks erschossen zu haben, die ukrainische Armee spricht von einem „Akt der Selbstverteidigung“.
Unter dem Titel „Ein Hammer der Rache“ wurde ein Video veröffentlicht, das auch in Russland für öffentliches Entsetzen sorgte. Ein Überläufer, der nach seiner Anwerbung durch die Gruppe Wagner die Seiten gewechselt hatte, wurde von der Gruppe wieder gefangengenommen und mit einem Vorschlaghammer getötet. Prigoschin, der Chef der Söldnergruppe sprach von einem „hündischen Tod für einen Hund“, der russische Menschenrechtsrat möchte immerhin das Video überprüfen.
Flüchtlingsschach: „Nimmst du diese Flüchtlinge nicht auf, weise ich jene Flüchtlinge zurück“, so ähnlich spielte sich der Schlagabtausch zwischen Italien und Frankreich ab, bei dem 230 Migranten an Bord der Ocean Viking im Mittelmeer hin- und hergeschoben wurden. Als sie endlich in Toulon an Land durften, sperrte Frankreich 3500 Migranten aus, die es von Italien hätte übernehmen müssen.
Relativiert wurde ein Mythos, der besagt, dass Italien die „Hauptlast“ der Migration trägt. Was die Zahl der Asylgesuche für das Jahr 2021 anbelangt, stand Italien nur an vierter Stelle, und war, gemessen an der Bevölkerungszahl, gar nur Nummer 15 in der EU. Zwar kommen die meisten Meeresflüchtlinge in Italien an, aber dann ziehen sie weiter, trotz des Abkommens von Dublin. Wie die Flüchtlinge/Italiener das nur machen!
In Deutschland zeichnet sich ein Anstieg der Zahl der Angriffe auf Flüchtlingsheime ab. In dem ersten neun Monaten dieses Jahres kam es zu 65 Anschlägen. Ein Grund könnte sein, dass Flüchtlinge als Sündenböcke für hiesige Probleme genommen werden.
Deutschlands Rechtsaußen: Wie ein Probelauf für die Reichsirrenverschwörung im Dezember lesen sich zwei Veranstaltungen, die Rechtsauslegerund Verschwörungsideologen in München und Leipzig durchführen wollten und die beide mit einem Flop endeten. In München wollte man ausgerechnet am 9. November für „Freiheit für alle politischen Gefangenen“ demonstrieren, u.a. für die Shoah-Leugnerin Marianne Wilfert, die wegen Beleidigung und Volksverhetzung im Gefängnis sitzt. Sie hatte beispielsweise behauptet, dass Juden im KZ so „wohlgenährt und rundum gut versorgt wurden“, dass sie sich zahlreich vermehrt hätten. Die Demo wurde vom Veranstalter Markus Haintz schon nach einer Stunde abrupt abgebrochen, angeblich weil ihm ein jüdischer Gegendemonstrant gesagt habe, die Demo „fühle sich für ihn heute nicht richtig an“. Erinnert fast an das Damaskus-Erlebnis des hl. Paulus.
In Leipzig war eine Demo gegen amerikanische Besatzung und Flüchtlingsströme angesagt. Erwartet wurden 15 000 Teilnehmer, aber es kamen nur 1000. Am Abend stoppten Gegendemonstranten mit einer Sitzblockade (ohne Klebstoff am Hinterteil) den Marsch der rechten Querdenker und Freien Sachsen nach ein paar hundert Metern. Die vielgeschmähte sächsische Polizei hatte die Lage fest im Griff, und der Oberbürgermeister hatte schon im Vorfeld zum friedlichen Protest gegen das Motto der Demo „Ami go home“ aufgerufen.
Sitzblockade „Nazis go home“
Der Blödmann des Jahres ist diesmal eine Frau. Lauren Boebert, eine Republikanerin aus Colorado/USA hat schon im Juni verlauten lassen, dass Jesus seine Kreuzigung hätte verhindern können, wenn er im Besitz einer halbautomatischen AR-15 gewesen wäre. Diese Waffe wird immer wieder auch bei Amokläufen genutzt. Allein im November gab es in den USA vier davon – Amokläufe, nicht AR-15.
Zaghafte Erfolgsmeldungen
Äthiopien - Tigray: 2. Versuch! Die Konfliktparteien im „derzeit schwersten Krieg weltweit“ haben sich (wieder einmal) auf einen Waffenstillstand geeinigt. Im Gegensatz zum Waffenstillstand im Sommer, der nach fünf Monaten scheiterte, soll er diesmal „dauerhaft“ sein. Man hofft, dass die UN wieder ihre Lebensmittellieferungen aufnehmen können. Dem äthiopischen Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed hat man zu Recht vorgeworfen, den Hunger als Waffe zu benutzen.
Ägypten: Der Menschenrechtler Alaa Abd el-Fattah, eine der Führungsfiguren des Arabischen Frühlings, hat nach mehr als sieben Monaten seinen Hungerstreik abgebrochen. Im November hatte er auch einen Durststreik begonnen, und sein Gesundheitszustand soll sich massiv verschlechtert haben. Angeblich haben Joe Biden und Olaf Scholz auf der Klimakonferenz seinen Fall beim Präsidenten al-Sisi angesprochen.
Hoffentlich schaut er bald wieder so aus.
Myanmar: Gute Nachrichten aus Myanmyar? Die gibt es nur mit Pferdefuß. Anlässlich des Nationalfeiertags hat die Militärjunta mit der Freilassung von fast 6000 Gefangenen begonnen, darunter auch eine leibhaftige ehemalige Botschafterin, die Britin Vicky Bowman. Von einheimischen Oppositionellen wurden nur wenige aus der Haft entlassen.
Ungarn: In Ungarn haben sich Schüler mit streikenden Lehrern solidarisiert und haben ihre Unterstützung dahingehend materialisiert, dass sie den Lehrern Pfannkuchen backen. Die Lehrer streiken nach eigenen Aussagen weniger für höhere Gehälter, obwohl die zu den niedrigsten in Europa gehören, sondern v.a. gegen die Gängelung von Schulen und Lehrpersonal. Für die Schulen ist seit einiger Zeit das Innenministerium zuständig, und die Lehrer werden gezwungen, dem von der Regierungspartei kontrollierten Pädagogenverband beizutreten. Die Schüler forderten auf Plakaten von der Regierung Orban, „sich endlich erwachsen zu benehmen“.
Schülerprotest in Budapest
Katholisches Arbeitsrecht: Ja, so etwas gibt es, sonst hätte man es nicht ändern können. Folgender Satz ist den Bischöfen reichlich spät eingefallen, und man fragt sich, ob er mehr auf Einsicht oder auf Personalmangel beruht.
„Der Kernbereich privater Lebensgestaltung unterliegt keiner rechtlichen Bewertung und entzieht sich dem Zugriff des Dienstgebers.“
Damit können Pastoralreferenten oder Erzieherinnen offen in einer schwulen oder lesbischen Partnerschaft leben und Ärzte an kirchlichen Krankenhäuser nach einer Scheidung wieder heiraten und dort weiterarbeiten. Ein Kirchenaustritt bleibt weiterhin ein Kündigungsgrund.
Staatsbürgerschaft: Innenministerin Faeser möchte es Menschen mit Migrationshintergrund erleichtern, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben. Statt nach acht sollen sie sich schon nach fünf Jahren regulären Aufenthalts in Deutschland einbürgern können, bei besonderem Engagement für das Gemeinwesen sogar schon nach drei. Der Aufschrei (dagegen) war laut: der deutsche Pass dürfe nicht entwertet werden, meint die Union, die AfD zögert noch, den Begriff des „Bevölkerungsaustausches“ wieder aus der Schublade zu holen. Wir halten es mit dem Schlusssatz eines Artikels der SZ: „Wer bleibt und anpackt, der gehört dazu.“
China: Das Land soll in dieser Rubrik auftauchen, weil es lange Zeit den Eindruck vermittelte, es hätte den Erfolg gepachtet: Covid-19 fest im Griff, bis vor kurzem hohe Wachstumsraten, die Eroberung Taiwans eine Frage der Zeit, die Opposition hinter Schloss und Riegel, ein Parteitag, der den Führungsanspruch von Parteichef Xi Jinping abnickte und nicht einmal protestierte, als er seinen Sitznachbarn den Ex-Staatschef Hu Jintao von Saalordnern abführen ließ.
Dann kam es zu einem Wohnungsbrand in der Stadt Ürümqi, der mindestens zehn Todesopfer forderte. Da die Stadt schon 100 Tage im Lockdown war, gab es schnell Kritik, dass die rigorosen Einschränkungen für die Todesfälle verantwortlich waren. Positiv Getestete sollen in Wohnungen eingeschlossen und Notausgänge verriegelt gewesen sein, und der Feuerwehr war der Zugang durch Barrieren und Zäune versperrt.
Und dann wurde aus dem Wohnungsbrand ein Flächenbrand. In Shanghai riefen Demonstranten „Nieder mit Xi Jinping und der kommunistischen Partei“, in Peking gingen 1000 Menschen auf die Straße, um gegen die Covid-Politik der Regierung zu protestieren, in vielen Städten wurde leere weiße Blätter geschwenkt und Meinungsfreiheit eingefordert. Man sprach von der größten Protestwelle seit der Demokratiebewegung des Jahres 1989.
Die Regierung reagierte zunächst wie erwartet. Jeder, der bei den Demos das Wort ergriff oder wie ein Rädelsführer aussah, wurde verhaftet, Handys wurden nach Demofotos durchsucht, Journalisten in ihrer Arbeit behindert. Parallel dazu die ersten Lockerungen und im Dezember die „Zeitenwende“ in der Covid-Politik – und einen Anstieg der Fälle von Null auf über eine Million.
Der Mann des Monats
Der Mann des Monats heißt Peng Lifa oder auch „der Brückenmann“. Zum Parteitag der KP montierte er zwei riesige Transparente auf der vielbefahrenen Sitong-Brücke in Peking. Auf einem Transparent stand:
„Wir wollen Essen, keine Covid-Tests. Wir wollen Reformen, keine Kulturrevolution. Wir wollen Freiheit, keine Lockdowns. Wir brauchen keinen kommunistischen Führer, wir wollen Wahlen. Wir wollen keine Lügen, sondern Respekt. Wir wollen Bürger sein, keine Sklaven.“
Dieser Text dürfte für mehr als eine Todesstrafe reichen. Der Brückenmann von Peking ist seit dem 13. Oktober nicht mehr gesehen worden.
Peng Lifa
Dezember 2022
Ich werde sie Ihnen nicht ersparen – die düsteren Nachrichten des Monats, aber, weil Weihnachten ist, fangen wir mit den guten Nachrichten an, die im Zeitalter des Negativismus leider kürzer (und schwerer verkäuflich) sind.
Und zur Einstimmung ein paar Zeilen aus dem „Optimistischen Liedchen“ von Hans Magnus Enzensberger, der im Vormonat verstorben ist:
„Vormittags wimmelt es auf den Straßen
Von Personen, die ohne gezücktes Messer
hin- und herlaufen, seelenruhig,
auf der Suche nach Milch und Radieschen.
Wie im tiefsten Frieden.
Ein herrlicher Anblick.“
Weihnachtsnahe Nachrichten
- Sambias Präsident Hakainde Hichilema hat zu Weihnachten die Abschaffung der Todesstrafe verkündet. Eines seiner Wahlversprechen war gewesen, „alle Gesetze anzupassen, … die Menschenrechte und Grundfreiheiten behindern“. Und er hat sein Versprechen gehalten.
- Die Hongkonger Bürgerrechtlerin Chow Hang-tung hat erfolgreich Berufung gegen ihre Verurteilung wegen der Organisation einer Mahnwache für Opfer des Massakers auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking (1989) eingelegt. Die Polizei habe es versäumt, den Organisatoren die entsprechenden Auflagen mitzuteilen. Da die Gedenkfeiern seit 2020 verboten sind, hätte das wohl geheißen: Die Demo ist nur erlaubt, wenn ihr zuhause bleibt.
- Im Zweiländerstreifen Israel/Palästina gibt es einen „Parents Circle/Elternkreis“, in dem sich Eltern treffen, die in dem ewigen Konflikt zwischen den beiden Völkern Kinder verloren haben. Sie gehören zu den wenigen Menschen dort, die sich noch „die Hoffnung teilen, dass dieser Konflikt ein Ende nehmen kann“. Und sie sind vermutlich „die einzige Organisation der Welt, die keine neuen Mitglieder will“.
Layla Alsheikh und Ben Kfir
- Auf der WM in Katar musste der Iran gegen die USA antreten. Auf der politischen Ebene gab es im Vorfeld das übliche Hickhack, aber auf dem Spielfeld einstand ein Foto, das „einen Moment für die Fußballgeschichte“ festhielt.
Trost für den Verlierer
- In Oslo nahm die somalische Menschenrechtsaktivistin Ilwad Elman zusammen mit ihrer Mutter den alternativen Friedensnobelpreis entgegen. Die beiden Frauen waren aus dem sicheren Kanada in ihre wie von Gott verlassene Heimat zurückgekehrt, um in Mogadischu die Arbeit ihres (ermordeten) Ehemannes und Vaters fortzusetzen. Sie betreuen Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt, bieten Ausbildungsprogramme für Frauen und Mädchen an und kümmern sich um ehemalige Kindersoldaten, manchmal mit ungewöhnlichen Therapiemethoden. So machen sie beispielsweise mit traumatisierten Frauen Spaziergänge am Strand. Die Strände Somalias sollen die schönsten Strände Afrikas sein. Statt Anschläge auf Hotels zu verüben, sollten die Terroristen von al-Shabaab dort lieber baden gehen.
- Auch wenn es Anfang 2023, nicht zuletzt als Folge der Silvesterkrawalle Anzeichen gibt, dass das Migrationsproblem bei den Rechten und Halbrechten wieder Wahlkampfthema wird, wollen wir am Jahresende wiedergeben, was eine Umfrage des Sachverständigenrates für Integration und Migration/SVR noch Mitte Dezember ergeben hat. Demnach gibt es bei Fragen rund um Einwanderung und Integration eine positivere Bewertung als in den vergangenen Jahren. Der SVR spricht sogar von 90 Prozent, die ein Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen als bereichernd empfinden. Das grenzt ja fast wieder an „multikulturell“.
- Schließen möchten wir die „Milch und Radieschen Passage“ mit einem echten Weihnachtswunder. Das Baby Jesus ist, so die Bibel, dem Kindermord in Bethlehem durch die Flucht nach Ägypten entkommen. Eine erfolgreiche Flucht legten auch drei Nigerianer hin, die auf dem Ruder eines Öltankers über elf Tage ausharrten und es tatsächlich bis nach Gran Canaria schafften. Wie viele Menschen bei der Reise auf dem Ruder schon umkamen/dem Herodes zum Opfer fielen, weiß niemand.
Die Flucht auf dem Ruderblatt
Wir müssen uns jetzt leider wieder den Orten zuwenden, wo Menschen mit „gezückten Messern“ herumlaufen.
Afghanistan
Körperstrafen: Die Gotteskrieger setzen ihren Marsch in die Vergangenheit fort und verhängen wieder die gleichen Strafen, die sie schon vor 30 Jahren verhängt haben. Im November wurden drei Frauen und elf Männer öffentlich ausgepeitscht. Ihre Vergehen: Diebstahl, Drogenkonsum und „sittenwidrige Handlungen“. Allah wird schon wissen, was hier „sittenwidrig“ ist.
Diskriminierung von Frauen: Dann haben die Taliban verfügt, dass die Frauen „bis auf Weiteres“ keine Universitäten mehr besuchen dürfen. Das „bis auf Weiteres“ kann man getrost streichen. Die Frauen in den Städten
„sind entsetzt und hoffnungslos und fühlen sich von der internationalen Gemeinschaft betrogen, weil sie Afghanistan den Taliban regelrecht überreicht haben“,
sagte Fausia Kufi, die Frau, die 2020 noch Mitglied der afghanischen Delegation war, die in Doha/Katar mit den Taliban verhandelt hat.
Und dann kam Ende des Monats der nächste Schlag. Man untersagte den NGOs, weibliche Mitarbeiter zu beschäftigen, weil zu viele von ihnen gegen das Verschleierungsverbot verstoßen hätten. Die meisten Hilfsorganisationen stellten darauf ihre Arbeit ein, da sie durch das Verbot keinen Zugang mehr zu ihrer weiblichen Klientel haben. In Afghanistan dürfen im Gesundheitsbereich nur Frauen mit Frauen reden.
Bei den Taliban scheinen sich derzeit die Hardliner durchzusetzen, die in ihrem „Siegestaumel“ nicht auf Druck von außen reagieren, aber immerhin scheint man jetzt erlaubt zu haben, dass weibliche UN-Angestellte, ausländische Mitarbeiter der NGOs und Frauen, die im Gesundheitsbereich arbeiteten, weiter tätig sein dürfen.
Iran
Der Aufstand geht weiter, ist aber weitgehend aus unseren Schlagzeilen verschwunden. Auch das könnte das Mullah-Regime in der Meinung bestärken, dass man in bewährter Manier mit den Unruhen fertig wird – nämlich mit finaler Härte.
Auflösung der Sittenpolizei: Als der iranische Generalstaatsanwalt Anfang des Monats die Auflösung der berüchtigten Sittenpolizei verkündete, blieb die Skepsis groß. Zum einen, weil der Mann offiziell gar nicht zuständig war, zum anderen, weil eine Bestätigung der iranischen Regierung bisher ausgeblieben ist. Es könnte sich um einen „Versuchsballon“ gehandelt haben, um zu testen, ob Zugeständnisse zu einem Abflauen der Proteste führen würden. Dem war nicht so, deshalb
Hinrichtungen: Das Tauwetter währte nur kurz, denn nur wenige Tage nach der Ankündigung des Generalstaatsanwalts wurde die erste Hinrichtung eines Demonstranten bekannt. Er habe ein Mitglied der Basidsch-Miliz mit der Waffe angegriffen und damit „Krieg gegen Gott“ geführt. Mohsen Schekari sollte nicht das einzige Opfer bleiben. Bis zum 8. Januar 2023 waren es deren vier. In einem Brief an die iranische (Lynch)Justizautorität in Brüssel nannte AI insgesamt 28 Namen.
Attacken auf die Prominenz: Auch ein Bekanntheitsgrad schützt nicht vor Schikanen, Verhaftung und Tod. Das erste Opfer, Mohsen Schekari, war ein bekannter Rapper, die Ehefrau des Fußballers Ali Dael wurde bei der Ausreise an einem erzwungenen Zwischenstopp aus dem Flugzeug geholt, die Schauspielerin Taraneh Alidoosti muss mit einer langjährigen Haftstrafe rechnen, der Radiologe Hamid Ghareh Hassanlou sitzt im Todestrakt, und Mitte Januar 2023 wurde der iranisch-britische Doppelstaatler und frühere Vize-Verteidigungsminister Aliresa Akbari hingerichtet. Die Reaktion der Europäer darauf war eher kosmetischer Natur: die Briten zogen ihren Botschafter (vorübergehend) ab, Deutschland und Frankreich bestellten die iranischen Botschafter ein. Erschießen der Botschafter wäre wirkungsvoller, aber undiplomatisch! (Vorsicht Satire!)
Und auch der Vorschlag des Karikaturisten könnte den Mullahs gefallen:
Der Hohe Rat der Mullahs
Ukraine – Russland
Folterkeller: Der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte wirft Moskau vor, auch Kinder misshandelt zu haben. In der Region Cherson soll eine Folterkammer mit Kinderzelle gefunden worden sein. Sie soll sich von den Zellen für erwachsene Insassen dadurch unterschieden haben, dass dünne Matten auf dem Boden lagen.
Bluthunde: Ramsan Kadyrow, Präsident von Tschetschenien, hatte sich schon immer eine brutalere Kriegsführung in der Ukraine gewünscht. Im Dezember drohte er Unruhestiftern in seiner Teilrepublik, sie in die „Spezialoperation“ zu schicken, im Januar 2023 setzte er 300 Milizionäre in Marsch, die jetzt mit der Gruppe Wagner wetteifern, wer brutaler ist. Seine Kritiker verfolgt Kadyrow noch im Exil: der Regimegegner Tumso Abdurachmanow wurde Anfang Dezember in Schweden erschossen, sein Bruder Mochmad sollte auf deutschem Boden erledigt werden. Der Prozess gegen den mutmaßlichen Auftragsmörder begann im Juni in München.
Grenzwertiges: In einem niederbayrischen Dorfladen äußerte eine alte Bäuerin ihre Angst vor den Russen mit folgenden Worten: „ ... der Putin, der Dreckhammel, die sollen ihm halt vergem“. Im Laden helles Entsetzen unter den Kunden. Des Dialekts unkundig wussten sie nicht, dass „vergeben“ früher auch „vergiften/durch Gift hinrichten“ bedeutete.
Da ist Nikita Juferew, Oppositionspolitiker aus St. Petersburg, mit Putin eher noch gnädiger umgesprungen. Er hat den Präsidenten wegen „Diskreditierung der Armee“ angezeigt. Putin hatte in einer Pressekonferenz zum ersten Mal das Wort „Krieg“ verwendet. Wer in Russland seit März 2022 die Dinge beim Namen nennt und zum Krieg auch „Krieg“ sagt, macht sich strafbar. Die russische Armee ist schließlich nur auf einem Jagdausflug in der Ukraine.
Deutschland
Was sagt da der Lenin über Deutschland?
„Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas. Wenn die Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen sie sich vorher noch eine Bahnsteigkarte?“
„Dem Lenin werden wir es posthum zeigen“, sagte Seine Hoheit Heinrich XIII. Prinz Reuß, und ließ sich einen Tag nach Nikolaus bei einem geplanten Staatsstreich erwischen. Zusammen mit der früheren AfD Abgeordneten Birgit Malsack-Winkeman ging er der Polizei auf einer bundesweiten Razzia bei Reichsbürgern ins Netz. Mit von der Partie wären Rechtsextremisten, Querdenker und Verschwörungstheoretiker gewesen. 25 Personen wurden festgenommen, 27 weitere Personen der Teilnahme beschuldigt. Müßig zu sagen, dass man auch im Landkreis Miesbach fündig wurde.
Die „Spinner“ waren nicht ungefährlich. Es wurden 93 Waffen beschlagnahmt und genügend Geld, um weitere zu kaufen und damit die geplanten 286 Heimatschutzkompanien auszustatten. Und zur Gruppe gehörten auch Ex-Elitesoldaten, die wussten, wie man mit Waffen umgeht. Alice Weidel, die Parteichefin der AfD, um griffige Formulierungen nie verlegen, spielte die Verschwörung als „Rollator-Putsch“ herunter und verschwieg natürlich, dass ihre Partei zu jenen gehört, aus deren Schoß die Verschwörer gekrochen sind.
Schwerverdauliches und sonstige AI-Meldungen
Katargate: Die Vizepräsidentin des Europaparlaments Eva Kaili wurde wegen des Verdachts auf Korruption und Geldwäsche festgenommen. Sie hatte versucht, Entscheidungen Brüssels zugunsten Katars zu beeinflussen und hatte in Bezug auf Arbeitnehmerrechte von großen Fortschritten im Land gesprochen. Ins gleiche Horn getutet, aber angeblich „ohne Gegenleistung“, hatte Luca Visentini, der Generalsekretär des internationalen Gewerkschaftsbundes ITUC. Wofür er die 50 000€, die ihm die NGO „Fight Impunity“/Kampf gegen die Straflosigkeit zukommen ließ, erhalten hat, ist unklar. Der Chef dieser fragwürdigen NGO, der ehemalige Europaabgeordnete Pier Antonio Panzeri, scheint der Drahtzieher in dem Skandal zu sein. Wenn es stimmt, sollte er nicht straflos davonkommen.
Es ist anzunehmen, dass die Affäre für Viktor Orbán die „Mutter aller Weihnachtsgeschenke“ war.
Aung San Suu Kyi: Der Ex-Regierungschefin von Myanmar wurden wegen Korruption weitere sieben Jahre Haft aufgebrummt. Damit beläuft sich die Gesamtstrafe auf 33 Jahre. Das reicht aus, um sie für den Rest ihres Lebens festzuhalten. Im Jahre 2019 hatte sie in Den Haag das Vorgehen des Militärs gegen die Rohingya noch verteidigt, aber Dankbarkeit ist von den Generälen nicht zu erwarten.
Sturm auf das Kapitol – das Nachbeben: Ein Gericht in Washington D.C. hat Stewart Rhodes, den Anführer der „Oath Keepers“/Eid-Halter, der aufrührerischen Verschwörung für schuldig befunden. Wenn man weitere Delikte dazuzählt, könnte er auf eine Höchststrafe von 60 Jahren kommen. Seine Anwälte möchten in Berufung gehen, und wenn das nicht hilft, kommt Donald Tump, der Wahlgewinner von 2024, und begnadigt den Milizionär, der sich ja „nur bereitgehalten habe, dem Präsidenten (Trump) zu Hilfe zu kommen“.
Erdogan im Wahlkampfmodus: Wegen der hohen Inflation im Lande, ist Erdogans Wiederwahl gefährdet, und deshalb holt er sich (wieder einmal) Hilfe bei der „unabhängigen“ Justiz. Die hat jetzt ein Politikverbot für Erdogans chancenreichsten Herausforderer Ekrem Imamoglu, den Bürgermeister von Istanbul, verhängt. Der Grund für die Verurteilung ist relativ harmlos: Er soll Beamte der Wahlbehörde als „Idioten“ bezeichnet haben. Es ist nicht auszuschließen, dass sie sich bei der umstrittenen Wiederholung der Bürgermeisterwahl von 2019 wie solche verhalten haben.
Indonesien – Verschärfung des Strafgesetzbuchs: Indonesien galt früher als ein „gemäßigt muslimisches“ Land, aber ab 2025 weht ein anderer Wind, der v.a. der LGBTQ-Gemeinschaft ins Gesicht blasen wird. Homosexuelle Handlungen werden dann strafrechtlich geahndet. In einem Aufwasch hat man gleich noch Blasphemie, Präsidentenbeleidigung, Sex vor der Ehe und Fremdgehen unter Strafe gestellt. Die Clique der Hardliner marschiert – und das weltweit.
Ortsgeschichten aus Deutschland
Illerkirchberg/Ulm: Dort hat ein Asylbewerber aus Eritrea zwei Mädchen auf dem Schulweg mit dem Messer angegriffen. Eines der Mädchen wurde schwer, die andere tödlich verletzt. Im Ort wurde 2019 schon einmal ein Mädchen von einem Afghanen vergewaltigt, da kann man verstehen, dass die Emotionen hochschlagen. Da wird es auch schwer, dem Klischee vom „kriminellen Ausländer“ entgegenzutreten, noch dazu, weil Flüchtlinge in der Statistik bei den schweren Delikten (Tötungen, sexuelle Übergriffe) deutlich überrepräsentiert sind. Was die Wahrnehmung aber verzerrt, ist die Tatsache, dass der Anteil an jungen Männern bei ihnen viel höher ist als bei der deutschen Bevölkerung, und dass die Bereitschaft zur Anzeige deutlich stärker ist, wenn der Täter Ausländer ist. Aber am Ende der Erklärungskette steht schließlich doch ein totes Mädchen.
Holzkirchen: „Rassismus auf Kirchengrund – das geht gar nicht!“ Mit diesen Worten leitete der Holzkirchner Pfarrer Gottfried Doll das Interview mit dem Merkur ein, als dieser ihn zu einem Vorfall vor der Kirche St. Josef befragte. Dort waren zwei Jugendliche mit Migrationshintergrund von einer Frau mit einer Bemerkung „unter der Gürtellinie“ beleidigt worden. Die Frau kam aus der Kirche, und man fragt sich schon, was sie an diesem Ort verloren hatte.
München: Ein seltsames, irgendwie aus der Zeit gefallenes Urteil sprach ein Münchner Amtsgericht. Ein Gräfelfinger, der zur Miete in einem Einfamilienhaus wohnt, hatte eine Ukrainerin und ihre Enkelin in Untermiete aufgenommen. Die Eigentümer sahen sich dadurch in ihrer Ruhe gestört, die Richterin sah in der Untervermietung kein „berechtigtes Interesse“ des Mieters und gab dem Vermieter recht. Der Mieterverein hingegen sieht humanitäre Hilfe durchaus als „berechtigtes Interesse“ an und will den Fall „höchstrichterlich“ klären lassen.
Schluss
Man wurde im letzten Monat des Jahres mit manchen Illusionen konfrontiert, die sich als trügerisch erwiesen, die Illusion,
- dass die Mullahs im Iran ihren Kurs ändern
- dass die Taliban ihre Versprechen den Frauen gegenüber halten
- dass alle Flüchtlinge nette Kerle sind
- dass Ukrainer in Deutschland überall willkommen sind.
Deshalb ist es vermessen, am Ende dieses Monatsberichts das folgende Zitat von Mark Twain zu setzen. Aber vermessen ist doch auch die christliche Weihnachtsbotschaft, dass Gott Mensch geworden ist.
„Trenne
dich
nie von deinen Illusionen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter
existieren, aber aufgehört haben zu leben.“
3. Der Tätigkeitsbericht: das AI-Jahr im
Landkreis Miesbach
3.1 Schreibtischtaten
Wie in den letzten Jahren war auch heuer für unsere AI-Aktivitäten der heimische Schreibtisch unser bestfrequentierter Aufenthalts- und Agitationsort, und nicht der Infostand, die Straße oder eine Veranstaltungsarena, obwohl wir gelegentlich auch außer Haus zu finden waren. Aber beim Briefe- und Kartenschreiben mussten wir wenigstens keine Maske tragen. Hier unsere „Kundendatei des Jahres 2022, „upgedated“ so gut es ging bis zum Jahresende.
Dass man oft so wenig weiß, was aus den „Fällen“ geworden ist, hat zwei Gründe. Zum einen gibt es selten eine Reaktion der Adressaten (Präsident, Justizbehörde, Gefängnisleitung), zumindest nicht in Form eines Antwortschreibens, zum anderen lässt einen das Internet (aber leider auch die AI-Zentrale) häufig in Stich, wenn es um aktuelle Informationen geht. „Wir haben seither nichts mehr von ihr/ihm gehört“, ist deshalb bei vielen der genannten „Fälle“ ein (vorläufiger) Schlusspunkt.
Atena Daemi/Iran (Januar)
Beginnen wir mit einer „Erfolgsmeldung der anderen Art“, wie sie für die AI-Arbeit typisch ist. Die Aktivistin Atena Daemi war 2015 zu einer (verkürzten) Haftstrafe von sieben Jahren verurteilt worden. Sie hatte sich in den sozialen Medien und auf Demos gegen die Todesstrafe engagiert und war deshalb u.a. wegen „Verschwörung gegen die nationale Sicherheit“ angeklagt worden. Frau Daemi war 2018 eine Zielperson unseres Briefmarathons, aber ihre Haftstrafe saß sie bis zum letzten Tag ab, nicht zuletzt deswegen, weil sie sich auch im Gefängnis lautstark geäußert hatte. Am 24. Januar 2022 wurde sie freigelassen und dankte ihren Unterstützern mit einem Video, in dem sie, fast im Vorgriff auf die Protestbewegung im Herbst, ihre Hoffnung zum Ausdruck brachte, dass im Iran „ein öffentliches Bewusstsein für Menschenrechte und ihre Verwirklichung“ entstehen möge.
Atena Daemi
Ein Erfolg? werden Sie sagen. Nun, wenigstens hat man ihr während der Haft wegen ihrer „Halsstarrigkeit“ nicht noch ein paar Jahre zusätzlich verpasst.
Vyacheslav Valeryvich Egorov/Russische Föderation (Januar)
Der russische Umweltschützer hatte sich 2018 gegen eine geplante Mülldeponie eingesetzt und Massenproteste organisiert. Wenn man so etwas öfter macht oder nicht anmeldet, wird nach dem rigorosen russischen Strafgesetzbuch aus einer Ordnungswidrigkeit eine Straftat und kann mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Egorov wurde zunächst unter Hausarrest gestellt, dann im Oktober 2021 zu einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Wenn Sie diesen Bericht lesen, müsste er in Freiheit sein, aber, wie gesagt, solche Schlusspunkte sind oft nur vorläufig.
El Salvador – Abtreibung oder Schwangerschaftskomplikation? (Februar)
Im Vorfeld des Internationalen Frauentags forderte AI die Freilassung von Frauen, die lediglich aufgrund von Schwangerschaftskomplikationen in Haft sind. Zu jenem Zeitpunkt saßen mehr als zehn Frauen im Gefängnis, die wegen Kindsmords zu jahrzehntelangen Strafen verurteilt wurden, obwohl sie eine Fehl- oder Totgeburt erlitten hatten. In einem AI-Bericht wurden für das Jahr 2022 mehrere Fälle von Freilassungen aufgeführt, wo Frauen, die zu 30 Jahren verurteilt worden waren, nach zehn Jahren Haft „begnadigt“ oder freigesprochen wurden. Frauenorganisationen, die für Notlagen (Vergewaltigung, Gefährdung des Lebens der Mutter) eine Liberalisierung und Entkriminalisierung des Abtreibungsrechts fordern, konnten sich bisher gegen die Politik, die katholische Kirche und evangelikale Fundamentalisten nicht durchsetzen.
Frauenprotest in El Salvador
Mohammad Reza Haddadi/Iran (Februar)
Den Fall haben wir bereits im März erwähnt, hier die Vorgeschichte in Schlagzeilen:
2003 - angebliche Beteiligung an einem Mord, Alter zum Tatzeitpunkt 15 Jahre
2004 – „Geständnis“, Widerruf, Verurteilung zum Tod
2008 – Haddadi wird AI-Fall, erster Hinrichtungstermin wird ausgesetzt
Folgejahre – sechs weitere Hinrichtungsanordnungen
Februar 2022 – Nach 18 Jahren im Todestrakt wird das Todesurteil mit der Begründung aufgehoben, er “habe zum Zeitpunkt der Tat nicht die nötige Reife besessen“.
März 2022 – Freilassung nach Zahlung eines „Blutgelds“
Haddadi war einer von knapp 100 Häftlingen, die im Iran zum Tode verurteilt wurden, obwohl sie zum Zeitpunkt ihrer (angeblichen) Tat noch minderjährig waren – und manchmal erleiden sie ein anderes Schicksal als Mohammad Reza.
Weltfrauentag – Frauen in der Türkei (März)
In der Türkei wird im Durchschnitt täglich mindestens eine Frau aufgrund ihres Geschlechts ermordet. Diese Morde werden in der Türkei oft als Selbstmorde eingestuft und von staatlichen Stellen nicht angemessen untersucht. AI forderte u.a. mehr Frauenhäuser, ein entschiedenes Durchgreifen der Polizei und Sanktionen gegen die Täter, die der Schwere der Tat entsprechen.
Präsident Erdogan hat zum Frauentag ein passendes Geschenk nachgereicht. Er kündigte die Istanbul-Konvention zum Schutze von Frauen gegen Gewalt, weil die Konvention die „familiären Werte“ der Türkei gefährde und „Homosexualität normalisiere“. Was Erdogan aufstößt, ist der Passus in der Konvention, dass für lesbische und transgeschlechtliche Frauen die gleichen Schutzansprüche gelten. An die potentiellen Täter wird durch den Austritt aus der Konvention das fatale Signal gesendet, dass Gewalt gegen Frauen von Staats wegen verharmlost oder gar akzeptiert wird. Und warum braucht man dann noch eine Frauenorganisation namens We will stop femicides“/Wir werden den Morden an Frauen ein Ende setzen? Im Mai 2022 hat ein Staatsanwalt in Istanbul ihr Verbot beantragt.
Übrigens - in Deutschland wurden im Jahre 2021 113 Frauen von ihren Partnern getötet. Auch das sind 113 Fälle zu viel.
Alexandra Skochilenko/Russische Föderation (April)
Die Künstlerin wollte in Sankt Petersburg mit einer besonderen Kunstaktion auf den Ukraine-Krieg aufmerksam machen. Sie ersetzte die Preisschilder in Supermärkten durch Botschaften, die gegen Moskaus Feldzug in der Ukraine Stellung bezogen. Da hieß es etwa: „Die russische Armee hat eine Kunstschule in Mariupol bombardiert, in der sich etwa 400 Menschen vor den Angriffen versteckt hatten.“ Die Vergehen, die man ihr zur Last legt, zeugen von der gleichen Fantasie wie im Iran: „Fake News über die russischen Streitkräfte, politischer Hass auf Russland“. Ihr drohen bis zu zehn Jahren Haft.
Angriffskrieg im Sonderangebot
Ahmadreza Djalali/Iran (Mai)
Der schwedisch-iranische Doppelstaatler Dr. Ahmadreza Djalali stand im Mai kurz vor seiner Hinrichtung. Der Arzt war im April 2016 festgenommen und der Spionage bezichtigt worden. Im Iran heißt dieses Delikt „Verdorbenheit auf Erden“, aber verdorben ist eher das iranische Justizsystem, das Geständnisse unter Folter erzwingt und keinen Rechtsbeistand zulässt. Bei Djalali ging es um eine Geiselnahme auf Vorrat, weil man damit die Freilassung von kriminellen iranischen Ex-Beamten erzwingen wollte, denen man in Schweden und Belgien den Prozess macht. Die letzte Meldung im Netz stammt vom Juni 2022. Da war Djalali noch am Leben.
Claire Yinguinza/Zentralafrikanische Republik (Mai)
Die Mutter von acht Kindern fordert seit 2019 Gerechtigkeit und Entschädigung für das Leid, das man ihr und ihrer Tochter Nadia zugefügt hatte. Am 23. Dezember 2013 waren Mitglieder einer Miliz in ihr Haus eingedrungen und hatten sie und ihre Tochter vergewaltigt. Nadia wurde schwanger, sie und ihr Kind sind seit der Vergewaltigung HIV-positiv. Das Land zeichnet sich (unrühmlich) durch eine ausgeprägte Kultur der Straflosigkeit aus, die Ermittlungen verlaufen schleppend, die Täter sind weiterhin unbekannt. Es ist zu befürchten, dass Claire zum Obersten Gerichtshof noch nicht durchgedrungen ist. Und es ist zu hoffen, dass sie nicht auch noch den Söldnern der russischen Gruppe Wagner in die Hände fällt, die derzeit in dem armen Land ihr Unwesen treibt.
Narges Mohammadi/Iran (Juni)
Frau Mohammadi taucht seit Jahren in unserer Datei auf, weil sie immer wieder willkürlich für ihre Menschenrechtsarbeit bestraft wird. Man kann schon gar nicht mehr unterscheiden, zu welcher Haftstrafe sie gerade verurteilt ist und wie viele Peitschenhiebe man ihr derzeit verabreichen möchte. Im Juni haben wir gegen die Schikanen protestiert, mit denen man gezielt ihre Gesundheit ruiniert. Man verweigerte ihr lebenswichtige Medikamente, ließ sie bei ihrem Herzinfarkt nur vom Gefängnisarzt behandeln, schickte sie nach einer Notoperation im Krankenhaus vorzeitig ins Gefängnis zurück. Auch bei ihr hat es seit Juni 2022 keine Aktualisierung mehr gegeben.
Bernd Neuendorf/Deutschland (September)
Der ist weder Opfer noch Täter (im engeren Sinn), sondern Präsident des Deutschen Fußballbundes/DFB. Wir schrieben ihn an, nicht um ihn an die WM in Katar zu erinnern, denn die hatte er sicher auf dem Schirm, sondern mit der Bitte, als größter Fußballverband der Welt auf die FIFA Druck auszuüben, damit sie ihrer (Mit)Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen in Katar gerecht wird. Dazu gehören u.a. das Recht von Arbeitsmigranten auf Entschädigung und die Einrichtung eines Zentrums, wo sie sich beschweren können. Wie bereits erwähnt, hat AI beim DFB einen „Zwischenerfolg“ erzielt, aber ob der DFB bei der FIFA durchdringt, ist fraglich. Da müsste er schon mit dem Austritt aus dem Weltverband drohen. Das hätte für die FIFA finanzielle Folgen, und beim Geld ist der Kreis um Herrn Infantino bekanntlich recht empfindlich.
Blendungsurteile im Iran (Oktober)
„Auge um Auge“, dieses Prinzip existiert im Iran noch im wörtlichen Sinn. Drei Häftlingen, die verurteilt worden waren, weil ihre Gegner bei einem Streit ein Auge einbüßten, drohte als „Vergeltung gleicher Art“ die Blendung. Damit folgte das Gericht einer Tendenz, die auf eine noch härtere Gangart der iranischen Justiz schließen lässt. Im Jahre 2022 nahm nicht nur die Zahl der Hinrichtungen, sondern auch die der Körperstrafen zu. Wir appellierten an den iranischen Justizbeauftragten, sich dafür einzusetzen, dass „Körperstrafen abgeschafft werden und Gefangene mit Würde zu behandeln“ seien. Ob die Blendungen vollzogen wurden, wissen wir nicht, denn seit 2015 werden solche Bestrafungen nicht mehr veröffentlicht.
Brief an den russischen Botschafter (November)
Geballter kann Protest nicht sein – unterhalb des Einsatzes von Waffen, versteht sich. In dem Brief an den Botschafter rotzten wir ihm alles hin, was uns am Verhalten seines Landes derzeit missfällt: die Aggression gegen die Ukraine, die damit verbundenen Verstöße gegen Menschenrechtsnormen, die Missachtung von Meinungs-, Informations-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die in der Verfassung der Russischen Föderation garantiert sind. Das „Hochachtungsvoll“ haben wir aus formalen Gründen beibehalten. Der Botschafter scheint vom „Wumms“ unseres Protests so eingeschüchtert gewesen sein, dass er nicht einmal geantwortet hat. (Vorsicht Satire!)
Huang Qi/China (Dezember)
Sie werden sich vielleicht schon gefragt haben, ob wir da nicht ein Land übersehen haben, das menschenrechtlich auch keine weiße Weste hat, die VR China. Im Dezember sandten wir eine Postkarte an einen Gefängnisdirektor, und es war kein Weihnachtswunsch. Die Zielperson war einer seiner Häftlinge, Huang Qi. Dieser hatte mit seiner Frau eine Website betrieben, wo Protestaktionen von Leuten dokumentiert wurden, die Petitionen gestellt, aber eine Abfuhr erhalten hatten. Huangs Berichterstattung wurde als „vorsätzliche Preisgabe von Staatsgeheimnissen“ gewertet und brachte ihm zwölf Jahre ein. Jetzt hat sich sein Gesundheitszustand massiv verschlechtert, eine angemessene medizinische Versorgung wird ihm vorenthalten. Wenn er stirbt, gehört er zu der alarmierenden Reihe inhaftierter Aktivisten, die entweder noch in Haft starben oder ihre Freilassung aus medizinischen Gründen nur kurz überlebten.
Huang Qi – hoffentlich kein Sterbebild
3.2 Veranstaltungen
Da wir, wie erwähnt, im Jubiläumsjahr „unter Coronavorbehalt“ angetreten sind, haben wir über mehrere Monate hinweg mit angezogener Bremse agiert. Zur Entschädigung fangen wir mit einer Veranstaltung an, wo es einiges zu lachen gab, die
1. Videositzung (Januar)
In entspannter Atmosphäre - keine Abstandsregel, keine Ansteckungsgefahr -, besprachen wir ein umfangreiches Geburtstagsprogramm, das zum größeren Teil aber erst in den nächsten 50 Jahren zu realisieren ist. Wir freuten uns über Johanna, die von nördlich des Polarkreises/Schleswig-Holstein zugeschaltet war und dort noch keinen AI-Anschluss gefunden hat, weil wir in Miesbach halt nicht zu toppen sind, wir amüsierten uns über technische Probleme und verzerrte Stimmen, obwohl Thierry seine Unterweisungen auf 80 plus-Niveau gegeben hatte, verloren schließlich Siegi vom Schirm, weil er uns nicht hörte – oder nicht hören wollte. Einziger Schatten über diesem heiteren Treffen: die Verpflegung wurde allgemein als unzureichend empfunden.
Interview mit dem Merkur (Februar)
Der öffentliche Einstieg ins Jubiläumsjahr erfolgte über ein Interview mit der Heimatzeitung. Interviewpartnerin war eine Praktikantin. Es war ihr Ersteinsatz, aber den hat sie bravourös gemeistert. Ihre Fragen waren gezielt, und sie hat dem Gruppensprecher genügend Zeit zur Vorbereitung gelassen. Den Titel des Interviews „Bereit für die freundliche Übernahme“ hatte ich ihr vorgegeben, und es war nicht ihre Schuld, dass sich nur ein Interessent gemeldet hat – und wir immer noch auf eine geballte Reaktion auf unsere „Maydays for Future“-Signale warten.
Weltgebetstag der Frauen (März)
Da finden wir normalerweise ein aufgeschlossenes Publikum, aber heuer waren die Zielländer England, Wales und Nordirland, und, was bei den ständigen Mandatserweiterungen von AI fast schon an ein Wunder grenzt, Premier Johnsons Brexit und sein Partygate sind noch keine Themen für AI. Wir schickten als „letzte Reserve“ die Ehefrau des Gruppensprechers, und die wurde 14 Karten für einen Fall in einem echten menschenrechtlichen Krisengebiet los.
Ostermarsch 2022 (April)
Für einen Friedensmarsch ging es hoch her. Es gab Zwischenrufe während der Reden, Protest gegen die Zwischenrufe, Kritik an den ukrainischen Teilnehmern, weil sie ihre (bellizistische) Nationalhymne sangen, Anpöbeleien nach der Schlussveranstaltung und als Nachlese einen lebhaften Mailaustausch darüber, ob Zensur stattgefunden hat oder in Zukunft stattfinden sollte. Die Jusos und die Jungen Grünen wurden kritisiert, weil sie Waffenlieferungen an die Ukraine befürworteten, die Radikalpazifisten, weil sie „einer in die Jahre gekommenen Ideologie nachhingen“. Einig war man sich, dass es sich um einen Angriffskrieg handelte, aber Dissens kam auf, als es um die Frage ging, ob die Ukraine ihn nicht (mit)provoziert hätte. Die Äußerung eines Linken beim Fototermin seiner Gruppe „Rückt’s a bisserl nach links, de Grünen woll’n ma net draufhab’n“ gehörte dabei zu den harmloseren Konfliktszenen.
Den Organisatoren ist zu danken und zu wünschen, dass sie sich von den „kriegerischen“ Tönen nicht unterkriegen lassen und dass der Ostermarsch 2023 etwas entspannter über die Bühne geht.
Wir von AI stellten immerhin ein Dreizehntel der etwa 130 Teilnehmer, fünf Mitglieder und fünf Sympathisanten. Wir sprachen (unbehelligt) über die russischen Verstöße gegen das Völkerrecht und die Menschenrechtsverletzungen in Butscha und erwähnten kurz die Kriegsverbrechen, die es auf ukrainischer Seite gegeben haben soll. Und wir hatten das schönste Banner!
Die Ostermarschierer von AI
Abendgottesdienst in Miesbach (April)
Aus Trägheit und wegen Personalmangel haben wir schon länger keine Gottesdienste mitgestaltet. Umso mehr hat es uns berührt, dass Hermann Kraus in einem Wortgottesdienst zum Thema „Schockstarre überwinden“ eine Parallele zog zwischen dem mutigen Auftreten der Apostel und der Briefaktion von AI’lern für die ägyptische Aktivistin Sanaa Seif. Hat gutgetan – auch wenn wir keine Engel sind.
Infoabend: Flüchtlingsrettung im Mittelmeer (Mai)
Obwohl der Abend schon vor zwei Jahren geplant war und wegen Corona zweimal verlegt wurde, hat sich das Problem nicht im Salzwasser aufgelöst – ganz im Gegenteil. Mit der neuen italienischen Regierung unter Duchessa Meloni hat sich der Kurs gegen die privaten Seenotretter eher noch verschärft, aber im Dezember gab es eine überraschende Kehrtwendung, als zwei NGO-Schiffe in italienischen Häfen landen durften, wahrscheinlich deswegen, weil sich Deutschland im Rahmen des „freiwilligen Solidaritätsmechanismus“ bereit erklärt hatte, 164 Flüchtlinge aufzunehmen. Wenn dieser Mechanismus, dem 12 EU-Länder beigetreten sind, auf Dauer funktionieren würde, wäre das ein echtes Weihnachtswunder.
Unser Referent Claus-Peter Reisch hat als Kapitän der Lifeline die Härte der maltesischen Behörden erfahren. Im Juni 2018 musste er mit 230 Flüchtlingen an Bord tagelang auf dem Meer ausharren, wurde bei seiner Ankunft im Hafen verhaftet und zu einer Geldstrafe von 10 000€, zahlbar an den Erzbischof von Malta, verurteilt. Der Erzbischof zögerte nicht, ihm das Geld postwendend „zurückzuleihen“.
Reisch zeigte bedrückende Bilder von der Enge auf dem Schiff und vom „Bordprogramm“ der Crew, mit dem man in der Wartezeit für „Entspannung“ sorgte. Er erzählte von den Schlauchbooten, die mit den Abgasen von Lastwägen aufgepumpt werden, die dann wieder durch die undichten Stellen ins Boot strömen, und von seinen Konflikten mit der libyschen Küstenwache, den Behörden in Malta und der italienischen Hafenpolizei. Und er berichtete von einem Mitglied der Mannschaft, der schon 20 solcher Einsätze hinter sich hatte. Die Diskussion verlief dann eher schleppend, das Publikum, wie fast immer um die 35 Personen herum, war so erschlagen, als wäre es selbst in den Schlauchbooten gesessen und hätte die Abgase eingeatmet.
Besondere Erwähnung verdient aber auch die reibungslose Vorbereitung und Durchführung des Abends mit einem hilfsbereiten Kulturzentrum und dem bewährten Veranstalterteam. Und es gab keine Behörde, die uns tagelang im Gang warten ließ!
Auf der folgenden Seite das
Veranstaltungsplakat mit dem bewährten Veranstalterteam:
Wenig Beinfreiheit auf dem Rettungsboot
Festival der Menschenrechte in Holzkirchen (Mai – Juni)
Da hatte sich in Holzkirchen ein erlesener Kreis um Monika Ziegler und Familie Lehner zusammengetan, um die Menschenrechte mit großem Aufwand zu feiern - so wie es ihnen gebührt, sind sie doch gerade in schweren Zeiten das Dokument, dass man den Rechtsbrechern unter die Nase halten kann. Es gab beeindruckende Kunstausstellungen an mehreren Orten, ein vielfältiges Kulturprogramm und zum Auftakt eine „Taufe“ vor der Kultur im Oberbräu, wo der Bürgermeister einem „Platz der Menschenrechte“ die höheren Weihen gab.
Wir von AI standen zwar nicht im Zentrum, wurden aber sowohl als Gäste als auch mit unseren Beiträgen „hofiert“. Wir durften in der KulturVision einen programmatischen Artikel zum Thema „Die Menschenrechte und wir“ veröffentlichen, zeigten im Atrium unsere Fotoausstellung „70 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ und waren am ersten Wochenende mit einem Infostand vertreten.
Dem Infostand erging es allerdings wie manchen Infoständen zuvor: allgemeines Wohlwollen, aber wenig Unterschriften (25) und zögerliche Abnahme von Appellpostkarten (45). Dabei hatten wir unsere Petition an die russische Botschaft gegen die Invasion in der Ukraine mit dem Schild „Bombardiert die russische Botschaft in Berlin“ sehr plakativ angeboten, was bei einer Besucherin zunächst für Verunsicherung sorgte. Sie hatte wohl bei dem Wort „bombardiert“ gemeint, die Russen hätten sich in Berlin den ukrainischen Botschafter vorgeknöpft. Eine rühmliche Ausnahme bildete der Infostand am Sonntagnachmittag. Die Leute waren interessiert und äußerten ihren Respekt für Alexandra Skochilenko, die in St. Petersburg die Preisschilder im Supermarkt ersetzt hatte.
Mit „hofiert“ haben wir übrigens nicht hochgestapelt, denn bei einer Theateraufführung wurde unsere Mitwirkung von einer Mitorganisatorin wie folgt kommentiert:
„Wir bedanken uns auch bei AI. Während wir die Menschenrechte ein paar Tage/Wochen in den Mittelpunkt rücken, machen die von AI das schon seit Jahren.“
Da schwoll uns der Kamm!
Ein glutheißer Auftakt (ca. 35°) zum Festival
3. Virtuelle Sitzung (Juli)
Auf dieser Sitzung befassten wir uns mit den Anträgen zur Jahresversammlung, zu den Anhängen zu den Anträgen zur Jahresversammlung und zu den Zusatzanträgen zu den Anhängen zu den Anträgen zur Jahresversammlung. Nein, das ist kein Schreibfehler, nur eine geringfügige Übertreibung. Für die meisten dieser Anträge waren die meisten von uns einfach zu alt. Zu alt auch, um das anglo-chinesische Soziologenkauderwelsch zu verstehen, in dem manche Anträge verfasst waren. Da hieß es beispielsweise:
„Bestehende Projekte … werden fortgeführt und evaluiert. Dies beinhaltet das Anbieten von Empowerment-Räumen und Sensibilisierungs-Schulungen … sowie die Erarbeitung eines Code of Conduct.“
Unser Empowerment-Raum wäre nach diesem Leidensweg durch die JV-Anträge der Brotzeittisch gewesen, aber der stand leider wegen der Virtualität der Sitzung – Sie sehen ich kann’s auch – nicht zur Verfügung.
„Geburtstagsfeier“ (Oktober)
Und dann kam sie – die Feier der 50 Jahre an dem Ort, wo alles begonnen hatte – am Gymnasium Miesbach. Im Vorfeld gab es Aufregung, weil die Inzidenzzahl auf 760 gestiegen war und wir entscheiden mussten, mit welchem Nachdruck wir die Maskenempfehlung aussprechen sollten. Am Abend aber trafen wir auf ein wohlwollendes und hilfsbereites Schulpersonal, von der Chefin bis zu den Hausmeistern. Es kamen ca. 80 Leute, weniger als wir erhofft bzw. wegen Corona befürchtet hatten. Aber die 80 Leute haben großzügig gespendet, und wir konnten den Mitwirkenden auf der Bühne, die alle ohne Gage auftreten wollten(!), ein ansehnliches Geburtstagsgeschenk machen.
Die Mitwirkenden waren lauter schuleigene Gewächse. Der stellvertretende Landrat, Jens Zangenfeind (Abiturjahrgang 1991) sprach das Grußwort und lobte uns „über den Schellkönig“, die Big Band unter Simon Weiß genoss ihren ersten größeren Auftritt seit der Corona-Pause und spielte Filmmusik vom Feinsten, und die Kabarettistin Christine Eixenberger (Abiturjahrgang 2006), bestens bekannt aus der Serie „Marie fängt Feuer“, bestach in ihren Sketchen durch eine mitreißende Mimik und vollen Körpereinsatz. Uns zuliebe hatte sie sogar die Nummer „Infostand“ kreiert, deren Spitzen den Gruppensprecher zu folgendem Kommentar veranlassten: „Wenn Sie einmal an unserem Infostand aufkreuzen sollten, hoffen wir, dass unsere besten Kräfte dort stehen.“
Etwas leidgetan hat uns, dass die Q12, die den Getränkeverkauf in der Pause übernommen hatte, nicht so viel eingenommen hat, dass sie ihren Abiball damit finanzieren kann. Trotzdem vielen Dank – und mehr Erfolg beim Abitur!
Die Presse war am Platze und hat in fünf langen Artikeln über den Festabend und die Ausstellung berichtet. Im Onlinemagazin der KulturVision waren sogar sieben Fotos abgedruckt, das letzte mit unserem 2. Gruppensprecher Bernard Brown, der 2022 leider verstorben ist. Und die beiden Lokalzeitungen übernahmen in der Überschrift ein Kompliment aus dem Grußwort von Herrn Zangenfeind, das wir aus vollen Zügen genossen, aber aus (vorgetäuschter) Bescheidenheit lieber nicht mehr erwähnen. Allen Beteiligten, dem Landkreis und der Schulleitung unseren herzlichen Dank!
The great big Band
Christine Eixenberger – ein machtvoller Auftritt
Ausstellung „50 Jahre Amnesty International im Landkreis Miesbach Oktober 2022 – ca. März 2023)
Wir haben aus 13 dicken Leitzordnern und auf sechs Schautafeln eine Ausstellung zur Geschichte von AI im Landkreis Miesbach zusammengestellt, die zwar nicht vom Kunstanspruch, wohl aber von der Laufzeit her fast mit den Ausstellungen der großen Museen vergleichbar ist. Die erste Staffel war in ihrer Gesamtheit im Foyer des Gymnasiums Miesbach zu sehen. Wie sie während der Schulzeit und an Nachmittagen der Werktage angenommen wurde, können wir nicht sagen. Einmal jedenfalls soll auch eine Klasse gesichtet worden sein. An den Samstagvormittagen hatte das Aufsichtspersonal viel Zeit zum Lesen.
1. Samstag: kein Besuch
2. Samstag: Drei Besucher – Verwandte und Bekannte
3. Samstag: Vier Besucher – davon zwei AI’ler und einer, der geschickt wurde
4. Samstag: Drei Besucher – davon zwei AI’ler
Das ergab insgesamt zehn Besucher. Im Veranstaltungskalender des Merkur wurden wir öfter erwähnt. Und das hätten Sie (fast) versäumt:
„Fast“ deswegen, weil wir von Dezember 2022 bis März 2023 die Ausstellung nach Jahrzehnten gestaffelt noch einmal in der Stadtbücherei Miesbach präsentieren dürfen. Und da soll es im Dezember schon einen Besucher gegeben haben, der angefragt hat, wann denn endlich das nächste Jahrzehnt erscheine. Wenn Sie sich beeilen, können Sie vielleicht noch die letzten Jahre erwischen.
Unser Dank natürlich auch an die Stadt Miesbach und an die Stadtbücherei!
Infostand in Miesbach (Oktober)
Obwohl unsere Themen brandaktuell waren, der Aufstand der Frauen (+ Männer) im Iran sogar im wörtlichen Sinne, die WM in Katar kurz vor dem Anpfiff, war an unserem Stand nicht viel los, weil, so eine Standbesatzung, „in der ganzen Stadt nichts los war“. Dekoriert hatten wir weniger aufwendig als beim „Sommermärchen“ 2006, als hätten wir schon geahnt, dass es für die deutsche Mannschaft eine „Herbsttragödie“ werden würde. An Fußball erinnerte lediglich ein Ball aus Bananenschalen, wie ihn Jugendliche in Tansania verwenden und, als Kontrast der offizielle WM-Ball, den uns ein örtliches Schuhgeschäft zur Verfügung gestellt hatte, zugegeben eine etwas holprige Symbolik, um auszudrücken, dass bei der WM viel (Bestechungs)Geld geflossen ist, das ein Land wie Tansania nicht aufbringen könnte.
Die passende Deko für den Aufstand der Frauen im Iran ist mir leider erst nachträglich eingefallen. Wir hätten ein bärtiges Gruppenmitglied mit Turban hinstellen können, dem eine Gruppenfrau von Zeit zu Zeit den Turban heruntergeschlagen hätte. Das sollen jedenfalls Mädchen in Teheran gemacht haben, wenn sie einen Mullah auf der Straße trafen.
Zielpersonen unseres Infostandes waren der DFB-Präsident Bernd Neuendorf, den wir aufforderten, der FIFA die AI-Forderungen zu übermitteln. Adressat Nr. 2 war der altbekannte (aber ungeschätzte) Justizbeauftragte des Iran in Brüssel, den wir im Falle unserer „Blumenfrauen“ und in der Hoffnung, dass ihn der Aufstand in seinem Land zum Nachdenken gebracht haben könnte, gleich mit einem ganzen Katalog von Forderungen – Schutz vor Misshandlung, Kontakt zur Familie, medizinische Versorgung, Freilassung, Abschaffung des Kopftuchzwangs – konfrontierten. Während der DFB, wie erwähnt, sich den AI-Forderungen anschloss, war Herr Ejei in Brüssel hartleibig wie eh und je (Achtung: Wortspiel!).
Auf der Petition an den Iran unterschrieben 13 Leute, auf der an den DFB 12. Dank unseres Infostandes hat das Schuhgeschäft ein Geschäft gemacht. Ein Standkunde wollte uns den Fußball abkaufen, den WM-Ball natürlich, nicht den Bananenball, und wir schickten ihn ins Schuhgeschäft, wo sich später der Inhaber für unsere „Werbung“ bedankte.
Infostand – kurz vor dem Überlauf
Vom Gelben Blatt erhielten wir die Einladung, an einem Artikel zur WM in Katar mitzuschreiben. Wir wiesen um den AI-Slogan „Fußball Ja – Ausbeutung Nein“ herum auf die unterschiedliche Bewertung der Veranstaltung durch FIFA und Kritiker hin, auf die Situation der Arbeitsmigranten, auf die Gelder, die geflossen sind und auf die Forderungen von AI. Der Chefredakteur hat unseren Beitrag kongenial ergänzt und das Thema „Boykott“ aufgegriffen. Unseren letzten Satz „Wenn die deutsche Mannschaft ins Endspiel kommt, darf man jedes Boykottversprechen – brechen“ hat er beibehalten.
Film- und Infoabend „Der letzte Häftling“ (November)
In der guten Absicht, in der Zeit um die Pogromwoche einen thematischen Schwerpunkt zu setzen, hat man das Miesbacher Publikum etwas überfordert. In einer einzigen Woche fanden gleich zwei themenähnliche Veranstaltungen statt, eine eindrucksvolle Lesung aus den Tagebüchern des KZ-Überlebenden Max Mannheimer, und der Film „Der letzte Häftling“ in Anwesenheit von Thomas Muggenthaler, einem der Autoren des Films.
Aus der Rückschau ist es kaum zu glauben: Am 29. April 1945 befreiten die Amerikaner das KZ Dachau, und nur zwei Tage vorher war dort als letzter Häftling der Pole Mieczyslaw Charecki registriert worden. Deutsche Nazi-Gründlichkeit! Die Filmemacher zeichneten nicht nur den langen Marsch des Polen durch diverse KZs nach, sondern auch seine Rückkehr nach Polen. Seine Familie war nicht wenig überrascht, als plötzlich die Deutschen auftauchten und über ihren Verwandten einen Film machen wollten.
Es kamen leider nur 15 Besucher, unter ihnen der Vizechef der bayrischen KZ-Lagerverwaltungsbehörde und einige Leute, die tatsächlich an beiden Veranstaltungen erschienen. Die Diskussion war recht lebhaft, wobei sich Herr Muggenthaler weitgehend zurücknahm, aber einige eindrucksvolle Anekdoten einstreute, v.a. zum Thema „Verbotene Liebe“ – zwischen Deutschen und Zwangsarbeitern. Gesprochen wurde auch über die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien, die solche Themen oft zu nachtschlafender Zeit senden, über die Nazipräsenz in der Adenauer-Zeit und über die Diskrepanz zwischen den Umfragen, wonach 49% der Deutschen einen Schlusspunkt setzen wollen und dem Anstieg der Besucherzahlen in den KZs.
Der letzte Häftling
Erwähnung verdient auch, dass der Merkur die ausführliche Vorankündigung mit seinem „kleinen Rätsel“ garnierte und darin die Frage stellte, wie viele Außenlager des KZs Dachau es im Landkreis Miesbach gegeben habe. (9)
Schulbesuch in Bad Tölz (Dezember)
Es war der erste Schulbesuch seit mehreren Jahren, und in der Zwischenzeit hatten wir doch einiges verlernt, v.a. der Gruppensprecher. Dabei wäre die Ausgangsbasis nicht schlecht gewesen: Der Lehrer, der uns in seine 10. Klasse eingeladen hatte, war für kurze Zeit einmal Mitglied unserer Gruppe, hatte seine Klasse menschenrechtlich gründlich vorbereitet und erinnerte sie dezent, dass zum Thema ein Test geschrieben wird. Und dann war Deborah Wiegert mit von der Partie, vor einigen Jahren noch Sprecherin der Miesbacher Jugendgruppe. Sie übernahm wichtige Teile des Programms, sodass sich der „alte weiße Mann“ des Teams ausruhen konnte.
Was weniger gut lief zuerst: gelegentlich sprachlich zu hochtrabend, Vorstellung der Fälle im Sekundentakt, Reizthemen nicht zur Diskussion gestellt, vom Konzept her insgesamt zu vollgepackt.
Was recht gut lief: der Dialog im Café von Lissabon (Gründungslegende von AI), die Auflockerung durch einen Kurzfilm, Deborahs Bericht von der Jugendgruppe, die Diskussion um Katar, leider zu spät angeleiert.
Die Schüler waren von geduldig bis interessiert, ihre Rückfragen bezogen sich weitgehend auf testierbare Fakten. Aber irgendwie hatte man das Gefühl, dass sie durchaus zu schätzen wussten, dass sich da zwei Leute vorbereitet hatten, um Abwechslung in ihren Unterricht zu bringen. Der Lehrer verabschiedete uns mit den Worten: „Es hat schon gepasst, sonst wären sie nicht so brav gewesen“.
Briefmarathon 2023
Der Arbeitskreis Politik am Gymnasium Miesbach nahm auch heuer wieder am Briefmarathon teil. Die Organisation ruhte diesmal gleich auf zwei Beinen/Lehrern, die Schüler wurden 285 Briefe los. Von Elternprotesten haben wir diesmal nicht gehört. Wir danken allen Beteiligten und der Schulleitung für den „Segen von oben“.
Die „Marathonläufer vom Gymnasium Miesbach
Anrührend und ermutigend ein Fall aus dem Briefmarathon des Jahres 2020. Da schreibt Germain Rukuki, der sich in Burundi gegen Folter einsetzt:
„Ich wurde allein wegen der Verteidigung der Menschenrechte zu 32 Jahren Haft verurteilt. Die Zeit im Gefängnis war unglaublich schwer. Ich wurde drangsaliert und schikaniert, alles mit der Absicht, mich zu entmutigen und andere Menschenrechtler zu Schweigen zu bringen. Ich habe meine Kraft nicht verloren, weil ich wusste, dass ich unschuldig bin. … Ich bin sehr dankbar für die Unterstützung, die ich von Menschenrechtsorganisationen erhalten habe. Dass mein Fall beim Briefmarathon von Amnesty International aufgenommen wurde, war unglaublich! Die Welle von Briefen aus aller Welt hat mir Kraft und Mut gegeben und mich in meinem Engagement für die Menschenrechte bestärkt.“
Germain kam im Juni 2021 nach vier Jahren Haft vorzeitig frei.
Germain Rukuki - eine klassische Kriminellenvisage
Die Fälle
Dieser Abschnitt wird heuer sehr kurz ausfallen, denn im Vergleich zum Vorjahr hat sich leider nichts geändert – soweit wir das wissen.
Yasaman Aryani und Monireh Arabashi/Iran
Unsere beiden „Blumenfrauen“ sitzen noch immer im Gefängnis und sitzen ihre Haftstrafe von 5-9 Jahren ab. Unsere Hoffnung, dass die Protestwelle der „Frau, Leben, Freiheit“ – Bewegung auch die Gefängnistore für politische Gefangene aufsprengt, hat sich bisher nicht erfüllt. Das Regime pendelt zwischen extremer Härte (Hinrichtungen) und schein-moderater Töne. So hat der Oberayatollah Chamenei im Dezember verlauten lassen, dass „schlecht oder locker sitzende Kopftücher“ zwar eine Schwäche seien, aber „nicht gegen Religion oder Revolution“ verstoßen würden. Wenn er das der Sittenpolizei schon im September gesagt hätte, wäre Mahsa Amini noch am Leben.
Auf unserer Petition haben das Jahr über 40 Unterschriften gesammelt. Keine Zahl, auf die wir stolz sind, aber wir bleiben dran – aus der Ferne!
Hoo Yew Waa/Malaysia
Auch von ihm keine deutliche Erfolgsmeldung. Die deutsche Ko-Gruppe schrieb uns lakonisch: „Hoo ist unverändert im Gefängnis und noch nicht begnadigt.“ Auf der Agenda der neuen Regierung scheint aber immer noch zu stehen, dass die Richter, die über „gravierendere“ Drogendelikte zu entscheiden haben nicht mehr automatisch die Todesstrafe verhängen müssen. Auch ein vollständiges Moratorium (Hinrichtungsstopp) wird diskutiert.
AI-Australien meldete im August 2022, dass für Hoo über 100.000 Briefe geschrieben worden waren. Da sind auch aus Miesbach welche dabei. Die letzte Meldung war eine Antwort des malaysischen Justizministers an AI-Malaysia, die uns am 1. Oktober 2022 erreichte. Da versprach er, dass man für solche Fälle und unter gewissen Bedingungen (Haftzeit abgesessen, Schadenersatz geleistet, Reue gezeigt) „die Türen nicht verschlossen halten würde“. Wir hoffen, er meint damit die Tür zur Freiheit und nicht nur die Tür aus der Todeszelle in den normalen Strafvollzug. Hoo wurde 2005 mit 188 Gramm Crysta Meth erwischt – das läuft bereits unter „gravierend“ -, und sitzt also seit 17 Jahren ein. Das bedeutet fast ein Jahr für je 10 Gramm! Das sollte reichen, meinen wir.
3.4 Verschiedenes
Rückmeldungen auf den Jahresbericht 2021
- Ein Leser, der die Lektüre punktgenau am Aschermittwoch beendet hatte, dankte für die „angenehme Lesbarkeit von viel Unangenehmen“. Es ist nicht so, dass wir „mit Entsetzen Scherz betreiben“, aber wir wissen, dass Empathie ihre Grenzen hat und manchmal der „Entspannung“ bedarf.
- Ein Leser schickte uns eine herrliche Karte mit dem entsprechenden Zitat „Der Dunkelmänner sind gar viele“. Er bekannte, sich den Jahresbericht nur „in homöopathischen Dosen“ zu Gemüte geführt zu haben. Kann man ihm nicht verdenken!
- Und ein Leser forderte uns auf, gegen alle Menschenverachtung weiterhin „positive Kräfte“ zu mobilisieren und schickte eine Karte mit einem Zitat von Mark Twain, das wir uns ins AI-Stammbuch schreiben werden.
„Trenne dich nie von deinen Illusionen! Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben.“
Das Zitat ist einfach zu schön, das musste ich zweimal bringen.
Briefe gegen das Vergessen
In unserem monatlichen Abonnentennetzwerk möchten wir diesmal zwei „Wiedergänger“ vorstellen, die illustrieren, was der Ttitel der Aktion besagt – dafür zu sorgen, dass sie nicht vergessen werden.
Ilham Tohti/China
Der uigurische Wissenschaftler und Schriftsteller wurde 2014 wegen „Separatismus“ zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein Separatist ist man in Xinjiang, wenn man die Behandlung der uigurischen Minderheit kritisiert und den friedlichen Dialog zu fördern versucht. Tohti war bisher fünfmal auf unserer Liste, das erste Mal 2015, das letzte Mal im November 2022.
Studenten von Ayotzinapa/Mexiko
Das Amtsgericht Miesbach war im März 2022 mit den 43 Studenten befasst, die im September 2014 auf dem Weg zu einer Demo in einer konzertierten Aktion zwischen Polizei und Drogenmafia ermordet wurden. Ein Abonnent erhielt, vom Amtsgericht Miesbach übermittelt, ein 32-seitiges Dokument aus Mexiko, in dem über die „signifikanten Fortschritte“ bei den Ermittlungen berichtet und dem Briefeschreiber in Miesbach bestätigt wurde, dass es keine strafrechtliche Verbindung zwischen ihm und dem Verbrechen gäbe – er also nicht mit „Zwangsmaßnahmen“ zu rechnen habe. Es handle sich lediglich um „eine Erwiderung auf das vom ihm gezeigte Interesse“. „Signifikant“ hin oder her, aber immerhin: der Fall ist noch am Kochen!
Demo gegen das Vergessen
Die Monatsbriefe liegen auch in der Stadtbücherei Miesbach aus, wo sie weitgehend liegen bleiben, und in der katholischen Kirche, wo es einen hartnäckigen Abonnenten zu geben scheint – und ein Hinweis auf die Briefe im Schaukasten hängt.
Todesfälle
Die gab es leider auch wieder.
Bernard Brown
„Ein leidenschaftlicher Lehrer“ verließ seine vielen Schüler, ein engagierter Vize-Gruppensprecher unsere AI-Gruppe,
- die seinen Humor vermisst
- der sein liebenswertes Lächeln abgeht
- die sich (unbeholfen) bemüht, die Lücke zu schließen, die er hinterlässt.
Bernard Brown – wie er lacht und lebt
Ernst Duffner
Während Bernard für unsere Depressionen zuständig war, war es Ernst Duffner für die „Höhenflüge“ unserer Anfangsjahre. Er hat uns „geerdet“, hat zugepackt, wo wir im Ideenhimmel schwebten und uns (als Zimmerer) zurechtgerückt, wenn wir das Maß verloren haben. Er war fast bis zu seinem Tod ein treuer Abonnent unserer Monatsbriefe.
Ernst Duffner – ein Mann aus gutem Holz
Für beide RIP und ein herzliches Vergelt’s Gott/Jahwe!
Zukunftsmusik
Quo vadis, AI-Miesbach?
Auf der Karikatur sehen Sie eine Friedenstaube, die einigermaßen ratlos ist, in welches der acht aktuellen Konfliktgebiete sie zuerst fliegen soll. Uns geht es ähnlich, was die Zukunft von AI-Landkreis Miesbach betrifft. Da gibt es auch mehrere Varianten, die ich bei unserer 50. Geburtstagsfeier im Oktober wie folgt angedeutet habe:
„Wenn man nach unserer Zukunft in fünf oder zehn Jahren fragt, ist folgendes zu sagen:
- die Spitze unserer Alterspyramide macht weiter – solange es geht.
- der Mittelbau unserer Gruppe hofft darauf, dass es durch Nachwuchs aus den Generatioen Y/Z (1980 - 2010) weitergeht.
Von einer „freundlichen Übernahme“ haben wir, wie gesagt, keine Angst. Und wenn es nicht mehr zu einem 60. AI-Geburtstag kommen sollte, dann greift das Alte Testament mit seinem weisen Spruch ‚Alles hat seine Zeit!‘ Und es war eine gute Zeit!“
Das Bild auf dem Deckblatt
Das Bild entstand auf dem Themenabend zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 30. Januar 2020 im Gymnasium Miesbach. Es zeigt einen Tiger, der zubeißen kann, weil man ihm starke Zähne eingesetzt hat. Der Tiger steht für die Menschenrechte, die Zähne stehen für starke Persönlichkeiten und Menschenrechtsorganisationen wie AI, die dafür sorgen, dass die Menschenrechte auch durchgesetzt werden.
Und wenn man damals erlebt hat, wie sich Schüler und Lehrer an diesem Abend engagiert haben, dann ist zu hoffen, dass man auch der Ai-Gruppe im Landkreis Miesbach in den nächsten Jahren wieder neue Zähne einsetzt. Damit sie die „Dunkelmänner“ weiter beißen kann!
Kontaktadressen und Kontonummer
Fritz Weigl, Wallenburger Straße 28 d, 83714 Miesbach
Tel.: 08025/3895, Fax: 08025/998030,
Mail: fritz.weigl@gmx.de
Homepage: http://www.amnesty-miesbach.de
Bank für Sozialwirtschaft (BfS) Köln, IBAN: DE 233 70 20 50 0000 80 90 100
Verwendungszweck: Gruppe 1431 Miesbach (Gruppennummer unbedingt mit angeben)