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Amnesty International Gruppe Miesbach (1431)
Jahresberichte:
Fälle:
Yasaman Aryani und Monireh Arabshahi (Iran)
Yew Wah HOO (Malaysia)
Zeitungsartikel:
Spuren im Land:
(Karikatur von Alois Kuhn, Der moderne Sisyphus)
Zu eingangs eine kurze Erinnerung an Ihre Schulzeit - griechische Mythologie. Wir hoffen, Sie haben in dieser Stunde nicht gefehlt!
"Die Götter hatten Sisyphus dazu verdammt, unablässig einen Felsen auf den Gipfel eines Berges hinaufzurollen, von wo der Stein dann durch sein Eigengewicht wieder ins Tal zu rollen pflegte. Sie hatten mit einem gewissen Recht gedacht, dass es keine schrecklichere Strafe gäbe, als die Arbeit, die ohne Nutzen und Hoffnung sei."
So schrieb der französische Schriftsteller Albert Camus in einer Abhandlung aus dem Jahre 1942. "Vom Alter her gut abgelagert, dieser Text", werden Sie sagen, "passt zur ai-Gruppe, die auch schön langsam in die Jahre kommt". Letzteres sei zugestanden, ist aber nicht der Grund, warum wir uns den Sisyphus für das vergangene Jahr mit als Leitfigur ausgesucht haben. Zum einen spiegelt seine "Arbeit ohne Nutzen und Hoffnung" den düsteren Grundton des aktuellen Amnesty Reports wieder, der in seiner Einleitung von einer "Menschenrechtskrise" spricht. Zum anderen sind auch auf lokaler Ebene einige unserer Veranstaltungen, vorsichtig ausgedrückt, keine "Gipfelerlebnisse" geworden, sondern eher den Berg/Bach hinuntergelaufen.
Aber bevor wir die Mundwinkel resigniert und beleidigt nach unten verziehen, sollte man in diesem "gut abgelagerten" Text weiter lesen. Bei Camus heißt es nämlich am Ende des Buches: "Der Kampf auf dem Weg zum Gipfel genügt, um das Herz eines Menschen auszufüllen. Man muss sich Sisyphus als glücklichen Menschen denken."
Nun sind wir bei unserer Arbeit zwar nicht gerade glücklich, aber doch - gelegentlich und rückschlagsbewusst - guten Mutes. Und deshalb werden wir Sie auch heuer wieder mit einem Tätigkeitsbericht konfrontieren, der die Wirklichkeit "mit brutalst möglicher Offenheit" vermittelt, aber dazwischen noch Raum für Träume bietet. Und weil wir davon träumen, dass der Stein nicht ständig herunterkugelt, sondern auch einmal oben bleibt oder ganz verschwindet, lohnt es sich, unseren absurden Helden Sisyphus zu verlassen und, wie schon so oft, eine Anleihe bei Bertold Brecht zu machen, wo in einem seiner Gedichte auch von einem Stein die Rede ist:
"dass das weiche Wasser in Bewegung
mit der Zeit den harten Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt."
Mit einer Waffenruhe ging der Gazakrieg zu Ende, mit harscher Kritik an der Kriegsführung der israelischen Armee (Einsatz von Phosphorbomben gegen Zivilisten), an der Berichterstattung der israelischen Medien (Unterdrückung von Bildern vom Leid der Gegenseite) und der Unbarmherzigkeit der Mehrheit der israelischen Bevölkerung gegenüber den Palästinensern und ihrem Unverständnis für die eigene Friedensbewegung. Amnesty International gehörte zu den ersten Menschenrechtsorganisationen, die mit einem Ermittlerteam untersuchte, ob Israel Kriegsverbrechen begangen habe, aber es ist ein Gebot der Fairness zu berichten, dass es auch in Israel Demonstrationen gegen den Krieg gegeben hat und dass es im Februar israelische Soldaten waren, die auf eine Befehlslage hinwiesen, wonach die Menschenjagd mehr oder weniger von oben verordnet und von den Rabbinern der Armee abgesegnet war.
Dass die Hamas (und die Israelis) Zivilisten als Schutzschilde missbraucht haben sollen, dass der Beschuss israelischer Häuser zurückgegangen ist, dass der seit drei Jahren als Geisel gehaltene Soldat Gilad Schalit der Hamas "genauso viel wert ist wie eine Katze oder weniger" - das steht auf drei anderen Blättern.
Kaum weniger zimperlich geht man in Russland mit unliebsamen Journalistinnen und Anwälten um.
Der Doppelmord an Anastasia Baburowa und Stanislav Markelov ereignete sich auf offener Straße und am helllichten Tage. Als Täter kamen zunächst sowohl russische Nationalisten als auch tschetschenische Regierungskreise in Frage. Im November wurden dann zwei Mitglieder einer rechtsextremistischen Gruppe als Verdächtige verhaftet, aber wie im Falle der Journalistin Anna Politowskaja werden auch hier die Ermittlungen schwerlich bis zu den eigentlichen Drahtziehern vordringen.
In Washington wurde Barack Obama vereidigt, übrigens gleich zweimal, weil sich der Richter verhaspelt hatte. Ob diese Panne der Grund war, dass im Laufe des Jahres etwas vom Lack des Wahlkampfes abgeblättert ist? Gefreut hat uns, dass zu seinen ersten Amtshandlungen gehörte, die Schließung von Guantánamo binnen Jahresfrist zu versprechen, geärgert hat uns, dass er das Versprechen nicht eingehalten hat, u. a. wegen "Unterbringungsproblemen" für die Häftlinge. Dabei hätte es doch den idealen Standort gegeben!
Hinzu kommt, dass man gegen die Rädelsführer schwerlich ordentliche Gerichtsverfahren einleiten kann, weil ein Großteil ihrer "Geständnisse" unter Folter oder folterähnlichen Bedingungen zustande kamen.
Gegen Jahresende stellte sich allerdings heraus, dass auch (tief)schwarze Schafe unter den Häftlingen sind, und dass die Amerikaner bei ihrer Freilassung ein sicheres Händchen brauchen. Bei der Planung des gescheiterten Flugzeugattentats vor Detroit an Weihnachten 2009 sollen zwei Exknackis aus Guantánamo beteiligt gewesen sein, die im November 2007 entlassen und in Saudi-Arabien an einer "Kunsttherapie zur Rehabilitierung" teilgenommen hatten. Aber anstatt Farben zu mischen, zogen sie es vor, Bomben zu basteln. Und dass fast die Hälfte der jetzigen Insassen aus dem Jemen stammt, der sich derzeit zum neuen Aufmarschgebiet von al-Qaida entwickelt, stimmt auch nicht fröhlich. Im Januar 2010 hat Obama einen Abschiebestopp nach Jemen verfügt.
Ach war das eine schöne Zeit im Paradies, als Gott gut und die Schlange böse war!
Oder wie der Bayer sagen würde: "Wia ma's macht, is verkehrt!
Relativ unverdächtig, zumindest für uns Nichtchinesen, ist eine andere Personengruppe in Guantánamo, und so wurde das parteiübergreifende Angebot des Münchner Stadtrates, 17 Uiguren aus dem Häftlingslager aufzunehmen, zu Recht als "Sieg der Menschlichkeit" bezeichnet. Vorausahnend hat die Kommentatorin aber hinzugefügt, dass ihr Kommen "in den Sternen steht". Sie sollte Recht behalten. Die Aufnahme der Uiguren wurde höheren Ortes blockiert, vom Innenminister in Berlin und wohl auch von den übergeordneten Dienststellen in Peking. Es verdient der Erwähnung, dass der CSU-Stadtrat Marian Offmann die Aufnahmebereitschaft als "Fanal gegen das totalitäre kommunistische Regime" verstanden wissen möchte. Die Uiguren tummeln sich inzwischen auf Palau und den Bermudas.
Vom CSU-Stadtrat hätte sich Hillary Clinton bei ihrem Chinabesuch eine Scheibe abschneiden können. Zur Freude ihrer Gastgeber stellte sie Klimaschutz und Wirtschaftskrise in den Mittelpunkt ihrer Gespräche und wollte "diese Felder nicht durch Menschenrechtsfragen beeinträchtigt" sehen. Die Chinesen haben sich auf ihre Weise revanchiert. Auf der Klimakonferenz in Kopenhagen ließen sie sich bei dem entscheidenden Hinterzimmertreffen mit Obama, Merkel, Sarkozy, Brown und Co. durch einen zweitrangigen Beamten vertreten und leisteten einen maßgeblichen Beitrag zum Gipfeldesaster.
In Russland probten im Prozess um die Ermordung Anna Politkowskajas die Geschworenen den Aufstand gegen den Staatsanwalt und verhalfen so "der Rechtsstaatlichkeit in Russland zu einem seltenen Sieg". Auf Grund der dünnen Beweislage sprachen sie die Angeklagten frei. Damit könnte die Jagd nach den Auftraggebern beginnen.
Auch in Hamburg fällte ein Gericht eine wichtige Entscheidung. Ein Deutschafghane hatte seine 16-jährige Schwester umgebracht, weil sie "wie ein deutsches Mädchen leben wollte". Das Gericht verwarf den Begriff des Ehrenmordes und gewichtete die Tat zu Recht als "Mord aus niedrigen Beweggründen". Aus westlicher Perspektive ist man geneigt, mit diesen Worten auch die Ermordung zweier Gymnasiasten durch die Taliban zu beschreiben. Die Schüler sollen Soldaten der ISAF gegrüßt und einige Worte Englisch mit ihnen gewechselt haben. In der Diskussion um den Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan sollte man solche Ereignisse nicht völlig außer Acht lassen. Man wird Afghanistan nicht von außen befrieden können, und die Behauptung, "unsere Sicherheit würde am Hindukusch verteidigt" nimmt heute kaum noch jemand ernst, aber was eine Machtergreifung durch die Taliban für die Frauen und die der "Steinzeit" entwachsenen Muslime bedeuten würde, möchte man sich lieber nicht ausmalen.
Im März sorgte der Haftbefehl des Internationalen Gerichtshofes gegen den sudanesischen Präsidenten al-Baschir für Kommentare, die von Zustimmung bis Ablehnung reichten, aber zumeist auf ein entschiedenes "Ja, aber" hinausliefen. Man war sich noch relativ einig, dass die Anklage wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinreichend begründbar seien, aber dann kamen die Einwände, warum man diesen Tatbestand doch besser auf kleiner Flamme halten solle. Da sei die Arbeit der Hilfsorganisationen gefährdet, da könne die Lage in Darfur noch eskalieren, da würde einseitig "Kolonialjustiz" gegen afrikanische Staaten betrieben, da würden sich vergleichbare Despoten - lauter Afrikaner, denn Nordkorea und China sind natürlich verfolgungsresistent - noch stärker einigeln und außerdem würde es dem Gerichtshof so ergehen wie den Nürnbergern mit dem Eppelein von Geilingen.
Im November hat al-Bashir einen Besuch in der Türkei abgesagt, obwohl Premierminister Erdogan zugesagt hatte, ihn nicht nach den Haag auszuliefern, u. a. mit der Begründung, "dass Muslime keinen Völkermord begehen könnten". Vielleicht ist der Gerichtshof doch nicht der "zahnlose Tiger", als der er gerne dargestellt wird.
Amnesty hat den Haftbefehl begrüßt. Wie soll man den Herren, die über Leichen gehen, denn sonst zu Leibe rücken? Sollen sie etwa wie Idi Amin in Saudi-Arabien friedlich ihre Tage beschließen dürfen?
Ist Ihnen übrigens schon aufgefallen, dass Diktatoren, Tyrannen und Despoten grundsätzlich Männer sind und dass Frauen in diesen "Berufen" nur bescheidene Erfolge aufweisen? Umso erfolgreicher wären sie als Friedensstifterinnen. Der UN-Generalsekretär schreibt jedenfalls: "Die Entsendung von Frauen in Friedenstruppen oder als ziviles Personal erhöht die Sicherheit der betroffenen Frauen in Krisengebieten ... und senkt die Fälle von sexuellem Missbrauch." Das Wort "wären" wurde mit Absicht gewählt, denn Frauen sind bei UN-Friedensmissionen deutlich in der Unterzahl. Soviel zum ersten Beitrag aus Anlass des Internationalen Frauentages am 8. März.
Der zweite Beitrag kommt wieder aus Afghanistan. Noch sind die Taliban nicht wieder an der Macht, aber das Ehegesetz, das für die schiitische Minderheit erlassen wurde, genauer gesagt für ihren männlichen Teil, könnte auch von den Taliban stammen. Nach diesem Gesetz habe der Mann beispielsweise "das Recht auf Geschlechtsverkehr mit seiner Frau - wenn er nicht auf Reisen sei". Menschenrechtsorganisationen haben diese Bestimmung als Freibrief für Vergewaltigung in der Ehe bezeichnet. In Kabul kam es darauf zu einer bemerkenswerten Konfrontation vor der Moschee des Ayatollahs Mohseni, der das Gesetz mit verfasst hatte. Hunderte von Frauen demonstrierten gegen das Gesetz und wurden von einer Meute von Gegendemonstranten (Männer und Frauen) als "Christensklaven" und "Hündinnen" beschimpft und mit Steinen attackiert. Das Gesetz wurde auf westliche Proteste hin zunächst auf Eis gelegt, scheint aber dann im August verabschiedet worden zu sein.
Aus den USA kam der 2. Aprilscherz: Präsident Obama sichert CIA-Folterern Straffreiheit zu. Zuvor hatte er die Veröffentlichung von vier Memoranden genehmigt, welche die brutalen Techniken beim "Verhör hochwertiger Terroristen" bis ins Detail festlegten, darunter das simulierte Ertränken, den Zwang zum langen Stehen, den Schlafentzug und das Zuführen "fader und unappetitlicher aber kompletter Flüssignahrung". Damit hat er zwar sein Versprechen von "Transparenz und Offenheit" eingelöst, ist aber vor dem entscheidenden Schritt, nämlich die Verfasser der Memoranden im Justizministerium, die Folterknechte und das "Begleitpersonal" aus Ärzten und Psychologen zu bestrafen, zurückgeschreckt. Wen wundert es, wenn ein Fernsehkomiker süffisant formuliert, Obama setze den Anti-Terrorkurs seines Vorgängers exakt fort, "mit einem wichtigen Unterschied: Obama schafft es, dass die Kinder es mögen".
Weitaus rätselhafter war die Meldung über einen seltsamen Gutsbesitzer an der Landkreisgrenze. Ein Scheich aus Abu Dhabi, der sich im Oberland häuslich niedergelassen hat, soll in seiner Heimat einen betrügerischen Getreidehändler übel misshandelt haben. Zunächst hieß es, die Bestrafung sei "regel- und gesetzeskonform abgelaufen" - schließlich hat auch ein Polizist an der Prügelszene mitgewirkt. Die Staatsanwaltschaft in München erklärte sich für nicht zuständig, da es sich "nach derzeitigen Erkenntnissen um einen rein internen Fall der Vereinigten Arabischen Emirate" handle, aber immerhin war auf einem Interneteintrag schon einmal von einem Einreiseverbot die Rede, hat die Bundesregierung Aufklärung des Vorgangs eingefordert und das Emirat inzwischen eine Untersuchung zugesagt. Ob diese Bereitschaft mit dem Einstieg bei Daimler-Benz zusammenhängt, lässt sich nur vermuten. Da hätte dann die Globalisierung ein gutes Werk getan.
Gegen Jahresende hat man den Prinzen in seinem Heimatland dann vor Gericht gestellt. Da hat der Prinz aber lachen müssen! Der Richter hat ihn wegen "verminderter Schuldfähigkeit" freigesprochen. Er sei von seinen Mittätern mit Tabletten berauscht worden und außerdem habe ihm das Opfer vergeben. Gerüchten zufolge hat ihm (dem Opfer) die Familie des Prinzen eine hohe Entschädigung gezahlt. Justitia wird froh gewesen sein, dass ihr schon von Haus aus beide Augen verbunden sind, aber immerhin war es eine "Premiere", weil noch nie ein Mitglied des Herrscherhauses angeklagt worden ist.
War zuvor von der "Verfolgungsresistenz" der Chinesen die Rede, muss man diese Aussage zumindest einschränken, denn mit einer Mischung aus Mut und Naivität hat der spanische Ermittlungsrichter Pedraz die Klage tibetischer Menschenrechtsgruppen zugelassen, die chinesischen Ministern und Generälen vorwerfen, bei der Niederschlagung des Aufstandes von 2008 Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Unter Berufung auf ein Rechtshilfeabkommen zwischen Spanien und China gibt Pedraz "seiner Hoffnung Ausdruck, ... die Beschuldigten in China verhören zu können. Andernfalls sei eine Aussage vor einem chinesischen Gericht eine denkbare Lösung. Und den Betroffenen stünde es auch frei, vor dem Gericht in Madrid Stellung zu nehmen". Es mag sein, dass das Geräusch, mit dem das Gesuch in Peking in den Papierkorb wanderte, bis nach Madrid zu hören war, aber wir haben Señor Pedraz nicht deswegen so ausführlich zitiert, um ihn der Lächerlichkeit preiszugeben, sondern um ihm unseren Respekt zu erweisen und aufzuzeigen, wie weit unsere Welt noch vom Prinzip der universalen Rechtsprechung entfernt ist.
Ebenfalls ins Fäustchen gelacht haben sich in diesem Monat Chinas Busenfreunde in Myanmar/Birma, als ihnen der "Schwimmer" John William Yettaw die Nobelpreisträgerin San Suu Kyi kurz vor Ablauf ihres fünfjährigen Hausarrestes erneut ans Messer lieferte. Yettaw war über einen See zum Haus von Suu Kyi geschwommen und hatte sich dort Zutritt verschafft. Wenn man seine Biographie liest, kommt man wahrlich nicht auf die Idee, die "Lady" könnte ihn eingeladen haben. Aber genau das warf ihr die Militärjunta vor. Yettaw wurde im August zu sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt, aber drei Tage nach Urteilsverkündung dank der Intervention eines US-Senators freigelassen. San Suu Kyi wurde im gleichen Verfahren zu weiteren 18 Monaten Hausarrest verdonnert.
Im Januar war übrigens ein 20-jähriger Student zu 104 Jahren Haft verurteilt worden. Zumindest solange sollten Than Shew und Konsorten einmal in der Hölle schmoren.
In deutschen Kinos lief Anfang der Film "Das Herz von Jenin" an. In ihm wird der Besuch des Palästinensers Ismael Khatib bei drei israelischen Kindern geschildert, die heute mit den Organen von Khatibs Sohn Ahmed leben. Ahmed war im November 2005 bei einer Militäraktion israelischer Soldaten im Flüchtlingslager von Dschenin tödlich am Kopf getroffen worden und Khatib wollte die Organe seines Sohnes an Kinder spenden, "egal ob Juden, Araber oder Christen". Ahmed war (bisher) das letzte Kind, das in Dschenin getötet wurde.
Vor 20 Jahren wurden am Platz des Himmlischen Friedens in Peking die Studenten massakriert.
Die Regierung tut weiterhin alles, um jegliche öffentliche Erinnerung zu unterbinden.Das musste auch der damalige deutsche Außenminister erfahren, der bei einem Besuch in Peking darauf bestand, mit Ding Zilin, die Gründerin der Gruppe "Mütter von Tiananmen" zu sprechen.
Allerdings musste Steinmeier akzeptieren, dass das Treffen öffentlich verschwiegen werden musste und dass Ding Zilin die deutsche Botschaft über einen Hintereingang zu betreten hatte.
In Chile wurde 36 Jahre nach seiner Ermordung die Leiche des Sängers Victor Jara exhumiert. Er galt damals wie heute als "Stimme Chiles" und wurde bei Pinochets Militärputsch auf bestialische Weise umgebracht.
Ein Leutnant mit dem Spitznamen El Loco/der Verrückte ließ zunächst seine Hände zerschmettern und "spielte" dann mit ihm Russisches Roulette. Ein Mittäter sitzt in Untersuchungshaft.
Eine gute Nachricht kam hingegen aus Nigeria, genauer gesagt aus New York. Nach einem außergerichtlichen Vergleich vor einem Bezirksgericht in New York erklärte sich der Ölkonzern Shell bereit, 15 Millionen Dollar an die Hinterbliebenen des Menschenrechtsaktivisten Ken Saro-Wiwa zu zahlen. Saro-Wiwa hatte 1990 die Bewegung für das Überleben des Ogoni-Volkes gegründet, dessen Existenz durch die Ölförderung im Nigerdelta gefährdet war. Die damaligen Machthaber, die sich am Ölgeschäft bereicherten, räumten ihn 1995 aus dem Wege. Die Witwe bezichtigt Shell, die Regierung zur Hinrichtung gedrängt oder diese zumindest nicht verhindert zu haben.
Die "Reue" des Konzerns fiel sehr verhalten aus. "Die Schadenersatzzahlung sei kein Schuldeingeständnis. sie sei eine Geste an die Ogoni."
Nach diesen Ausflügen in die Ferne und in die Vergangenheit, die Rückkehr in die deutsche Gegenwart. "Dinah darf ins Ausland" entschied das OLG Karlsruhe und setzte damit einen (vorläufigen) Schlusspunkt unter eine Kontroverse, die zeigte, dass die Probleme der übrigen Welt auch bei uns gelandet sind und in der die Kampflinien so verlaufen, dass man durchaus für beide Seiten Verständnis haben kann. Das Jugendamt in Lörrach hatte verfügt, dass ein zehnjähriges Mädchen mit Eltern äthiopischer Herkunft nicht zu seinen Großeltern reisen durfte, weil die Gefahr, in Äthiopien beschnitten/verstümmelt zu werden, zu groß sei. Das OLG Karlsruhe sah aber keine "belastbaren Hinweise" auf eine diesbezügliche Absicht der Eltern und entschied nach einer Befragung der Großeltern durch die Deutsche Botschaft in Addis Abeba, dass das Mädchen reisen könne. Gebe Gott, dass sie wieder unversehrt zurückgekommen ist!
In Russland wurde mit Natalja Estemirowa eine weitere Menschenrechtlerin ermordet. "Im Grunde wiederholte sich an ihr das Schicksal Anna Politkowskajas", denn auch sie setzte sich bis zu ihrem Ende für die Aufklärung von Menschenrechtsverstößen an Zivilisten im angeblich befriedeten Tschetschenien ein. Selbst Präsident Medwedjew, gerade auf Deutschlandbesuch, fand (relativ) starke Worte. Er sei "empört" und "Estemirowa habe oft die Wahrheit gesagt". Da wird es beim Rapport vor Putin aber etwas gegeben haben!
Dass auf dem Bild, vom Leichnam abgesehen, nur Männer sind, entspricht wahrscheinlich muslimischer Tradition, aber es ist auch der Situation angemessen. Schließlich ist sie ja auch von Männern erschossen worden.
Der Juli war auch die Zeit der Berichte über den Gazakrieg. Ai warf in seinem Bericht beiden Seiten Kriegsverbrechen vor, und in seltener Eintracht wiesen Israel und die Hamas den Bericht als "unausgewogen" zurück. Und in Israel veröffentlichte eine Menschenrechtsgruppe die Zeugenprotokolle von 30 Soldaten, die übereinstimmend aussagten, der Krieg sei mit äußerster Brutalität geführt worden - und das von einer Armee, die Verteidigungsminister Barak als "eine der moralischsten Armeen der Welt" bezeichnet hat.
Der andere Barack übte sich derweilen in Peking in weiteren Demutsgesten. "So kleinlaut klingt Amerika selten", höhnte ein Zeitungskommentar. Und "Vorbei sind die Zeiten, da US-Politiker den Machthabern im Reich der Mitte lange (und berechtigte) Vorträge zum Elend der Menschenrechte hielten." Dabei hätten sie es nötiger denn je, denn die Wunschträume des Auslandes (und der Miesbacher ai-Gruppe!), die Olympischen Spiele könnten die Lage der Menschenrechte in China verbessern, haben sich (wie unsere Luftballone!) in Luft aufgelöst. Die Presse zieht ein ernüchterndes Fazit: "Der große Zirkus mit den bunten Ringen mag weiter gezogen sein und wird nun im Osten Londons die Immobilienpreise entfesseln. Doch Chinas politische Gefangene sitzen weiter hinter Gittern."
Enttäuscht sind, mit einiger Verspätung, auch die westlichen Sportfunktionäre. So hat der Ehrenpräsident des Deutschen Olympischen Sportbundes gefordert, die Spiele nur noch an Länder zu vergeben, die die Menschenrechte achten. Wir wünschen eine erfolgreiche Suche! Erfolgreich war die "Suche" von Ex-Präsident Bill Clinton in Nordkorea. Er durfte zwei amerikanische Journalistinnen, die Nordkorea wegen illegaler Grenzüberschreitung festgenommen hatte und die "als Faustpfand im Nuklearpoker mit den USA" dienten, im Gepäck nach Hause mitnehmen. Jetzt kann Kim Jong Il mit dem fortfahren, was er besser kann als seine Bevölkerung zu ernähren: mit dem Schaukelspiel von zündeln und verhandeln.
Als Foto des Monats ein Bild von den Wahlen in Afghanistan. Als "Messlatte für den Erfolg des Westens ... im Kampf gegen die Taliban sowie für Demokratie am Hindukusch" gesetzt, haben sie die Erwartungen eher enttäuscht. Und wie es dort weitergehen soll, ist fast so schleierhaft wie die Burkas und Niquabs der Frauen.
Doch unsere Anteilnahme soll hier dem kleinen Mädchen gelten. In fünf Jahren wird sie ihr freundliches Lachen auch hinter einem Schleier verbergen müssen. Aber wahrscheinlich ist ihr das Lachen bis dahin sowieso vergangen.
Mit einem Schaukelspiel haben auch die Nachrichten aus der Türkei zu tun. Die Entscheidung der türkischen Behörden, die Kirche in Tarsus, dem Geburtsort des Hl. Paulus, wieder in ein Museum zu verwandeln, hat, zu Recht, die christlichen Kirchen auf den Plan gerufen. Bei solchen Steilvorlagen in Sachen "Verletzung der Religionsfreiheit" braucht man sich nicht zu wundern, dass die Minarettentscheidung in der Schweiz auch die Zustimmung seriöserer Kreise findet. Nun gehört das "Wie Du mir, so ich Dir" nicht gerade zu den Grundprinzipien christlicher Ethik, aber ein "Kuhhandel" wie "drei Minaretts gegen eine christliche Kirche" sollte vielleicht zumindest einmal angedacht werden.
Erfreulich war hingegen, dass sich Premierminister Erdogan mit deutlichen (und noch nie gehörten) Worten für eine Versöhnung mit den Kurden ausgesprochen hat. Er stellte die (rhetorische) Frage: "Wo stünde die Türkei heute, hätte sie nicht 25 Jahre verschwendet mit Konflikt, ungelösten Morden und zwangsgeräumten Dörfern?" und kam zu folgendem Resümee: "Keiner hat gewonnen. Alle haben verloren." Zweifellos ist Bewegung in die Kurdenfrage gekommen, nur ist leider noch keine klare Richtung auszumachen: PKK-Chef Öcalan, bisher in Einzelhaft gehalten, erhält Gesellschaft von inhaftierten Parteigenossen und darf sogar einen eigenen Friedensplan vorlegen, aber gegen Jahresende wird wieder einmal die kurdische Partei verboten. Was für die einen ein "historischer Durchbruch" ist, wird für die anderen noch lange "Landesverrat" bleiben.
In Frankfurt fand das Vorspiel zur Buchmesse statt - mit dem Gastland China. Das konnte nicht gut gehen! Was tun? Die Mitwirkenden agierten jeder auf seine Weise und manchmal auch widersprüchlich - ausladen und einladen, angreifen und zurückgeben, brüskieren und umarmen. "Ausgeladen" von den Veranstaltern wurden (zunächst) die kritischen Autoren Dai Quing und Bei Ling; "eingeladen" wurden sie dann vom deutschen PEN-Zentrum. Der "Angriff" erfolgte dann von Angela Merkel, die "der chinesischen Delegation einen Haufen Stacheldraht, eingewickelt in Seidenpapier" reichte, indem sie an die Bücherverbrennungen in Diktaturen erinnerte; die Chinesen "konterten", indem sie zum einen das Symposium verließen, als die beiden Dissidenten das Wort ergriffen, und zum anderen, indem sie das Gemeinwohl über die Menschenrechte stellten. (Zitat des ehemaligen chinesischen Botschafters: "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral".) Das "Brüskieren" und "Umarmen" erfolgte dann durch ein und dieselbe Person, die Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth. Bei ihrer Begrüßungsrede zum Symposium hatte sie die Chinesen verärgert, weil sie sie nicht willkommen geheißen hatte, einige Wochen später aber verstieg sie sich zu der Bemerkung, "dass wir es sind, die sich öffnen müssen". Ein Journalist kommentierte diesen Ausrutscher wie folgt: "Dass sich danach nicht die Erde öffnete, ist der letztgültige Beweis dafür, dass es keinen gerechten Gott gibt." Selbst wenn man dieses Gottesbild nicht zur Gänze teilt, ist der Kommentar doch glänzend formuliert.
Wesentlich mehr Zivilcourage als die Frankfurter zeigte Dominik Brunner auf dem S-Bahnhof München Solln. Er kam zu Tode, als er vier Kindern zu Hilfe kam, die von zwei Schlägern bedroht wurden. Noch immer läuft es einem kalt den Buckel hinunter, wenn man an der Stelle vorbeifährt, wo langsam die Blumen verwelken und man sich die Frage stellt, wie man sich selber verhalten hätte.
Der FC Bayern, sein jetziger Präsident und 69 000 Zuschauer, haben Dominik Brunner in einer Schweigeminute gedacht.
Und für einen Moment gerät man ins Träumen. Was wäre passiert, wenn diese 69 000 Zuschauer (oder wenigstens die Insassen eines S-Bahn Wagons) auf Seiten Dominik Brunners in den Streit eingegriffen hätten?
In Frankfurt war immer noch Buchmesse, und weil wir heuer auf die Chinesen eine besondere Wut haben, soll noch einmal auf sie eingegangen werden, und zwar mit zwei Gedichten, die Zeugnis ablegen von den zwei Chinas, die sich, das eine ohnmächtig, das andere übermächtig, auf der Buchmesse vorstellten.
Zunächst das Gedicht des "parteitreuen Tintenklecksers" Wang Zhaoshan, der sich einen Platz in der offiziellen Delegation ergattert hatte. Ein Opfer des Erdbebens von Sichuan, unter den Trümmern begraben, "sondert", schon tot aber tief gerührt, "noch Lyrik ab".
Naturkatastrophen sind unvermeidlich
Wie könnte ich da über meinen Tod klagen ...
Die Partei bemuttert, das Vaterland liebt mich
Ihre Rufe, Ton um Ton, dringen zu mir durch den Schutt
1,3 Milliarden Menschen weinen gemeinsam
Obschon nur noch ein Geist
So bin ich doch glücklich ...
Die große Liebe der Nation erfahren habend
Bin ich selbst als Toter voller Zufriedenheit
Hätte ich doch nur einen Fernsehbildschirm vor meinem Grab
Um die Olympiade anzusehen und mit in den Jubel einzustimmen
Im zweiten Gedicht meldet sich Liao Yiwu zu Wort, dem die Ausreise verweigert worden war, obwohl sein Werk auf der Buchmesse vorgestellt wurde und er eine Einladung aus Deutschland hatte. Sein Gedicht "Massaker" soll für das andere China stehen:
Die Chinesen haben ihr Zuhause verloren!
Jeder weiß, sie sind heimatlos geworden!
Zuhause ist ein zarter Wunsch, lass uns in diesem Wunsch sterben!
Lass uns sterben in den imaginären Wünschen
Der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit!
Verwandeln wir uns selbst in solche Wünsche,
Stehen wir am Horizont und verführen mehr lebendige Menschen,
Dafür zu sterben!
Und so sieht der Karikaturist das Rollenspiel auf der Buchmesse:
Im März war schon einmal vom Eppelein von Geilingen die Rede, aber im Oktober steht ein Eppelein vor Gericht in Den Haag: der frühere bosnische Serbenführer Radovan Karadzic, dem man u.a. das Massaker von Srebrenica vorwirft.
Da schlagen wir uns in Deutschland gerichtlich schon mit ganz anderen Problemen herum. In Radolfzell wurde das "Maultaschenurteil" verkündet, das die Kündigung einer Altenpflegerin als rechtens erklärte. Wir werden uns hüten, in die Niederungen der Kontroverse über Bagatelldelikte hinab zu steigen, aber die Rechtfertigung der Kündigung durch den Klägeranwalt können wir uns nicht verkneifen, selbst wenn wir hier auf der Populismusschiene fahren. Sie sollen bei der Lektüre dieses Berichtes ja auch was zu lachen haben. Der Fall der Pflegerin, so der Anwalt, sei nicht mit dem eines Managers zu vergleichen, der sich mit dem ihm zur Verfügung stehenden Kapital vertue. "Er hat nicht in die Eigentumsrechte seines Arbeitgebers eingegriffen." Jetzt glauben wir ist es höchste Zeit, zum nächsten Monat überzugehen.
Bei uns in Deutschland (und natürlich in Miesbach) wurde der Fall der Mauer gefeiert.
Wer vor 1989 öfters auf DDR-Besuch war und sich an die Tränen beim Abschied erinnerte, wird die Wiedervereinigung uneingeschränkt begrüßen. Dass sich die "blühenden Landschaften" nicht wie bestellt entwickelt haben, und die Jubelschreie bisweilen im Katzenjammer ausgeklungen sind, ist zu bedauern, aber gemeinsam "Sorge und Nöte" auszuhalten, ist auch ein Zeichen von Gemeinsamkeit.
Dem folgenden (Stammtisch)Witz möchten wir eine Vorbemerkung vorausschicken, nicht dass man uns der "Fremdenfeindlichkeit" bezichtigt. Wir freuen uns von Herzen, dass die Mauer gefallen ist und dass an der Bäckeralm und am Aachenpass die Grenzanlagen verrotten.
Den Witz erzählen wir trotzdem, weil er böse und gut zugleich ist.
Ein Bayer hat bei einer Fee drei Wünsche frei. Als erstes wünscht er sich die Österreicher hinter die Alpen zurück, als zweites möchte er, dass die Ossis wieder hinter einer Mauer verschwinden. Nach dem dritten Wunsch gefragt, wünscht er sich eine Leberkässemmel.
Wer den Witz heute im Lichte des Bankenskandals um die Bayrische Landesbank und die Alpe Adria erzählt, wird sich als Bayer mit einer Leberkässemmel nicht mehr zufrieden geben, sondern sich für die beteiligten Banker und Politiker ein Exil wünschen, das höher ist als die Alpen und noch besser bewacht als die Mauer.
Noch weniger zu wünschen ist ihnen allerdings, dass sie einem Polizisten aus Arkansas/USA in die Hände fallen, denn dort behandelt man schon bockige Zehnjährige, die sich dagegen wehren zu duschen, nach Einwilligung der Mutter mit Elektroschockpistolen. Nach Einschätzung von Amnesty International spielen in den USA diese Taser seit Juni 2001 bei mehr als 350 Todesfällen eine Rolle.
Nur wenig besser (aber dafür angemessen) aufgehoben wären sie in Pennsylvania/USA. Dort wurden Mutter und Tochter an den Pranger gestellt, weil sie zwei Geschenkgutscheine gestohlen hatten. Die beiden "Großkriminellen" standen vier Stunden vor einem Gerichtsgebäude mit einem Schild um den Hals: "Ich habe ein neunjähriges Mädchen an dessen Geburtstag bestohlen. Stehle nicht, sonst könnte Dir das hier passieren." Die Staatsanwaltschaft hatte diese Strafe vorgeschlagen und im Gegenzug auf eine Haftstrafe (!) verzichtet.
Im Dezember gab es keine Nachrichten, bei denen man ohne Ironie "Fröhliche Weihnachten" sagen konnte. In China wurde, zum ersten Mal seit 50 Jahren, wieder ein Ausländer hingerichtet, einen Briten, den man als Drogenkurier erwischt hatte. Dass er wahrscheinlich psychisch krank war, hat nicht weiter gestört. Und weil man schon gerade beim "Aufräumen" war, wurde der Bürgerrechtler und Mitverfasser der "Charta 08" Liu Xiaobo wegen "Agitation zum Umsturz der Regierung" zu 11 Jahren Haft verurteilt. Noch nie wurde wegen dieses "Delikts" eine Haftstrafe in dieser Höhe ausgesprochen, aber der Einschüchterungseffekt dieses Urteils hielt sich in Grenzen. Vor dem Gerichtsgebäude demonstrierten nicht nur ausländische Diplomaten und Journalisten, sondern auch Chinesen, die damit ihrerseits eine Festnahme riskierten, der Künstler Ai Weiwei bezeichnet das Urteil als "Ohrfeige", und mehrere hundert Intellektuelle forderten die Regierung öffentlich auf, sie nun ebenfalls wegen der "Charta 08" anzuklagen.
Wie war das gleich mit dem zweiten Wunsch an die gute Fee? Da wüssten wir doch einen besseren Kandidaten, den man hinter eine Mauer stecken möchte - die Liu Xiaobos natürlich ausgenommen! Und die Mauer wäre auch noch da!
Wir gestehen ein, dass dieser Teil des Jahresberichtes eine gewisse Schlagseite hat und nach dem Motto "Schlägst du die Chinesen, verhaue ich die Amerikaner" strukturiert ist. Aber Obamas Rede bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises kann man einfach nicht übergehen. Er mag ja mit der Ist-Zustandsbeschreibung Recht haben, dass der Krieg seit Anbeginn zur Menschheit gehört und es nur eine Evolution zum "gerechten Krieg" und nicht zum Frieden gibt, aber bei einem solchen Anlass hätte uns ein wenig Sozialutopie schon gut getan.
Aber wie hieß es doch gleich in der Dezembersendung von "Neues aus der Anstalt"? "Wenn jemand, der das Dynamit erfunden hat (Alfred Nobel), einen Friedenspreis stiftet, dann ist es nur angebracht, ihn an jemanden zu verleihen, der das "Dynamit" noch von Zeit zu Zeit anwendet".
Da diese Zeilen am 6. Januar geschrieben wurden, und die Hl. Drei Könige wahrscheinlich Magier aus Persien waren, ist es angebracht, diesen anderen Jahresrückblick mit einer Nachricht aus dem Iran zu beenden. Außerdem passt sie noch am besten in die Rubrik "Fröhliche Weihnachten", was zunächst einmal verblüffen mag, da sie mit den blutigen Unruhen zusammenhängt, die das Land im Dezember erschütterten. Die Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi hatte einen offenen Brief unter dem Titel "Für die Männer, die sich nicht schämen eine Frau zu sein" veröffentlicht. Sie spielte damit auf die Verhaftung des Studentenführers Majjid Tawakoli an, der in Frauenkleidern (Tschador) flüchten wollte, was von den staatlichen Medien genüsslich kommentiert wurde. Tawakolis Mitstudenten veröffentlichten darauf im Internet Fotos von sich selbst mit Tschador oder Kopftuch und ließen so den Versuch, Tawakoli durch Gelächter zu erledigen, ins Leere laufen. Im Januar 2010 wurde er in einem Schnellverfahren zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.
Als Fluchthelfer mag der Tschador ja seine Berechtigung haben, für die iranische Frauenbewegung ist der Zwang zur (schwarzen) Nonnenkutte aber ein rotes Tuch. So gehört für die Autorin Asal Akhavan zum Minimalkonsens reformorientierter Frauengruppen "die Abschaffung der Todesstrafe und des Schleierzwangs".
Auch wenn die Bezeichnung ai-Miesbach leichter von der Zunge geht, war es ein weiser Beschluss, uns in "ai-Gruppe im Landkreis Miesbach" umzutaufen. Zum einen haben wir Mitglieder in sechs Gemeinden des Landkreises, zum anderen haben wir uns auch heuer bemüht, Miesbachs schützende (wenn auch nicht vorhandene) Stadtmauern zu verlassen und andernorts Präsenz zu zeigen. Und dabei ist es hilfreich, wenn den Passanten, den Gottesdienstbesuchern oder dem Publikum vertraute Gesichter entgegenschauen. Es ist jedenfalls eher die Ausnahme, wenn eine ältere Dame voller Eifer berichtet: "Da habe ich das Schild "Amnesty International" gesehen; und natürlich bin ich gleich hingegangen!"
Kunstausstellung in der Stadtbücherei Miesbach: "Was der Mensch verletzt, kann er auch wieder heilen."(Dezember 2008 - Januar 2009)
Beim Bericht über die Eröffnungsveranstaltung am 10. Dezember haben wir noch recht euphorisch getönt: "Und deshalb fügen wir der Menschenrechtserklärung eigenmächtig den Artikel 31 hinzu - 'Jedermann hat die Pflicht, mit einer solchen Veranstaltung mehr als zufrieden zu sein." Und da uns auch Kenner bescheinigten, wir hätten eine hochwertige Ausstellung zusammengebracht, waren wir zuversichtlich, wir würden Verkaufserlöse erzielen wie bei Sotheby's. Aber als wir die Ausstellung wieder abhingen, machten wir lange Gesichter, so wie der Sisyphus eben - nur nicht so glücklich wie der bei Camus. Dass sich Kunst nicht in klingende Münze umsetzen ließ, mindert jedoch nicht unsere Dankbarkeit. Wir bedanken uns noch einmal bei den Künstlerinnen und Künstlern fürs Mitmachen und bei der Stadt und den Damen von der Bücherei für die Gastfreundschaft.
Postkartenaktion: "Jeder Mensch hat das Recht, sich zu beschweren" (Januar)
Angesichts der Nullsumme, mit der wir unsere Kunstausstellung bilanzieren mussten, kam uns diese Postkarte gerade Recht. Leider stellte sich bei näherem Hinsehen heraus, dass es sich um eine Forderung an Angela Merkel handelte. Deutschland solle das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt ratifizieren, das ein Beschwerderecht in WSK-Angelegenheiten (wirtschaftliche, soziale, kulturelle Menschenrechte) ermöglichen soll. Für die Mehrheit in der Gruppe sind solche Aktionen eher "Nebenkriegsschauplätze" der ai-Arbeit, aber (bisher) trotten wir noch brav mit - wie die "Kälber" in dem berühmten Lied von Brecht.
Ökumenischer Gottesdienst (21. Januar)
Wir lassen ca. 90 Postkarten verteilen, auf denen die Freilassung von vier ausgewählten Guantánamo Häftlingen und die Schließung des Lagers gefordert wird. Noch selten hat ein Appell eine so prompte Reaktion erfahren, denn Präsident Obama hat als 1. Amtshandlung verfügt, das Lager binnen Jahresfrist aufzuheben.
Aktionstag im Fools Theater Holzkirchen (25. Januar)
In Zusammenarbeit mit den Frauen in Schwarz, deren Vorsitzende Christa Ortmann in erster Linie für die Vorbereitung und Durchführung des Aktionstages verantwortlich war, hatten wir ein umfangreiches Programm mit Film, Musik, Vorträgen und Theater zusammengestellt, das die (geduldigsten) Zuhörerinnen und Zuhörer fünf Stunden lang beschäftigen sollte. Der Film "Der große Ausverkauf" handelte von den "Segnungen" der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, deren Auswirkung auf die sozialen Rechte der Betroffenen und den trickreichen Formen des Widerstands. Das Trio Trademix mit seiner breiten Palette an Volks- und Klezmermusik ging leider etwas unter, was aber nicht an der Qualität der Musiker, sondern am Gesprächsbedarf des Publikums lag.
Anschließend referierten drei ai-Mitglieder über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEDM), den ai-Bericht über die Menschenrechte in Deutschland und die Aktionsform "Briefe gegen das Vergessen".
Dann kam das Theater, von der Ankündigung her ein "clowneskes Lehrstück" über die Artikel der AEDM, verfasst von Urs Fiechtner und aufgeführt vom Ulmer Theater in der Westentasche. Obwohl Fiechtner zu den Hausautoren von ai gehört, und das Theater ansonsten einen guten Ruf hat, waren das Stück und die Aufführung grottenschlecht, und es war bezeichnend, dass sich der Autor mit seinem Schäferhund am Hintereingang aufhielt, wo ihm niemand den Fluchtweg verstellen konnte. Wir hätten uns das Stück unbedingt vorher anschauen müssen - oder es selber schreiben sollen.
So gilt unser Dank zunächst einmal unserem (immerhin 60-köpfigen) Publikum, das dem ersten Teil der Veranstaltung mit großem Wohlwollen und Interesse folgte und uns nach dem Theater nicht der Verletzung seiner kulturellen Menschenrechte bezichtigte. Danken möchten wir auch dem Fools Theater für seine Unterstützung und Risikobereitschaft, und nicht zuletzt Frau Ortmann für die exzellente Vorbereitung und reibungslose Durchführung dieses Aktionstages.
Tätigkeitsbericht 2008
Von Jahr zu Jahr verstärkt sich der Eindruck, dass unser Tätigkeitsbericht nicht nur wohlwollend in Empfang genommen, sondern immer öfter auch gelesen wird. Wir haben jedenfalls ermutigende Rückmeldungen erhalten. Da wünschte uns jemand, "den Humor und den Glauben an die Menschheit nicht zu verlieren", da sprach jemand mit Anerkennung davon, dass wir "fester Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens in Miesbach" seien, da veröffentlichte der Merkur einen langen Artikel zum Jahresbericht, wo wir mit unseren Aktivitäten (noch) besser wegkamen, als wir sie selbst in Erinnerung hatten. Und besonders gefreut hat uns, dass dazu noch einmal das Foto von Herrn Leder von unserer "Gegenolympiade" am 8. August abgedruckt wurde, das "den Eindruck vermittelte, auf dem Marktplatz in Miesbach hätten sich mehr Leute eingefunden als im Vogelnest in Peking".
Schaukasten zum Frauentag (8. März)
Der Schaukasten am Rathaus, den uns die Stadt Miesbach großherzig zur Verfügung stellt, obwohl es noch 149 andere Vereine gibt, ist an diesem Tag besonders leicht zu gestalten. Man braucht nämlich nur ein Jahr lang Nachrichten zu sammeln, wo Frauen etwas auf die Beine gestellt haben und wo man ihnen ein solches gestellt hat. Man wird leicht fündig. Wussten sie beispielsweise schon, dass im Jemen ein achtjähriges Mädchen, das von ihrem Vater an einen 30-jährigen Mann zwangsverheiratet worden war, vor einem Gericht in Sanaa gegen Zahlung einer Entschädigung an die Familie ihres Ehemannes ihre Scheidung erstritten hat? Nujud sprach von den "schlimmen Dingen", die ihr Mann ihr angetan habe. "Immer, wenn ich im Garten spielen wollte, hat er mich geschlagen und gesagt, ich solle mit ihm ins Schlafzimmer kommen."?
Besuch in der Krankenpflegeschule in Agatharied (18. März)
"Wie gehabt" haben wir uns notiert, aber das war nicht ganz richtig. Wir trafen zwar wiederum auf ein wohlwollendes Publikum und wiederholten Programmteile aus den (vier) Vorjahren, aber mit den Vergleichen zwischen Menschenrechten und Pflegealltag, die unser Ex-Krankenpfleger mit Fantasie, Sensibilität und Humor zusammengestellt hatte, kamen wir so nahe an die Zielgruppe heran, wie nie zuvor. Da wurde dann deutlich, dass nicht nur im Iran oder Burkina Faso sondern auch im deutschen Gesundheitswesen Fälle auftreten können, wo das Recht auf Gleichbehandlung, freie Meinungsäußerung und Privatheit verletzt wird und dass im Pflegeberuf bisweilen eine Gratwanderung zwischen Selbstschutz und Fremdverletzung anzutreten ist.
Wir haben natürlich auch über die ai-Arbeit und die gravierenden Menschenrechtsverletzungen gesprochen, die in Pflegeberufen vorkommen. (Der Bericht über die Mitwirkung von Ärzten bei den CIA-Folterungen war leider noch nicht veröffentlicht!) Der Film über die Säureattentate in Bangladesch und die Behandlung der Opfer erhielt traurige (aber makabre) Aktualität, weil im November 2008 ein Gericht im Iran ein denkwürdiges Urteil gefällt hatte. Einer Frau, die ihr Augenlicht durch einen Säureangriff verloren hatte, wurde das Recht zugesprochen, Selbstjustiz zu üben und dem Täter ihrerseits (oder durch ihre Mutter) die Augen zu verätzen. Dass auch diese Tat zu verabscheuen ist, steht außer Frage, aber es ist doch bemerkenswert, dass Frauen sich zu wehren beginnen und zwar unter Berufung auf die strengsten Formen islamischen Rechtes - und vor Gericht damit durchkommen.
Als "Hausaufgabe" haben wir dann Postkarten verteilt: Eine Karte ging nach Japan, wo Hakamada Iwao seit 40 Jahren in der Todeszelle sitzt (und dabei geisteskrank geworden ist), eine andere Karte nach Burundi, wo wir nachfragten, was aus den versprochenen Maßnahmen zur Bekämpfung sexueller Gewalt geworden ist.
Postkartenaktion zum 1. Mai
Wir hatten uns in den letzten Jahren nicht mehr auf den Maikundgebungen der Gewerkschaften eingefunden, aber da wir derzeit den iranischen Gewerkschaftler Mansour Ossanlu betreuen, wussten wir, wo am 1. und 3. Mai unser Platz war. Man hat auf unsere Selbsteinladung sehr freundlich reagiert und wir sind immerhin an die 80 Postkarten losgeworden. In Holzkirchen konnten wir den Fall vorstellen, in Schliersee hat ihn MdB Barthel sehr geschickt mit dem Internationalismus der Gewerkschaftsbewegung in Einklang gebracht. Als er davon sprach, dass "diese (ai)Aktion in der besten Tradition der Gewerkschaftsbewegung stehe", gab es Szenenapplaus. Und Ortskartellchef Höltschl ließ es sich nicht nehmen, die Postkarten persönlich zu verteilen. Wir wären noch mehr Karten losgeworden, wenn sie nicht der Wind/die Kellnerin/der iranische Geheimdienst von unserem Infostand gefegt hätten.
Eine amüsante Szene am Rande: Als eine Teilnehmerin an der Veranstaltung vernahm, dass Ossanlu in Haft sei, antwortete sie aus dem Bauch heraus: "Der wird's scho braucha!" Aber nachdem sie kurz überlegt hatte, hat sie sich postwendend entschuldigt. Da merkte man dann, bei welchen Leuten man zu Gast war.
Ebenso freundlich war die Aufnahme beim Mai-Empfang des SPD-Kreisverbandes. Unser Infostand war geradezu "umlagert", und MdL. Ritter bedankte sich für unser Engagement. Dass am Ende ein paar Karten am Boden lagen, trübte unsere Stimmung nur unwesentlich. Wir bedanken uns herzlich bei allen, die uns eingeladen und unser Anliegen in ihren Reden aufgegriffen haben und bei allen, die die Postkarte auch wirklich abschickten.
Dass wir bei diesen Veranstaltungen eine solche Resonanz gefunden haben, mag auch etwas mit einem Zeitungsartikel zu tun haben, der einige Tage zuvor erschienen war. Er setzte sich realistisch mit den Erfolgen und Grenzen der ai-Arbeit auseinander und ging ausführlich auf unsere Iran-Fälle ein. Und außerdem druckte er ein schönes Gruppenfoto ab, das wir ihnen guten Gewissens nicht vorenthalten können.
Gastspiel Claus von Wagner (14. Juni)
Mit dem Aktionstag in Holzkirchen zweifellos das Glanzlicht des ai-Jahres, auch wenn das Kabarett vom Titel her nur drei Sekunden dauerte.
Aber es waren lange, geistreiche und amüsante drei Sekunden, mit Spitzen gegen Politiker, Banker, Konsumenten und Patchworkfamilien, dargeboten von einem Kabarettisten, den Altmeister Dieter Hildebrandt als "einen unserer hervorragenden Nachwuchskabarettisten" bezeichnet hat. Und abgespielt hat sich das "Feuerwerk der Pointen" in einem Gerümpelspeicher, dessen Requisiten aus dem Fundus des Gymnasiums stammten, dem Ort, an dem Claus von Wagner 1997 das Abitur ablegte.
Es war eine Veranstaltung, die auch den antiken Sisyphus (vorübergehend) glücklich gemacht hätte. Es kamen etwa 160 Zuschauer, die voll auf ihre Kosten kamen - vorausgesetzt, sie saßen in den vorderen Reihen, die Zusammenarbeit mit dem Gymnasium (Leitung, Hausmeister), der Agentur und der Vorverkaufsstelle (Buch am Markt) war ein Vergnügen, und dem Künstler mussten wir das (reduzierte) Honorar geradezu "aufdrängen", da er spontan angeboten hatte, umsonst aufzutreten.
Wir bedanken uns von Herzen.
Balsam für unsere ai-Seelen war es, als er unter Szenenapplaus und mit einiger Selbstironie anmerkte: "ai ist eine Organisation, die etwas tut, während Kabarettisten nur reden." Dem Schlussteil seiner Anmerkung ist natürlich entschieden zu widersprechen. Er hat viel getan für uns! Und wir würden uns freuen und er hat offensichtlich nichts dagegen, wenn wir ihn in ein paar Jahren wieder mit einem "Willkommen daheim!" begrüßen könnten.
Kaffeegespräch mit MdB Max Stadler (22. Juni)
Dass Miesbach nicht nur als Sprungbrett für die Karriere von Kabarettisten, sondern auch für die von Politikern dienen kann, zeigt sich an der jetzigen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und am jetzigen Staatssekretär im Innenministerium Max Stadler. Beide haben uns zu Kaffeehausgesprächen eingeladen, aber ob sie uns ihren Aufstieg verdanken, lassen wir einmal in aller Bescheidenheit offen. Auf das Gespräch mit Herrn Stadler hatten wir uns gründlich vorbereitet und auch einige kontroverse Themen eingebaut: Bayrisches Versammlungsgesetz, Fall Kurnaz, Waffenrecht, Internetsperre, Flüchtlingsproblematik. Das Gespräch verlief offen und freundlich, und das nicht nur weil sich Herr Stadler als ai-Mitglied in Passau outete und sich bereit erklärte, im Fall Ossanlu einen Brief abzusenden. In Verlegenheit brachte er uns lediglich, als er uns (und sich selber) die Frage stellte, ob man Material verwenden dürfe, das der pakistanische Geheimdienst mit den einschlägigen Methoden produziert hatte, beispielsweise das Geständnis eines Terroristen, dass bei uns eine Bombe hochgehen würde. Sie möchten wissen, wie die Antworten ausfielen? Er argumentierte als Jurist und Realpolitiker und meinte: "Ja, aber nicht als Beweismittel vor Gericht." Das kann man auch als ai'ler akzeptieren, aber wir erlaubten uns hinzuzufügen, dass man das Problem auch "beim Kopf anpacken", sprich für eine "Humanisierung" der Verhörmethoden eintreten müsse. Er war einverstanden, und es bleibt nur zu hoffen, dass er als Regierungspolitiker seine liberalen Ansichten beibehalten kann.
Wir möchten übrigens den Eindruck vermeiden, dass wir auf Grund der diesjährigen Gastgeberliste auf zwei Parteien fixiert sind. Wenn man uns einlädt oder einlässt, kommen wir auch zu (fast allen) anderen Parteien.
Interview durch die Firmlinge (27. Juni)
Wie lokalprominent wir sind, zeigte sich, als wir mit anderen Größen der Pfarrei von den Firmgruppen (bzw. deren Leiterinnen und Leitern) zum Interview geladen wurden. Dabei kamen wir bei Fragen wie "Machen Sie auch Caritasarbeit, speziell für Kinder, Jugendliche und Familien?" ganz schön ins Trudeln. Wir konnten zwar vor Ort auf Nachhilfe für die Kinder von Asylbewerbern und Aussiedlern verweisen, aber ansonsten gehören unsere Aktivitäten eher in die Bereiche Bewusstseinsbildung und Fernstenliebe. Da hatten wir allerdings einiges zu bieten: Schulbesuche, Infoabende über Kindersoldaten und Kinderarbeit und die entsprechende Ausstellung "Dafür bist Du alt genug" bei den Jugendkulturtagen. Die letzte Frage "Haben Sie Wünsche an uns Firmlinge?" war leicht zu beantworten. Wir wünschten uns, dass sie sich (vielleicht auch durch Einwirkung des Hl Geistes) zu einem Gegenmodell zu den drei Affen entwickeln sollten: "Augen auf, Ohren auf, Mund auf" - wenn irgendwo Unrecht geschieht.
Und natürlich hoffen wir, dass irgendwann wieder Jugendliche und junge Erwachsene bei uns "kleben" bleiben oder ihrerseits etwas auf die Beine stellen.
Infostand / Sisyphusland (4. Juli)
Während der erste Termin dem Regen zum Opfer fiel, ertrank der zweite Termin eher im Konsumrausch. Wir hatten Briefe zugunsten unserer beiden Betreuungsfälle Ossanlu und Bihamba vorbereitet und Postkarten und Unterschriftslisten gegen Folter in Russland (Polizeigewahrsam, Hafteinrichtungen) ausgelegt. Von den Briefen wurden wir ganze sieben los, und die Unterschriften waren nicht zu zählen - so wenig waren es. Nur an Erfahrungen wurden wir umso reicher: 1. Wir brauchen einen starken optischen Anreiz. Unsere schwarzen Sperrholzfiguren, (die uns schon seit Jahren begleiten), wurden ignoriert, und eine Standbetreuerin merkte selbstironisch an: "Wir Frauen waren leider nicht attraktiv genug". Ein(e) Mister/Miss Amnesty muss her - Herrn Barthel oder Frau Aigner fragen! 2. Wir müssen unseren Standort verändern. Der Bräuwirt mit seinen massiven Biertischen und das Café Huatfabrik rückten uns so nahe auf den Leib, dass wir fast schon selber zu einem ai-Fall geworden wären. Gegen Mittag war unser Infotisch das einzige Möbelstück, auf dem kein Weißbierglas oder Kaffeetasse stand. 3. Wir müssen den veränderten Einkaufsgewohnheiten Rechnung tragen. Unsere Standzeiten stammen noch aus der Vergangenheit - als die Geschäfte mittags schlossen, die Straßenrestauration noch weitgehend unbekannt war und am Marktplatz ab 12.00 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt wurden.
Nicht fehlen in diesem sarkastischen Jammerkatalog soll allerdings der Kommentar einer anderen Standbetreuerin: "Aber es gab auch Positives, denn die wenigen, die einen Brief mitgenommen haben, standen hundertprozentig zur Sache. Eine Dame war sogar an unserer Gruppe interessiert." Und nächstes Mal, wenn die Prominenz nicht mitmachen sollte, kommen unsere neuen Stellwände zum Einsatz, die ein Mitglied als Ebay-Schnäppchen erworben hat.
Und weil wir jetzt schon wieder besser drauf sind, noch eine Karikatur, die zeigt, wofür sich bei uns die Massen engagieren.
Infoabend Afghanistan (Oktober)
Sie haben davon nichts mitgekriegt? Wir auch nicht. Wir hatten mit (Ex-) MdB Niels Annen zwar einen hochkarätigen Referenten gefunden, aber im letzten Augenblick gab es seiner- und unsererseits Terminkollisionen, und wir mussten die Sache abblasen. Da das Thema aktueller denn je ist, gehen wir es vielleicht im Neuen Jahr an - auf einer Podiumsdiskussion mit Bischöfin Margot Käßmann, Theodor zu Guttenberg, Hamid Karsai und Mullah Omar von den Taliban. Na ja, wird wohl auch nichts werden - schon weil der Herr Omar nie mit einer Frau diskutieren würde!
Gottesdienst in Bad Wiessee (25. Oktober)
Es dürfte schon 20 Jahre her sein, dass wir als ai-Gruppe Tegernseer Tal auftraten, und deshalb hat es uns besonders gefreut, dass wir durch Vermittlung eines Gruppenmitglieds, die auch im Pfarrgemeinderat in Bad Wiessee sitzt, von der Pfarrei Sankt Anton eingeladen wurden, einen Sonntagsgottesdienst mitzugestalten. Wir kamen sehr ausführlich zu Wort, konnten die Organisation vorstellen, auf Justine Bihamba (DR Kongo) hinweisen und die Fürbitten formulieren. Eine davon bezog sich auf "Menschen, die sich für die Rechte anderer einsetzen in Ländern, in denen dieser Einsatz Leib und Leben kosten kann". Für solche Menschen stand unser 2. Fall, der katholische Priester Tomislav Matanovic, der 1995 während des Bosnienkonflikts mit seinen Eltern verschleppt wurde. Ihre gefesselten Leichen wurden 2001 in einem Brunnenschacht gefunden. Es besteht der Verdacht, dass Polizisten oder Armeeangehörige die Täter sind.
Nach dem Gottesdienst kam es an unserem Infostand geradezu zum "Stau". Obwohl man das Gefühl hatte, dass einzelne Gemeindemitglieder zunächst etwas verunsichert darüber waren, dass unser Auftritt der (abgeänderten) Grundregel der Benediktiner vom "Bete und handle" folgte, erhielten wir 30 Unterschriften für Frau Bihamba und wurden über 20 Briefe los, in denen die Bestrafung der Mörder von Pfarrer Matanovic gefordert wurde. Besonders gefreut hat uns, dass sich auch Pfarrer Steinmetz an der Brief- und Unterschriftsaktion beteiligte. Wir danken der Gemeinde und ihrem Pfarrer für ihr Interesse und ihre Gastfreundschaft und wünschen ihr, dass die Mütter am Ort ihre Kinder unbeschadet auf die Welt bringen und die Leute in Frieden alt werden, denn dafür ist der Hl. Antonius ebenfalls zuständig.
20 Jahre Mauerfall (9. November)
Beim umfangreichen Programm von Kulturamt und Volkshochschulen zum Thema Mauerfall waren wir auf zwei Veranstaltungen (mit) vertreten. Die erste Veranstaltung wurde schwerpunktmäßig von der Realschule, dem Gymnasium und der Kulturreferentin Frau Jooß ausgerichtet. Die Realschule hatte eine Ausstellung zum Thema "Die deutsch-deutsche Grenze" vorbereitet, das Gymnasium steuerte eine Ausstellung über "Mauern heute" bei.
Die Gedenkfeier war hochkarätig besetzt (Bürgermeisterin, Schulleitungen) und bot ein anspruchsvolles und vielfältiges Programm aus Ansprachen, Musik, Lesungen, szenischer Darbietung und handgreiflichem "Straßentheater". Das Programm hätte für zwei Stunden gereicht, aber leiden standen nur 45 Minuten zur Verfügung. So müssen wir etwas kleinlaut eingestehen, dass die Redakteurin des Merkur mit ihrem Kommentar "ein Paradebeispiel dafür, wie eine Gedenkfeier nicht ablaufen soll" nicht ganz daneben lag. Aber dafür kam es zu erstaunlichen historischen Parallelen. Wir erlebten das Phänomen "Republikflucht" am eigenen Leib, weil um 13.00 Uhr die Schülerinnen und Schüler in Massen zum Zug eilten und uns beim symbolischen Mauerdurchbruch im Krankenhauspark weitgehend alleine ließen. Und dann hatten die Männer vom Bauhof die Mauer so solide gebaut, dass unsere "Mauerspechte" einige Mühe hatten, den ersten Stein heraus zu brechen. Deshalb, so noch einmal der Kommentar, "dauerte der Mauerfall noch einmal gefühlte 20 Jahre" - wie letztlich die deutsche Einheit auch.
In unserem Redebeitrag "Mauern überall" versuchten wir, das Thema "Mauern" in einen größeren (humanitären und geopolitischen) Zusammenhang zu stellen, indem wir auf Mauern hinwiesen, hinter denen politische Gefangene weggesperrt werden, die Felder und Länder trennen und die Flüchtlinge auf Distanz halten. Die "Festung Europa" sollte dann unser Ausstellungsbeitrag im Dezember werden.
Es mag nicht optimal gelaufen sein, aber es hat uns gefreut, dass so viele Leute ihren Beitrag geleistet haben. Und vergessen Sie nicht: Im Schlussteil von Günter Schabowskis denkwürdiger Pressekonferenz ist es noch viel chaotischer zugegangen.
Miesbach im Lichterglanz (29. November)
Zum 2. Mal nahmen wir im Rahmen des großen Novemberspektakels "Miesbach im Lichterglanz" an der Aktion der römischen Basisgemeinde San Egidio "Städte für das Leben, Städte gegen die Todesstrafe" teil. Die Stadt hatte wiederum das Rathaus beleuchtet und sehr dekorativ das Transparent "Ja zur Lebensfreude - Nein zur Todesstrafe" angebracht. Leider hat es in der Nacht der 1000 Lichter nicht mehr zum Licht 1001 gereicht: Man hatte vergessen, die Beleuchtung des Transparents anzuschalten, aber dafür durften wir das städtische Stromnetz für unseren Crêpes-Stand anzapfen.
Thematischer Schwerpunkt war heuer Belarus/Weissrussland, das einzige Land in Europa, wo die Todesstrafe noch vollstreckt wird. Die Verurteilung kann auf Grund von erfolterten Geständnissen erfolgen, die Berufungsmöglichkeiten sind eingeschränkt, die Hinrichtung erfolgt ohne Ankündigung und ohne Unterrichtung der Angehörigen, die Leichen werden an einem geheimen Begräbnisort verscharrt. Wir haben die Praktiken an dieser Stelle so ausführlich beschrieben, weil es uns nicht gelang, in jener Nacht das "ja" mit dem "nein" zu verknüpfen, d.h. neben unseren Crêpes auch noch Postkarten abzusetzen. Wer es versuchte, stand einsam auf weiter Flur.
Aber dafür lief der Bauchkonsum, das "Ja zur Lebensfreude" umso besser. Unser Chefcrêpier/Pfannenkuchenmeister schwelgte in der Rückschau in den höchsten Tönen: "Auch die Teigmenge wurde auf 15 Liter erhöht, hat aber noch nicht gereicht. 20 Minuten vor dem offiziellen Ende mussten wir aufhören. Wir starteten um 17.00 Uhr, sollten aber eigentlich eher anfangen, denn wir mussten einige Kunden vertrösten."
Hier die Belegschaft - etwas angespannt, aber in voller Aktion:
und da die Kundschaft - in freudiger Erwartung (und sichtlich froh, dass sie nicht in Weißrussland leben müssen)
Ausstellungseröffnung: Bootsflüchtlinge vor der Festung Europa (4. Dezember)
Wir sind kurz einmal ins Bett gegangen und standen dann fünf Tage später wieder auf der Matte. Wie im letzten Jahr waren wir in der "staden Zeit" besonders unstad/unstet. Aber man kann halt nicht den Advent, den Tag der Menschenrechte und Weihnachten in den August verlegen.
Wir hatten die Aufgabe, im Rahmen des Großprojekts "Mauern fallen, Mauern bleiben" die Festung Europa abzudecken. Die ai-Gruppe Braunschweig hat uns das Material geliefert, die Stadtbücherei hat uns die Räume zur Verfügung gestellt, und die vertrauten "Mittäter" (Kulturreferentin, Volkshochschule und kath. Kreisbildungswerk) sind bereitwillig "ins Boot gestiegen" - wenn in diesem Zusammenhang dieses Bild erlaubt ist. Die Boote, die die Flüchtlinge in Nordafrika besteigen, sind nämlich alles andere als seetüchtig und oft bleibt von ihnen nur noch das Paddel und von ihrer Besatzung nur noch die Leichen übrig. "Wenn es Sommer wird, sterben die Menschen", so beschreibt ein spanischer Fischer die Situation an der Südseite der EU.
Zur Eröffnung kamen etwa 25 Personen, weitgehend vertraute Gesichter. Wir hatten drei afrikanische Musiker eingeladen, deren virtuoser Trommelwirbel andeutete, was sich auf diesem Kontinent zusammenbraut. Ein Film beleuchtete die Widersprüche des Frontex-Einsatzes - Effektivität zu Lasten der Humanität. So stritt der damalige Innenminister Schäuble vehement ab, dass Flüchtlingsboote in internationalen Gewässern wieder nach Nordafrika abgedrängt werden und den Flüchtlingen damit die Chance auf ein Asylverfahren verweigert wird.
Zu welchen Tragödien es dabei kommt, zeigte der Fall der jungen Huriya Awwan. Das alte Fischerboot, das 120 Personen nach Europa bringen soll, stößt mit dem italienischen Patrouillenboot Minerva zusammen und zerbirst in Stücke. Am Ende zählt man 10 Leichen und 40 Vermisste. Ein italienischer Journalist zeigt dem Staatsanwalt in Agrigent ein Foto von der Autopsie Huriyas. Der Staatsanwalt erinnert sich "sichtlich bewegt an ihre gefaltete Visitenkarte, die mit einem Klebeband auf ihrer Brust befestigt war, damit sie bei der Überfahrt nicht nass würde. Darauf waren die Telefonnummern ihrer drei Brüder in Spanien vermerkt." Huriya besaß ein Diplom als Informatikerin und hoffte, sie könnte in Europa eine gute Arbeit finden.
Wie gut die Ausstellung dann besucht wurde, entzieht sich unsere Kenntnis. Im Begleitbuch waren zwei Einträge. Ein Eintrag lautete: "Eine sehr schöne Ausstellung - beeindruckend, informativ und ergreifend." Ergreifend auch der Kommentar eines Flüchtlings, der uns Europäer an die Vergangenheit erinnerte, als wir übers Meer zu ihnen fuhren: "Als die Weißen nach Afrika kamen, wurden sie nicht wie illegale Immigranten behandelt."
Wir danken allen Beteiligten für die Vorbereitung und Beherbergung der Ausstellung und für die Mitwirkung an der Eröffnung.
Adventszauber (6. Dezember)
Wir sind dann kurz einmal ins Bett gegangen und standen zwei Tage später wieder auf der Matte. Diese Wiederholung ist keine stilistische Schwäche, sondern hat eher mit biologischer Ermüdung zu tun. Die "Matte" waren diesmal Holzpaletten, denn am Adventsmarkt ist es kalt, und man kann ja nicht gut die Füße in eine Glühweinschüssel stellen. Und da wir Wert auf Stil legen, haben wir auch noch einen Teppich unterlegt. Dieses exklusive Ambiente passte gut zu unserem Angebot an Keramik, Holzprodukten, Krippenställen und Socken, für deren Herstellung wieder unser Dank an die Damen Schmalhofer-Jacobi und Schreiber, den Fischbachauer Missionskreis, an die Herren Giebe, Schmucker, Fischer, Six und Bracher, die Berufsschule Miesbach und eine anonyme Sockenstrickerin aus Holzkirchen geht. Ohne Sie müssten wir Glühwein oder Kesselfleisch verkaufen!
Unser Dank gilt aber auch den Organisatoren des Marktes, der Kulturreferentin und der Stadt Miesbach, die trotz eines angegriffenen Stadtsäckels die Standgebühren erschwinglich gehalten hat. Nicht zuletzt dank unserer "Filiale" am Weihnachtsmarkt in Fischbachau konnten wir unseren Vorjahreserlös halten.
Autorenlesung Lutz Rathenow (7. Dezember)
Zur Lesung von Lutz Rathenow, Oppositioneller zu DDR-Zeiten, preisgekrönter Autor heute, hatte das Kulturamt eingeladen. Wir haben uns gefreut, dass wir im Programm als Mitveranstalter auftreten durften - und trotzdem keine Arbeit hatten. Wir haben lediglich ein paar Ankündigungsplakate verteilt, aber nicht mehr die Kraft gehabt, einen Infostand zu betreiben. Im Publikum dominierten die Damen. Haben sie mehr Feingefühl dafür, wie man "Gelächter sortieren" kann, oder wurden sie beim Betrachten des Faltblatts von der ausgeprägten Maskulinität von Herrn Rathenow angezogen? Wenn letzteres der Fall sein sollte, werden wir ihn bitten, bei unserem nächsten Infostand auszuhelfen.
Bevor wir Ihnen unseren neuen Fall vorstellen, möchten wir an zwei Altfälle aus dem Iran erinnern, für die Sie vielleicht in der Vergangenheit schon Appellbriefe versandt haben. Abbas Lisani, ein Kämpfer für die Rechte der aserbaidschanischen Minderheit, wurde im Oktober 2008 entlassen, nicht ohne seiner Familie damit zudrohen, "dass man ihn wieder festnehmen würde, wenn er in einer aserbaidschanischen Stadt an einer Veranstaltung teilnehmen oder sich einer Bewegung anschließen würde". Ob er fristgerecht oder vor-/nachzeitig entlassen worden ist, entzieht sich unserem Vorstellungsvermögen, da ihm während seines Gefängnisaufenthalts immer wieder eine neue Haftstrafe "draufgesattelt" wurde.
Und im Januar hat sich, mit anderen im Exil lebenden iranischen Intellektuellen, Akbar Ganji zu Wort gemeldet. Sie haben "vorläufige Forderungen der Grünen Bewegung" vorgelegt und u. a. den Rücktritt Ahmadinejads und Neuwahlen gefordert. Wir hatten Ganji bis zu seiner Freilassung im März 2006 betreut, leider ohne auf die Länge seiner Inhaftierung Einfluss nehmen zu können. Aber wir freuen uns, dass er sich nicht ins Privatleben zurückgezogen hat und sind zuversichtlich, dass eines Tages für Leute wie ihn in seiner Heimat wieder Platz sein wird.
Das gilt auch für den Gewerkschaftler Mansour Ossanlu, dem Ex-Vorsitzenden der Busfahrergewerkschaft in Teheran, der im Februar 2007 wegen "Aktivitäten gegen die nationale Sicherheit" und "Propaganda gegen das Regime" zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Gemeint waren seine Kontakte zur internationalen Gewerkschaftsbewegung, aber damit kann man natürlich keine Haftstrafe begründen.
Bei der Verhaftung im Juli 2007 hat man ihm fast ein Auge ausgeschlagen und ihn erst einige Monate später und nach internationalen Protesten an seiner Verletzung operiert.
Wir haben bei den Gewerkschaftsveranstaltungen am 1. Mai, wie bereits erwähnt, Appellpostkarten mit dem schnörkellosen Aufdruck "Freiheit für Mansour Ossanlu" an die Adresse des iranischen Botschafters verteilt, einen Brief an den iranischen Justizminister geschrieben und auf einer Petitionsliste Unterschriften gesammelt. An Ossanlu selber werden wir Ansichtskarten schicken. Wir sind uns im Klaren, dass solche Appelle für Einzelpersonen umso ungehörter verhallen, je mehr im ganzen Land das Feuer auf dem Dache lodert, aber vielleicht wird dieses Feuer einmal dazu beitragen, dass man Gewerkschaftler nicht mehr willkürlich einsperrt.
In diesem Lande lodert das Feuer schon jahrelang auf den Dächern. Die Männer "spielen" Krieg und wenn eine Frau des Weges kommt, wird sie vergewaltigt.
Frau Bihamba ist Koordinatorin des "Frauennetzwerks gegen sexuelle Gewalt" in Goma/Ostkongo. In den letzten fünf Jahren betreute sie 8.000 überlebende Opfer von sexuellen Gewaltakten.
Im September 2007 drangen Soldaten der Regierungsarmee in ihrer Abwesenheit in ihr Haus ein, griffen zwei ihrer Töchter an und flohen, als Justine zurück kam und die Behörden informierte.
Obwohl Justine, ihre Kinder und andere Haushaltsmitglieder die Täter identifizieren konnten, weigerte sich die Militärpolizei, sie zu verhaften - "aus Mangel an Beweisen".
Auf ihre Anzeige hin versprachen Armeeoffiziere und Provinzgouverneur, die Sache vor Gericht zu bringen, aber bisher ist nichts geschehen.
"Alles was wir wollen, ist ein Ende der Straflosigkeit", sagte Justine zu Amnesty International. Das wollten wir auch mit unserer Briefaktion erreichen. Und genau das sagte auch US-Außenministerin Clinton, als sie im August 2009 kurz vor ihrem Besuch in Goma mit Präsident Kabila zusammentraf. "Es muss Schluss damit sein, dass Frauen im Krieg missbraucht werden." Im Jahre 2008 registrierte die UN 7703 Sexualverbrechen im Ostkongo; aber nur 27 Täter seien von Militärgerichten verurteilt worden. In jüngster Zeit werden immer mehr Männer vergewaltigt - aber sicher nicht von Frauen.
Wie prekär die Situation von Menschenrechtlerinnen ist und wie mutig die Frauen sind, zeigt eine Meldung vom Januar 2010. Eine Frauengruppe aus Goma wollte Präsident Kabila ein Friedensmemorandum überreichen. Sie forderte darin "regelmäßige Bezahlung der Soldaten, den Aufbau einer staatlichen Justiz sowie die Bestrafung der Vergewaltiger und Mörder". Die Frauen hatten einen offiziellen Termin bei Kabila, wurden aber zunächst nicht empfangen. Als sie vor dem Palast in einen Sitzstreik traten, raste plötzlich ein Minibus in die Gruppe und verletzte einige Frauen schwer. Im Anschluss an diesen "Unfall" konnten sie dem Präsidenten ihr Memorandum übergeben.
Da wir seit längerer Zeit keine neuen Abonnenten für diese Monatsbriefe gewinnen konnten, sondern eher welche verloren haben, erlauben wir uns, den Abschnitt aus unserem letzten Jahresbericht zu zitieren, der sich mit den Formalitäten und der "Erfolgsquote" dieser Aktionsform befasst. Wir tun dies in der Hoffnung, dass Sie Ihr Abonnement weiterführen, sich zu einem solchen entschließen oder Bekannte dazu animieren.
"Auch diesmal wollen wir mit Nachdruck für dieses Abonnement werben. Es handelt sich dabei um eine relativ einfache Möglichkeit, unsere Arbeit zu vervielfältigen. Sie würden pro Monat sechs vorgefertigte Briefe (drei davon an Botschaften in Berlin) bekommen, die in Fensterkuverts passen und nur noch unterschrieben und frankiert werden müssten. Man kann die Briefe auch elektronisch von unsere Homepage (www.amnesty-miesbach.de) abrufen und sie wegfaxen oder wegmailen, wobei zu vermuten ist, dass Mails weniger Chancen haben, gelesen zu werden, als die beiden Papierformen. Bei fremdsprachigen Briefen fügen wir selbstverständlich auf Deutsch das Hintergrundmaterial bei, damit sie nicht Ihr eigenes Todesurteil unterschreiben. Die Aktion hat eine Erfolgsquote von 33%. Wenn man aus der Ziffer Menschen macht, heißt das: Bei einem Drittel der Fälle wurden Haftstrafen reduziert oder erlassen, Todesurteile umgewandelt, Haftbedingungen verbessert oder Täter vor Gericht gestellt."
Neu war in diesem Jahr, dass wir gleich zwei Mal eine Antwort bekamen, was immerhin eine Steigerung von 100% bedeutete. Allerdings waren die Antworten von sehr unterschiedlicher Qualität. Im September fragten wir bei der EULEX (Rechtsstaatlichkeitsmission der EU im Kosovo) nach den Verantwortlichen für den Tod des Romas Daka Asani an. Der Brief sollte nach Pristina gehen, aber er kam aus Belgrad zurück, wo man uns, in mangelhaftem Englisch, kundtat, dass der Briefverkehr in den Kosovo "derzeit unterbrochen" sei. Wir hoffen nur, dass der Leiter von EULEX noch über andere Informationswege verfügt. Im Januar hatten wir uns für die Umweltschützerin Esther Landetta (Ecuador) eingesetzt. Sie war durch ihren Kampf gegen illegale Bergbauaktivitäten (mutmaßlich) bei der betroffenen Mafia in Ungnade gefallen und wurde nach Morddrohungen unter Polizeischutz gestellt. Aus dem Justizministerium/Abteilung Menschenrechte kam postwendend eine zweiseitige Antwort in blumigstem Spanisch. Darin wurde uns versichert, dass der Polizeischutz funktioniere und dass er "für den Zeitraum gelte, während dessen sie in Schwierigkeiten steckt".
Es sei an dieser Stelle herzlich jenen gedankt, die uns beim Verfassen und Übersetzen der Briefe zur Hand gehen: Irene Scherm, Rachel Bull und Peter Jacobi. Dieser Dank gilt natürlich auch unseren Abonnent(inn)en, die oft schon seit Jahren/Jahrzehnten unsere Briefe absenden. Wir fragen lieber nicht weiter nach, was Sie mit dem Portogeld sonst angestellt hätten.
In Holzkirchen haben wir die Vorstellung dieser Aktionsform mit einem Gedicht von Hölderlin abgeschlossen, und weil es so gut zur (gefühlten) Erfolgsquote passt, möchten wir es Ihnen nicht vorenthalten.
Was wäre das Leben
ohne Hoffnung?
Ein Funke, der aus der Kohle
springt und verlischt,
und wie man bei trüber Jahreszeit
einen Windstoß hört,
der einen Augenblick saust
und dann verhallt,
so wäre es mit uns.
Es lebte nichts, wenn es nicht hoffte.
einen Windstoß hört, der einen Augenblick saust und dann verhallt, so wäre es mit uns. Es lebte nichts, wenn es nicht hoffte.
Bei diesem Aktionsnetzwerk wirken weltweit rund 80.000 Personen mit, die in Fällen von drohender Hinrichtung, Anwendung der Folter oder willkürlicher Verhaftung die Behörden der betroffenen Staaten mit Briefen, Faxen und Mails "zuschütten". Wie bei den Briefen gegen das Vergessen zählt das Ausmaß der internationalen Reaktion: Je mehr Öffentlichkeit hergestellt werden kann, desto größer sind die Chancen auf Abstellung oder Verhinderung der Missstände.
Im Jahre 2008 wurden 350 Eilaktionen durchgeführt, und wir sind stolz darauf, dass wir seit 2009 wieder voll dabei sind. Zwei Gruppenmitglieder haben sich die Bearbeitung aufgeteilt und können sich über Arbeitsmangel nicht beklagen. U.A. heißt für sie nach wie vor auch "unter anderem", denn bei sieben UA's pro Woche muss man auswählen, und das fällt nicht leicht.
Auch in diesem Jahr haben wir unter willigem Seufzen an mehreren Kampagnen teilgenommen. Von den Postkarten in die USA (Guantánamo) und nach Burundi (sexuelle Gewalt) war bereits die Rede. Die Burundi-Kampagne war eine Neuauflage, denn wir fragten nach, was aus dem Versprechen des Jahres 2008 geworden sei, eine Kommission einzusetzen, um die Fälle sexueller Gewalt zu registrieren und zu untersuchen. Das Anliegen von ai ist auch im Lande selbst aufgegriffen worden, was die Wirksamkeit einer Kampagne nur steigern kann.
Tag- und nachtaktiv waren die beiden Arbeitsgruppen, die uns mit Rundbriefen und Appellen gegen die Todesstrafe versorgten. Gute und schlechte Nachrichten scheinen sich bei diesem Thema die Waage zu halten, aber der Trend geht, Gott sei Dank, in die richtige Richtung. So haben Staaten wie Neu Mexiko/USA, Togo und Burundi die Todesstrafe abgeschafft, Ghana und Russland ein Moratorium (Hinrichtungsstopp) verkündet oder verlängert. Im Gegenzug erwägt Südkorea, unter dem Schock eines 10-fachen Frauenmordes, die Wiedereinführung, während in Saudi-Arabien (Prinzen natürlich ausgenommen!) der Täter nicht nur hingerichtet, sondern im Anschluss auch noch öffentlich gekreuzigt wird. Besonders erschüttert hat uns die Hinrichtung von Delara Darabi/Iran, zum einen weil sie zur Tatzeit des Mordes erst 17 war und die Tat wahrscheinlich von ihrem Freund begangen wurde, zum anderen, weil geballter internationaler Protest nichts gefruchtet hatte.
Wir wünschen den beteiligten Instanzen, dass ihnen nach ihrem Tode nicht die 72 Paradiesjungfrauen (Huris) entgegentreten, sondern die Darabis, die sie auf dem Gewissen haben.
Der Arbeitsschwerpunkt von ai wird bis 2016 (und wohl noch darüber hinaus) die Kampagne "Mit Recht gegen Armut/Demand Dignity" sein. Beide Titel sind von der Formulierung her nicht kampagnenfähig, aber das Wort "dignity" allein besagt eindeutig, worum es geht: Es geht um die "Würde" des Menschen, der seiner Rechte beraubt ist - und dieses Mal handelt es sich um wirtschaftliche Rechte (Recht auf Mitsprache bei Großprojekten/Nigeria) soziale Rechte (Recht auf angemessene Ernährung/Simbabwe) und kulturelle Rechte (Recht auf Schulbesuch/Afghanistan). Wir geben zu, dass diese Kampagne zunächst nicht dem westlichen Geschmack entsprach, da wir von unserer Vergangenheit her mehr auf die bürgerlichen Freiheitsrechte fixiert und die WSK-Rechte bei uns weitgehend verwirklicht sind. Aber wenn ai eine internationale Organisation sein will, werden wir uns (wohl oder übel) auch mit Menschenrechtsverletzungen dieser Art herumschlagen müssen.
In der Gruppe haben wir als erstes das Thema "Zwangsräumungen in Kambodscha" aufgegriffen und zum Tag der Menschenrechte im Dezember rund 40 Postkarten und Broschüren in der evangelischen Kirche verteilt. Zum Frauentag 2010 werden wir Frauengruppen bitten, mit uns auf eine Bekämpfung der Müttersterblichkeit in Burkina Faso hinzuwirken.
In diesem Zusammenhang ist eine Leserbriefkontroverse im Amnesty Journal erwähnenswert, die im Sommer 2009 ablief. Da stellte ein ai-Mitglied die provokante Frage: "Wen will ai denn eigentlich erreichen - werden ein paar Menschen, die am Marienplatz gegen Slums in Johannisburg/Südafrika protestieren von irgendjemand in Johannisburg wahrgenommen?" Die ai-Spitze in Deutschland antwortete mit einem Gegenbeispiel: In Sao Paulo/Brasilien erhielten Hausbesetzer eine Ersatzbleibe oder einen Pauschalbetrag, nachdem ai mit einer Eilaktion (UA) gegen die geplante Zwangsräumung protestiert hatte. Wer würde sich da nicht an die Chaostheorie vom Flügelschlag des Schmetterlings erinnert fühlen?
Und wie könnte man das Anliegen der Kampagne besser illustrieren als mit diesem Mutmacherfoto?
Seit über drei Jahrzehnten ist der Finanzbericht zweihändig zu schreiben. Da tippt zum einen der Gruppensprecher ins Manuskript, dass er sich freut, dass die Veranstaltungen etwas abgeworfen haben, dass die Förderer/Förderinnen und Spender/Spenderinnen uns die Stange gehalten haben, dass wir in einer Bücherei eine Sammelbüchse aufstellen dürfen, dass uns Schaukasten und Veranstaltungsorte kostenlos zur Verfügung stehen. Der Jahresbeitrag von 2.200 Euro? Kein Problem bisher! Zum anderen aber schaut dem Gruppensprecher ein "Finanzminister" über die Schulter, und der mahnt zur Vorsicht: "Trag' nicht zu dick auf, sonst springen sie ab und spenden noch für die Bayrische Landesbank."
Aber beide Berichterstatter sind sich darin einig, dass die Aktivitäten, die nicht der Finanzbeschaffung dienten, auch deshalb so zahlreich waren, weil wir "den Rücken frei hatten" und keine Angst haben mussten, dass uns die Dachorganisation den Gerichtsvollzieher schicken würde. Danke!
Im Gegensatz zu Berlin hat es in unserer Gruppe weder einen Regierungswechsel noch sonstige weit reichende Veränderungen gegeben. Wir sind nur alle ein Jahr älter geworden, was ein Gruppenmitglied zu der Feststellung veranlasste: "Wenn ich um mich blicke, sehe ich lauter graue Haare." So grau ist es nun auch wieder nicht, aber natürlich würde uns eine "Verjüngungskur" nicht schaden. Erfreulich aber war, dass einige Mitglieder ihre Mitarbeit deutlich intensiviert haben, und dass unsere Neuzugänge bereitwillig Aufgaben übernommen haben, um die sich die (dienst) älteren Mitglieder, einschließlich des Gruppensprechers, gerne rumdrücken.
Da wollen wir es heuer mit einem Sylvestergedicht von Josef Guggenmos halten:
Vom alten Jahr stoße ich ab. Am neuen lege ich an. Morgen spring ich an Land. Dies Land, was ist's für ein Ort? Es ist keiner, der's weiß. Keiner war vor mir dort.
Wir wissen nämlich auch nicht so genau, was wir 2010 vorhaben. Vielleicht können wir den Abend über Afghanistan nachholen, vielleicht Pater Primus Asega, der in Uganda tätig und in Miesbach als "Ferienaushilfe" bekannt ist, für einen Vortrag über die Region Uganda/Ostkongo gewinnen. Schön wäre es natürlich auch, wenn sich ein Kabarettist/ eine Kabarettistin oder eine Musikgruppe fände, die unseren guten Ruf als Gruppe, die zwar keine Kultur schafft, aber Kultur für sich vereinnahmt, sprich, zu einem Auftritt verpflichtet. Und auf lange Sicht hegen wir den Traum, ob man nicht einmal die zahlreichen Künstlerinnen und Künstler, die aus den Schulen des Landkreises hervorgegangen sind, zu einer Nostalgieausstellung versammeln könnte.
In unserem Textprojekt "Spuren im Land" möchten wir von Ereignissen im jetzigen Landkreis Miesbach berichten, wo es im Laufe der Geschichte zu Verletzungen, aber auch zur Verteidigung von Menschenrechten gekommen ist, und das manchmal schon lange, bevor die "Menschenrechte" als Begriff überhaupt existierten" bzw. in der Politik eine Rolle spielten.
"Bayern und Frankreich: Wege und Begegnungen" lautete im 2006 der Titel einer Ausstellung der beiden Staatsarchive, und von verschlungenen Wegen und Begegnungen soll auch diese Folge unseres Textprojektes "Spuren im Land" handeln. Im Mittelpunkt stehen diesmal ein kleiner Franzosenbub und seine bayerische "Erstfamilie", die der 2. Weltkrieg und die Nachkriegszeit zusammengebracht und auch wieder getrennt hat. Es ist eine sehr persönliche Geschichte, weil sie bis in die Gegenwart hineinreicht, weil sich Gérard/Gerti P. und die Geschwister H. im Jahre 2009 nach 60 Jahren wieder getroffen haben, weil sie gemeinsam die Wege ihrer Kindheit abgeschritten sind und weil aus den Mosaiksteinchen ihrer Erinnerungen eine Geschichte entstanden ist, die der Krieg lange überschattet, aber bei der er nicht das letzte Wort gesprochen hat.
Wir schreiben November 1944. Im Krankenhaus in Miesbach hat eine Französin einen Sohn zur Welt gebracht. Den Vater, jüdisch-ukrainischer Abstammung und französischer Soldat in Kriegsgefangenschaft, hatte sie im Arbeitslager von Moosburg kennen gelernt. Fritz H. ist damals 12 Jahre alt. Eine Bekannte seiner Mutter und (vermutlich) der Französin nimmt ihn mit, um die junge Mutter zu besuchen. Es scheint eine schwere Geburt gewesen zu sein, denn die Frau weinte und brachte zum Ausdruck, dass sie das Kind nicht haben wollte. Fritz nahm das Baby in den Arm und brachte es seiner Großmutter Frau P., nach Aussagen aller Beteiligten eine fromme und herzensgute Frau. Die "Kindsentführung" fand übrigens unter dem wohlwollenden Lächeln der Schwester Ambrosia statt, die älteren Miesbachern sicher noch als resolute "Männerschwester" in Erinnerung ist. Ob die Schwester lächelte, weil sie glaubte, Fritz würde den Buben spazieren fahren oder weil sie schon ahnte, dass ihm "etwas Besseres als der Tod" allemal widerfahren würde, wissen wir nicht so genau.
Was Gérard/Gerti P. aber noch genau weiß ist, wie gut es ihm "in Feindesland" ergangen ist. In seinen Erinnerungen heißt es: "Aufgezogen in einer deutschen Familie, ... verwöhnt von einer Großmutter, die mich wahrlich wie einen Enkel behandelte, hatte ich Brüder und Schwestern, und meine Muttersprache war bayerisch. ... Ich erinnere mich noch an ein großes Haus am Fuße eines Abhangs, mit einer großen Treppe, die ins Freiland führte, wo ich mich manchmal niedersetzte, nachdem ich sie unzählige Male auf- und abgelaufen war. Und da waren die große Kirche und der Totenkerker, wo tausend Kerzen brannten. Oma war eine sehr fromme Frau und nahm mich jeden Tag, und oft auch zweimal am Tag, zum Beten mit. Und was mich noch heute ergreift und mir im Ohr verblieben ist, waren die Weihnachtslieder, die mit solcher Inbrunst gesungen wurden, dass mich noch heute ein wohliger Schauder ergreift. Und dann der lange Weg zum Kindergarten, den ich mit einem Freund zurücklegte. Kurz - ein echtes Familienleben!"
Dieses Nachkriegsidyll wurde jäh unterbrochen, als im Jahre 1949 ein Jeep mit amerikanischem Militär auftauchte und den Buben ohne Vorwarnung und nur mit der Kleidung, die er am Leibe trug (Lederhose und selbst genähtes Leinenhemd), in ein Kinderheim nach Bad Aibling brachte. Die Großmutter hatte gerade noch Zeit, ihm ein Kreuzzeichen auf die Stirn zu machen und ihm ein "Ich werde Dich nie aufgeben" zuzurufen, während sie weinend dem Jeep nachlief. Später sollte sich herausstellen, dass ihn die leibliche Mutter zurückgefordert hatte - weniger für sich als für Frankreich. Gerti, wie wir ihn hier noch einmal nennen, schreibt lakonisch: "Auf diese Weise habe ich die Familie verlassen, von der ich glaubte, sie sei meine eigene Familie. Und so habe ich auch Miesbach verlassen."
Nach seinem Besuch im Jahre 2009 haben wir uns ein wenig auf Spurensuche gemacht. Wir haben Nachbarn befragt, Altersgenossen, die mit ihm gespielt haben könnten oder mit ihm vielleicht im Kindergarten waren, aber bis jetzt haben wir niemand gefunden, der sich an ihn erinnern konnte. Dafür ist er seiner einstigen Pflegefamilie umso stärker im Gedächtnis geblieben, denn noch in den 50er Jahren versuchten sie, Gérard zu adoptieren.
Der Krieg war für den kleinen Gérard in Frankreich nicht wirklich vorbei. In der Schule war er wegen eines bayerischen Akzents (und seiner Lederhose) noch lange der "Schleu" oder der "Boche" (Schimpfnamen für Deutsche), eine Lehrerin, deren Mann von der Gestapo umgebracht worden war, machte ihm das Leben sauer, und seine Adoptiveltern enthielten ihm die Briefe vor, die aus Miesbach kamen. Ein Besuch in Miesbach im Jahre 1966 wurde für ihn zu einer "schrecklichen Prüfung". Zwar sah er die Großmutter wieder, aber als sich seine Adoptiveltern hinzugesellten, war der junge Mann durch die "Doppelung" emotional überfordert. Die Großmutter hat ihn wieder erkannt und gemeint, nun "könne sie in Frieden sterben".
Für Gérard kam die Zeit, als er seine Vergangenheit zu bewältigen suchte, indem er sie verdrängte und sich seiner Karriere widmete, und er brauchte 40 Jahre und die Ermutigung durch seine Frau, bis er sich ihr wieder stellte. Er schloss sich einer Vereinigung an, wo sich "Kinder des Krieges" gefunden hatten, er fand den Namen seines (verstorbenen) leiblichen Vaters heraus, erfuhr, dass seine jüdische Halbschwester in Auschwitz umgekommen war und traf dann, nach über 60 Jahren, wieder mit seiner leiblichen Mutter zusammen.
Jetzt war für ihn auch die Zeit gekommen, Miesbach einen weniger vorbelasteten Besuch abzustatten. Durch Vermittlung des hiesigen Stadtarchivars erhielt er die Adressen seiner Pflegegeschwister, und es war ein bewegender Moment, als er sich mit zwei von ihnen vor dem einstigen Heimathaus ablichten ließ. Der Krieg war (endgültig) vorbei; der Großmutter und seiner ersten Familie ist er heute noch dankbar.
Erinnerung an vergangene Tage: Gérard P. auf dem Schoß der Oma Anna P. (links) und zwischen seinen Pflegegeschwistern Anna P. und Fritz H. (rechts)
Fritz Weigl (Gruppensprecher)
Wallenburger Str. 28d
83714 Miesbach
Tel. 08025 3895
Fax 08025 998030
Email : Fritz.Weigl@gmx.de
Bernard Brown
Carl-Weinberger-Str. 5
83607 Holzkirchen
Tel. 08024 3502
Mail: bernard.brown@web.de
Homepage: www.amnesty-miesbach.de
Wir danken für Ihr Interesse und Ihre Unterstützung.