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Amnesty International Gruppe Miesbach (1431)
Jahresberichte:
Fälle:
Yasaman Aryani und Monireh Arabshahi (Iran)
Yew Wah HOO (Malaysia)
Zeitungsartikel:
Spuren im Land:
"Und Sie, Sie machen sich einen Gedanken, und den können Sie dann da hervorbringen." So beschreibt Gerhard Polt die Situation eines Abteilungsleiters, dem sein Chef den Auftrag gegeben hat, einen Kollegen mit einer Rede zu verabschieden. "Und wenn man dann do so dahockt und auf einen Gedanken wartet, wie ein Idiot, do merkt man dann, wie man diesen Gedanken ausgeliefert ist, diesem ambulanten Geschwerl, die da kommen oder nicht …" Und ähnlich sitze auch ich da und versuche, eine Einleitung zu finden, die Sie dazu bringt, diesem Tätigkeitsbericht noch ein paar Seiten lang die Stange zu halten. Man kann doch einen solchen Bericht nicht mit einer leeren Seite beginnen.
Aber gab's da nicht am Tag der Menschenrechte (10. Dezember) in Stockholm ein Ereignis, wo ein leerer Stuhl für ziemlich viel Aufsehen gesorgt hat?
In Peking war man beleidigt, weil der Preis an einen "inhaftierten Kriminellen" vergeben wurde, stellte unter Hausarrest, wer nicht ordnungsgemäß beleidigt war, zauberte den Konfuzius-Friedenspreis aus dem Ärmel, verlieh ihn an einen taiwanesischen Politiker, dessen Bürochef bis zum Tage der Verleihung noch nichts davon wusste, zwang 15 Staaten, die bei Peking in irgendeiner Form in der Kreide stehen, zum Boykott der Preisverleihung, schaltete am 10. Dezember ausländische Fernsehsender ab und nötigte in Norwegen lebende Chinesen, gegen den Preisträger zu demonstrieren. Wenn das die Handschrift der neuen Weltmacht ist, werden wir der USA noch bittere Tränen nachweinen.
Nicht einschüchtern aber ließ sich das Nobelpreiskomitee in Norwegen, obwohl Peking dem Lande gegenüber Repressalien angedroht hatte. Der Vorsitzende sah im Preis "eine Ehrung für Leute, die in China für Menschenrechte arbeiten" und ähnlich sahen es auch die Dissidenten in China, die ihrem Preisträger nicht den "energischen Widerstand des Volkes" entgegensetzten, sondern stolz und mutig und manchmal sogar öffentlich seine Ideen unters Volk brachten, bevor sie unter Hausarrest gestellt oder zu einem "Gespräch beim Tee" eingeladen wurden. Standhaft blieben auch 49 der 64 eingeladenen Botschaften. Wir ziehen vor ihnen den Hut und drücken ihnen die Daumen.
Die New York Times hatte am Vortage das Gedicht Liu Xiaobos "Worte, die eine Zelle nicht halten kann" veröffentlicht. Darin beschreibt er eine Verhaftung nach chinesischen Standards:
"Tief in der Nacht, leere Straße
Ich radle heim, ich halte an einem Zigarettenstand
Ein Auto folgt mir, überfährt mein Fahrrad
Ein paar gewaltige Kerle ergreifen mich
Ich werde in Handschellen gelegt, die Augen verbunden, geknebelt
In einen Gefängniswagen geworfen unterwegs ins Nirgendwo …"
Nicht unterschlagen bei unserer Chinaschelte aber wollen wir die Tatsache, dass mit der Anspielung auf das Jahr 1936 wir Deutschen gemeint sind. Damals erhielt Carl von Ossietzki den Friedensnobelpreis: Er war in Gestapohaft und erhielt ebenfalls keine Ausreiseerlaubnis. Als Reaktion auf die Preisverleihung stiftete Hitler einen "Deutschen Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft".
Unser Tätigkeitsbericht wird (zu Recht) nicht so viel Aufsehen erregen wie der leere Stuhl für Liu Xiaobo, aber immerhin hat uns dieser leere Stuhl zu einer mehr als "vollen" Seite verholfen.
Bei einem Ai-Tätigkeitsbericht lassen sich in einem Jahresrückblick die düsteren Töne und Bilder nicht vermeiden, aber es hat sich bewährt, dass man auf den "Mist" an schlechten Nachrichten, der alljährlich über uns abgeladen wird, nicht nur mit dem Stinkefinger, sondern (gelegentlich) auch mit dem Siegeszeichen reagiert.
Dass Erben nicht immer eitel Freude bereitet, musste Präsident Obama erfahren, der zu gerne den Guantánamo-Nachlass seines Vorgängers entsorgt hätte. Aber zur Gegnerschaft der Republikaner gesellt sich die "Unbelehrbarkeit" der Entsorgungskandidaten. Einige von den in den Jemen entlassenen Häftlingen – man spricht von einem Viertel – haben sich erneut (oder auf Grund ihrer Erlebnisse im sonnigen Kuba) al-Qaida angeschlossen, und auch der mutmaßliche Drahtzieher des Weihnachtsbombers von Detroit soll bis 2007 in Guantánamo eingesessen haben. Wenn man dann hört, dass Häftlinge entgegen offizieller Angaben nicht durch Selbstmord, sondern nach Verhören verstorben sind, kann man sich gut vorstellen, welche Gedanken (den Überlebenden) bei der Erinnerung an diesen Zwangsurlaub hochkommen. Guantánamo, so eine deutsche Zeitung, "dürfte fürs erste bleiben". Und dem ist auch so.
Außenminister Westerwelle, den seine Parteifreunde derzeit in die Wüste schicken wollen, kritisierte daselbst, d.h. in Saudi-Arabien, die Verletzung der Menschenrechte, insbesondere die Anwendung der Todesstrafe. Sein Kollege Faisal konterte wieder einmal mit den "unterschiedlichen Wertesystemen"; "Werte" und "Unwerte" wäre das bessere Gegensatzpaar.
Von der Wüste zurück in die engere Heimat. In Miesbach brachten Unbekannte an der Außentür des Orientexpress, der im ehemaligen Krankenhaus Demenzkranke betreut, Aufkleber mit rechtsradikalen Inhalten an. Da fragt man sich dann schon, ob nicht mancher der "draußen" ist, eigentlich nach "drinnen" gehört. Nur sind die Patienten an ihrer Krankheit nicht selber Schuld. Die gleiche Frage stellt sich, wenn man hört, dass man an der Gedenkstätte der Opfer des Felssturzes in Stein an der Traun eine schwarz-weiß-rote Reichsfahne aufgezogen hat. Die beiden Opfer hatten sich zu Lebzeiten demonstrativ gegen rechtsradikale Aktivitäten gestellt. Was sprayten damals die 68er an die Wände der Unis? "Der Schoß ist fruchtbar noch aus dem er kroch."
Auch weltweit hatte es der kürzeste Monat des Jahres in sich. In Südanatolien kam es zu einem grauenhaften Ehrenmord, bei dem ein 16-jähriges Mädchen von ihrer Familie lebendig begraben wurde, in Kuba hungerte sich der Dissident Orlando Zapata zu Tode, und bei seinem Treffen mit Obama in Washington schaffte es der Dalai Lama nicht ins Oval Office sondern nur in den Map Room (Kartenzimmer) und sein Bild nicht in die großen Nachrichtensender, sondern nur ins Internet. Trotzdem gab China sich verärgert.
Verärgert war man in britischen Zeitungen auch über Amnesty International. Und weil wir nicht nur austeilen sondern auch einstecken können, soll diese Nachricht nicht unerwähnt bleiben. Eine Mitarbeiterin der Londoner Zentrale ist gefeuert worden, weil sie in einem Zeitungsartikel beklagt hatte, dass Amnesty sich "in zu große Nähe eines Befürworters der Taliban begeben habe und ihm sogar eine eigene Plattform zur Verfügung stelle". Dieser Befürworter, ein ehemaliger Häftling in Guantánamo, distanziert sich zwar von Gewaltausübung, hält aber daran fest, "dass für Afghanistan die Taliban bisher die besten Herrscher waren". Auf solche Bundesgenossen sollten wir besser verzichten, selbst wenn man nicht verschweigen sollte, dass sich auch Frauen in Afghanistan zunehmend äußern wie die Bremer Stadtmusikanten: "Etwas Besseres als den Tod/Krieg werden wir allemal finden."
In Bayern hat Innenminister Herrmann von sich reden gemacht. Zunächst attackierte er den armen Michael vom Nockerberg wegen dessen Kritik an der Polizei: die Langsamkeit beim Einsatz in Ansbach, die vorschnelle Gewaltanwendung mancher Beamter. Da wir bei der laufenden Ai-Kampagne mit der etwas irreführenden Bezeichnung "Mehr Verantwortung bei der Polizei" (mit Absicht) nicht mitmachen, möchten wir an dieser Stelle nicht auf die Kritik des Bruder Barnabas eingehen, wohl aber auf die Attacke des Innenministers. Sie kam aus dem fernen Peking, wo man bei Einsätzen noch schneller und weit weniger zimperlich ist als in Bayern. Ob der Minister die Pekinger Polizei auch in Schutz genommen hat?
Besser geschwiegen hätte er am Jahrestag von Winnenden, als er vor einer Diskriminierung der bayerischen Sportschützen warnte und verfügte, dass sich die Behörden bei den Waffenbesitzern anmelden müsse, wenn sie deren Waffenschrank inspizieren wollen. Ob er damit gemeint hat, den Schützen müsste genügend Zeit gegeben werden, sich am Baumarkt noch schnell einen Waffenschrank zu besorgen, ist nicht ganz klar. Ein Zeitungskommentar meint dazu lapidar: "Joachim Herrmann erscheint eher als Lobbyist der Schützen denn als Wahrer der Sicherheit der Bürger."
Ernster wieder wird es, wenn man über das Bierzelt des Nockerberges hinausblickt. In Hamburg starb ein (angeblich) 17-jähriger Asylbewerber durch Selbstmord in Abschiebehaft, obwohl "alle vorgeschriebenen Abläufe (Betreuung, Gespräche mit Psychologen, Ärzten und Ausländerberaterin) eingehalten worden sind". "Der Fehler", fährt der Bericht fort, "liegt auch im System". Ein Minderjähriger gehört nicht in Haft sondern in die Obhut des Jugendamtes. Im Mai hat die Bundesregierung reagiert und die UN-Kinderkonvention ohne Einschränkungen anerkannt. In dieser Konvention ist eine Abschiebehaft für Minderjährige nur als "allerletztes Mittel" und für "die kürzest angemessene Frist" vorgesehen. Für David M. kam der Beschluss (vielleicht) zwei Monate zu spät.
Und ebenfalls zum Heulen ist der Religionskrieg zwischen Christen und Moslems, der Teile Nigerias erschüttert. Im März waren wieder die Christen an der Reihe; für die 120 Opfer gab es nicht einmal genügend Särge.
Im November waren dann einmal mehr die Christen im Irak Zielscheibe militanter Moslems. Während eines Gottesdienstes drang eine islamistische Gruppe in eine Kirche ein; bei der Befreiungsaktion wurden 58 Menschen getötet. Und in der Sylvesternacht in Alexandria/Ägypten veranstaltete ein Selbstmordattentäter nach der Mitternachtsmesse koptischer Christen ein Feuerwerk nach al-Qaida Art: 21 Tote. Es verdichtet sich zusehends der Eindruck, dass in manchen Ländern militante Moslems wieder in den Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen ziehen und Rache nehmen wollen für die blutige Erstürmung Jerusalems im ersten Kreuzzug. Aber, mit Verlaub, das war im Jahre 1099 und sollte doch schön langsam verjährt sein. "Die Zeit" kommentiert zutreffend: "Es droht die kulturelle Selbstverstümmelung der islamischen Welt durch die schrittweise Vernichtung des orientalischen Christentums."
Der Monat machte seinem Namen alle Ehre, die Nachrichten waren mehr als gemischt. Wikileaks veröffentlichte ein Video, das die Schießübungen eines amerikanischen Kampfhubschraubers auf unbeteiligte irakische Zivilisten zeigte, und eine israelische Journalistin erwartete eine Anklage wegen "Spionage", weil sie einem Kollegen Dokumente zugespielt hatte, die bewiesen, dass die Armee – entgegen einer Entscheidung des höchsten Gerichtes im Westjordanland - gezielt militante Palästinenser tötet, statt sie festzunehmen. Da konnte die Hamas natürlich nicht zurückstecken: Sie zeigte in einem professionell gemachten Kurzfilm ("computeranimierten Pixar-Streifen") die Suche eines Mannes nach seinem Sohn. Der Mann steht für Noam Schalit, und die Stimme seines Sohnes Gilad, eines seit vier Jahren verschleppten israelischen Soldaten, ist im Original aus dem Off zu hören. "Mutter und Vater, meine Freunde, ich grüße euch aus dem Gefängnis. Ich vermisse euch."
In den 70er Jahren wurde der Bundeswehr mit dem Slogan "Soldaten sind Mörder" ein böser Tiefschlag verabreicht. Auf die Besatzung des amerikanischen Kampfhubschraubers und die Spezialeinheiten der israelischen Armee trifft das leider zu. Am Karfreitag indessen, erwies es sich, dass Soldaten auch Opfer werden können.
Jetzt ist es aber an der Zeit, die (etwas) helleren Aprilnachrichten zu präsentieren. In Belgrad verurteilte das Parlament mit knapper Mehrheit, unter Auslassung des Wortes "Völkermord" – aber immerhin - das Massaker von Srebrenica. Und in Argentinien erwischte es nach 27 Jahren – aber immerhin - den ehemaligen Juntachef Reynaldo Bignone, der sich als Chef eines Folterzentrums einen traurigen Namen gemacht hatte. Und neu ist dabei, dass er seine 25-Jährige Haftstrafe nicht im gemütlichen Hausarrrest, sondern in einem leibhaftigen Gefängnis absitzen muss. Aber da er schon 82 Jahre alt ist, wird es schon bald zu einer Begnadigung (oder zu sonst was) kommen! Die wackeren "Großmütter der Plaza del Mayo", die immer noch ihre Runden drehen, waren dennoch zufrieden: "Die Gerechtigkeit kam spät, aber besser als nie." Zu Weihnachten bekam Bignone dann sogar noch Gesellschaft: der Staatschef zur Zeit der Militärdiktatur, Jorge Rafael Videla, erhielt lebenslänglich. Er war 1978 Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft, und Überlebende der Gefängnisse und Folterkammern erinnern sich, dass sie damals den Torjubel hörten.
Spät kam auch eine deutsche Jüdin wieder in ihre Vergangenheit zurück. Margot Friedländer, 88 Jahre alt, hat das KZ Theresienstadt überlebt, lange Zeit in New York gelebt und ist jetzt "zu ihren Freunden" nach Berlin zurückgekehrt. Sie hat sogar wieder die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen, aber wer könnte es ihr verdenken, wenn sie auf die Frage nach ihrem Vaterland mit aller Vorsicht antwortet: "Ich habe keine Heimat, ich habe ein Zuhause."? Wir wünschen ihr von Herzen, dass sie den Bignone noch lange überlebt.
Im Mai schlagen zwar die Bäume aus, aber wir ziehen unsere Krallen (fürs erste) einmal ein. Wir stellen mit Genugtuung fest, dass das Verbot von Baggyhosen die Menschenrechte eines 18-jährigen britischen Kleinkriminellen verletzen, ignorieren unseren eigenen Jahresbericht, obwohl er "weltweit einige Fortschritte bei Menschenrechten" verzeichnet (die Zulassung von Baggyhosen fällt eher nicht darunter) und stürzen uns auf die guten Nachrichten in Bayern und im Rest der Welt. In München haben sich die Koalitionspartner auf einen Kompromiss in der Asylpolitik geeinigt: Flüchtlingsfamilien dürfen schneller die Gemeinschaftsunterkünfte verlassen, "ein Schritt zu mehr Menschlichkeit und zu mehr Integration". In Illertissen darf eine Schülerin, die aus der Kirche ausgetreten ist, an einer katholischen Privatschule verbleiben, obwohl "das Vertrauensverhältnis zwar gestört, aber nicht zerrüttet sei" - was auch für unser Verhältnis zu Teilen des katholischen (und protestantischen) Klerus gilt. Als Nachtrag zu unseren Unkenrufen im Januar sei eine Analyse der US-Regierung erwähnt, wonach die Hälfte der Guantánamo Belegschaft keine Terrorverbindungen hat; ob sich das nach ihrem Aufenthalt ändern wird, sei wie gesagt dahingestellt.
Der absolute Renner des Wonnemonats aber war der Waffenstillstand, den die Hells Angels und die Bandidos in Hannover geschlossen haben. "Israelis und Palästinenser, schaut auf Hannover!"
An sich könnte es in Rosatönen weitergehen, denn in Südafrika ist Fußballweltmeisterschaft. Dem geschundenen Land haben wir den erfolgreichen Verlauf des Turniers von Herzen gegönnt, mehr als der chinesischen Regierung die Sommerspiele von 2008. Aber im "Einklang" mit den Vuvuzelas hat Amnesty die Harmonie ein wenig gestört und eine eigene Fußballmannschaft aufgestellt, deren Stars keine dicken Gehälter einstreichen und die mehr Probleme haben als Urinproben und Muskelfaserrisse
Den Geheimdiensten Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens (und deren Auftraggebern in den Regierungen) haben unsere Kollegen von Human Rights Watch in die trübe Suppe gespuckt. In ihrem Bericht "Ohne nachzufragen" kritisierte die Organisation die Praxis, Informationen zu nutzen, die mit großer Wahrscheinlichkeit unter Folter zustande kamen. Damit unterlaufe man das weltweite Folterverbot und "untergrabe seine eigenen Werte".
Im Juni kam es auch zu dem blutigen Militäreinsatz der Israelis gegen die Mavi Marmara, einem Schiff, das Hilfslieferungen in den Gaza-Streifen bringen sollte. In der Knesset hatte die Sache ein Nachspiel. Die arabische Abgeordnete Hanin Soabi, die auf dem Hilfskonvoi mitgefahren war, kam gar nicht zum Reden, als ihr schon ein lautstarkes "Verräterin, geh doch nach Gaza" entgegenschallte. Klingt uns Deutschen irgendwie vertraut in den Ohren!
Während Südafrika Fußball spielte, tagte in Ugandas Hauptstadt Kampala der Internationale Strafgerichtshof und verabschiedete einen Kompromiss zum Thema zwischenstaatlicher Aggression. Von jetzt an "müssen Präsidenten oder Armeeführer damit rechnen, wegen völkerrechtswidriger Invasionen, Bombardements oder Blockaden anderer Länder persönlich zur Verantwortung gezogen zu werden". Die Sache hat nur einen kleinen Haken: Staaten, die dem Tribunal nicht angehören, also etwa die USA, China und Russland, können nicht belangt werden. Deutschland sollte es sich also gut überlegen, die Kavallerie gegen Liechtenstein zu schicken, während die USA straflos ausgehen würden, wenn sie Kanada angriffen, um endlich in den Alleinbesitz der Niagarafälle zu gelangen. Ich glaube, jetzt reicht's für den Juni!
Zum 15. Jahrestag des Massakers von Srebrenica sei der Philosoph Edmund Burke zitiert: "Das einzig Notwendige für den Triumph des Bösen ist, dass die Guten nichts tun." Da das "etwas tun" für die Blauhelme vor Ort lebensgefährlich gewesen wäre, kann man es ihnen nicht ganz verdenken, dass sie auf den Heldentod verzichtet haben, aber muss man denn gleich mit den Tätern einen heben?
Mladic ist immer noch in Freiheit. Ob er gelesen hat, dass in Kambodscha erstmals ein Folterknecht des Rote-Khmer-Terrors verurteilt worden ist? Kaing Guek Eav hat 35 Jahre bekommen.
So streng werden die Burkaträgerinnen in Frankreich natürlich nicht bestraft. Der erste Gesetzesentwurf sah bei Verstößen eine Strafe von 150 Euro und/oder einen Kurs in Staatsbürgerkunde vor. Schon vor Verabschiedung eines Gesetzes wurde eine Frau mit einer Geldstrafe belegt, weil sie mit Burka Auto fuhr. Ihr Anwalt hatte argumentiert, sie sehe nicht weniger als ein Motorradfahrer mit Helm. Ai-Frankreich ist gegen das Gesetz, Ai-Landkreis Miesbach mehrheitlich eher dafür. Wir teilen die Position des Penzberger Imams Idriz ("Grüß Gott, Herr Imam"), der in einem Interview gesagt hat: "Burka und die totale Verschleierung des Gesichts widersprechen der Menschenwürde – und sind damit nach meinem Verständnis ein Verstoß gegen den Islam". Gell, do schaugst, Herr Sarrazin!
Im heißen Kuba brach nach Jahren der Eiszeit das Tauwetter aus. Noch im Februar hatte man eher gelassen zugesehen, wie sich der politische Häftling Orlando Zapata zu Tode gehungert hatte, jetzt sollte es unter Vermittlung der katholischen Kirche und des spanischen Außenministers zu einer Freilassung von 52 Dissidenten kommen. Kuba erhofft sich damit "einen intensiveren Dialog mit der EU", aber selbst die kubanischen Menschenrechtsgruppen haben nicht mit einer so großen Anzahl von Freilassungen gerechnet.
Frau Ferrer trägt ein Kleid, dessen Farbe in Havanna Symbolcharakter hat. Die "Frauen in Weiß" marschieren jeden Sonntag durch einen Stadtteil Havannas und demonstrieren für die Freilassung ihrer Männer.
In Den Haag kam es zu einem spektakulären Auftritt des Topmodels Naomi Campbell im Kriegsverbrecherprozess gegen den Ex-Präsidenten von Liberia, Charles Taylor. Taylor soll von Rebellen im Nachbarland Sierra Leone für seine Waffenlieferungen mit Rohdiamanten bezahlt worden sein und scheint im September 2007 ein Päckchen mit Diamanten (nicht mit Waffen) für Frau Campbell abgezweigt zu haben. Sie habe "die schmutzig aussehenden Steine" nächtlich und müde in ihrem Hotelzimmer in Empfang genommen, ohne zu wissen, wer ihr das Präsent gemacht habe. Die Schauspielerin Mia Farrow hingegen sagte aus, dass Naomi sehr wohl gewusst hätte, dass die Klunker nicht vom Osterhasen gekommen seien.
Nach dem Verbleib der Steine gefragt, hat Frau Campbell ausgesagt, sie habe sie am nächsten Morgen an ein südafrikanisches Kinderhilfswerk weitergegeben, aber da sie derzeit (oder damals) mit einem russischen Millionär liiert ist, wird sie den Verlust verschmerzen können.
In Miesbach steht auf dem Marktplatz ein wunderschöner Maibaum, und an einem sonnigen Samstagvormittag ruhen sich in den Cafés und Wirtshäusern die Leute vom Einkaufsstress aus. An diesem Samstag im September aber herrschte Großkampfstimmung, und ältere Miesbacher mögen sich daran erinnert haben, dass der Platz zur Nazizeit Adolf-Hitler-Platz hieß. Das Bündnis "Miesbach gegen Neonazis" demonstrierte gegen die "Kameradschaft Miesbach" und wollte damit auf die Machenschaften dieser Rechtsaußen hinweisen, deren Aufkleber und Internetauftritte an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig lassen und die, nach Aussagen der Veranstalter, auch vor massiveren Drohungen nicht zurückschrecken.
Es war schon ein gespenstischer Anblick, als aus einem Kleinbus Polizisten sprangen, im Laufschritt zum Marktplatz eilten und sich dort den Kameraden entgegenstellten, die gerade den Infostand der Veranstalter ins Visier nahmen. Gegen Mittag dürften etwa 150 Teilnehmer die Demo unterstützt haben, ohne dabei mit allen mitgeführten Transparenten zu sympathisieren. Die Kameradschaft erhielt Platzverweis und wurde, als sie sich "einen Weg zurück suchte", für die Dauer der Kundgebung auf dem Polizeirevier festgesetzt. Amnesty hat gegen diese Vorbeugehaft nicht protestiert.
Für den Vormonat hätten wir noch ein Foto parat gehabt, das man als Miniaturausgabe der Abu Ghraib Serie bezeichnen könnte. Eine israelische Ex-Soldatin hatte Fotos aus ihrer Militärzeit auf ihre Facebook-Seite gestellt, auf denen sie "prallstolz neben gefesselten Palästinensern posiert". Wir bieten Ihnen - zum Schulanfang und weil schon vom Fußball die Rede war, ein versöhnlicheres Bild.
Trotz des sich anbahnenden Wirtschaftsbooms wurde Deutschland letztendlich doch noch abgeschafft. Sarrazins Buch erreichte einen Spitzenplatz auf der Bestsellerliste, Angela Merkel und bayerische Politiker trugen den Multikulti wie eine ausgediente Vogelscheuche zu Grabe, und Präsident Wulff bekam für die Binsenwahrheit, dass "der Islam inzwischen auch zu Deutschland gehöre" mehr als nur sein Fett weg. Es herrschte Kreuzzugsstimmung – oder gar noch Schlimmeres.
Wir möchten auf zwei Ereignisse näher eingehen. In München fand vor "gediegenem" bürgerlichem Publikum eine Veranstaltung in der Reithalle statt, mit dem erklärten Ziel, "die Debatte um Thilo Sarrazin zu versachlichen". Dieser Schuss ging nach hinten los. Die Debattengegner Sarrazins wurden vom Publikum niedergemacht, und Sarrazin selbst ging nicht auf sachliche Einwände ein, sondern sonnte sich selbstzufrieden in der Gunst seiner Fans. Der Münchner Merkur sprach, im Titel etwas irreführend, von "Sarrazin im Hexenkessel", führte dann aber im Detail aus, wer diesen Hexenkessel angeheizt hatte, die Süddeutsche Zeitung spürte gar einen "Hauch von Sportpalast". Die Lust am "totalen Krieg" war dann auch in den Leserbriefen zu spüren, die nach der Rede des Bundespräsidenten losgelassen wurden. Eine Kostprobe möge genügen: "Eine solche Integration von Muslimen ist nur möglich, wenn diese den Islam hinter sich lassen …".
Weil er so viele Prügel bekommen hat, lassen wir dem Präsidenten das Schlusswort. In seiner Rede zitierte er aus Goethes "West-östlichem Diwan": "Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen."
Es ist wieder an der Zeit, die deutsche Nabelschau zu beenden. "Geh und sei ruhig" lautete die Botschaft der birmanischen Militärjunta, als sie die Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi aus dem Hausarrest entließ, wohlweislich erst nach den Parlamentswahlen, die so manipuliert wurden, dass das Militär das Sagen behielt und der Opposition nur einen Platz am Katzentisch verblieb. Doch schon die ersten Auftritte der Frau zeigten, dass sie sich den Mund nicht verbieten lässt. Bei Redaktionsschluss dieses Berichts war sie, eher wider Erwarten, noch nicht wieder weggesperrt.
"Geh und sei ruhig", hätte man allerdings auch dem amerikanischen Ex-Präsidenten George W. Bush empfehlen können, bevor er seine Memoiren veröffentlichte. Er tat darin Äußerungen, die "ihn einholen könnten, sollte beispielsweise ein Staatsanwalt sie lesen". Er habe persönlich die Erlaubnis gegeben, den al-Qaida Terroristen Khalid Scheich Mohammed einem Waterboarding zu unterziehen, der dann nach dem 187. Tauchversuch prompt gestanden hätte, Anschläge auf Big Ben, den Panamakanal und den Papst geplant zu haben. Chinesische Dissidenten können sich die Direktheit des Texaners nicht leisten. Wenn ihre Internetseite wieder einmal zensiert wird, schreiben sie "ich bin harmonisiert worden". Sie spielen damit ironisch auf die "harmonischen Gesellschaft" an, die von der Partei als Leitkultur propagiert wird. Da aber selbst das Wort "Harmonie" immer häufiger der Zensur zum Opfer fällt, schreiben sie es mit dem Schriftzeichen für "Flusskrebs".
Wir freuen uns, dass wir nicht in Gefahr laufen, dass dieser Jahresbericht "geflusskrebst" wird.
Bleiben wir bei China, solange sie uns noch nicht aufgekauft haben. Im Umgang mit den Minderheiten wird man immer rabiater. So wurde der Journalist Sun Hong-jie tot geprügelt, weil er Korruption und Zwangsumsiedlungen in der Uiguren-Provinz kritisiert hatte. Und den Dorfaktivisten Qian Yunhui, der gegen die Beschlagnahmung von Ackerland gekämpft hatte, stieß man unter einen Lastwagen und ließ ihn überrollen.
Pünktlich zu Weihnachten verschwand in der Mordhauptstadt der Welt Cuidad Juárez/Mexiko eine 28-järige Polizistin. Warum es das Verbrechen in die Schlagzeilen schaffte? Sie war die letzte Vertreterin ihres Standes in der Stadt. Die meisten ihrer Kollegen und Kolleginnen hatten wegen der Gewalt gekündigt.
In Bayern ging es im Dezember nicht um Leben und Tod, sondern um Rüben und Brot. Im Dauerkonflikt um Essenspakete haben einige Asylbewerber der Sozialministerin Christine Haderthauer ihre Rationen vor die Türe gekippt. Selbst wenn man weiß, dass (zumindest in der Vergangenheit) die Qualität der Lebensmittel einiges zu wünschen übrig ließ, ist das natürlich nicht die feine englische Art. Aber Frau Haderthauer hat mit ihrer forschen (und populistischen) Formulierungskunst auch nicht gerade zur Entschärfung beigetragen. Ihr ausladendes "Wer mit den Leistungen in Deutschland nicht zufrieden ist, kann jederzeit zurück. Er bekommt dafür die größtmögliche Unterstützung seitens der bayerischen Staatsregierung..." erinnert verdächtig an die Worte eines alpenländischen Herbergsliedes: "Ei, der Ort ist gut für euch; ihr braucht nicht viel. Da geht nur gleich." Und damit: Frohe Weihnachten!
Fürs Neue Jahr möge ein vorgreifender Rückblick am 31. Dezember 2011 stehen:
Ai-Mitglieder entern (im Allgemeinen) keine Schiffe, erklettern keine Kamine und ketten sich nicht an Bäume oder Schienen an. Da müssen wir anderen Organisationen das Feld überlassen. Wir sind eine Organisation des "steten Tropfens" und können nur hoffen (aber das mit einer gewissen Berechtigung), dass auch der "den Stein höhlt". In den Ai-Alltag umgesetzt heißt das: Wir schreiben Briefe, sammeln Unterschriften, verteilen Postkarten – und hoffen (aber das mit einer gewissen Berechtigung), dass beim Empfänger nicht alles sofort im Papierkorb landet.
In Südkorea drohte nach der Verurteilung eines bestialischen Serienmörders im Jahre 2004 die Stimmung in der Öffentlichkeit zugunsten einer "Wiederbelebung" der Todesstrafe zu kippen. Wir forderten die Regierung auf, das Hinrichtungsmoratorium beizubehalten und Schritte einzuleiten, die Todesstrafe endgültig abzuschaffen. Eine (indirekte) Antwort erhielten wir im März vom südkoreanischen Verfassungsgericht, das entschied, die Todesstrafe verstoße nicht gegen die Verfassung. Wir haben nicht herausgefunden, ob Yoo Young-Chul schon hingerichtet worden ist. Das Magazin todesstrafe.de hat ihn auf der aktuellsten Internetseite nach Nordkorea verfrachtet; da würde er auch gut hinpassen.
In den Wochen nach den Präsidentschaftswahlen kam es im Iran zu tumultartigen Protesten, großflächigen Schlägereien, zahlreichen Inhaftierungen und vereinzelten Hinrichtungen. Wir forderten ein Ende von Gewalt und Unterdrückung und schickten Unterschriftslisten an den iranischen Botschafter. Seine Exzellenz geruhte nicht zu antworten, obwohl wir am Ende immer "Hochachtungsvoll" und nicht "xxxxxxxxx" schreiben.
In der Zeit als Präsident Obama noch mit Guantánamo-Häftlingen handeln konnte, haben wir an einige MdB's (Ministerinnen, Staatssekretäre) appelliert, sich für die Aufnahme von unbelasteten Häftlingen einzusetzen. Drei von ihnen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Frau Aigner und Herr Stadler haben uns geantwortet und einhellig aber in unterschiedlicher Ausführlichkeit ausgeführt, dass die Federführung beim Innenminister liege. Besonders gefreut, wir sind halt auch nur Menschen, hat uns die persönliche Bemerkung von Herrn Stadler: "Ich habe mich darüber gefreut, … von der Amnesty Gruppe im Landkreis Miesbach wieder zu hören."
Im September trafen dann zwei ehemalige Häftlinge in Deutschland ein, ein Syrer und ein staatenloser Palästinenser. Der Kommentar des Innenministers gab zu verstehen, dass Menschlichkeit ihre Grenzen hat: "Mit der Aufnahme von drei Betroffenen habe Deutschland seinen humanitären Beitrag zur Schließung des Lagers geleistet." (Mit dem Häftling Nummer 3 meinte er Murat Kurnaz, der 2006 wieder nach Deutschland zurückkommen durfte.)
Wir erhielten Rückmeldungen von unserem ehemaligen Gruppensprecher Jürgen Zarusky – "eine Wohltat, den Bericht zu lesen, weil er eine klare … und zugleich abgewogene Haltung zu den Ereignissen einnimmt"-, von den MdB's Max Stadler und Klaus Barthel – "finde toll, was … Ihr auf die Beine stellt" –, vom treuen Leser Diakon Klaus Schießl – "überkommt mich beim Lesen die Fassungslosigkeit, dass Menschen so etwas Schreckliches begehen" -, und über einen Artikel in der Heimatzeitung, die ausführlich und wohlwollend berichtete, aber unsere Steilvorlage mit den "schlechten Erfahrungen bei öffentlichen Veranstaltungen" etwas zu begierig ausschlachtete.
Besonders gefreut hat uns die Äußerung eines ehemaligen Gruppenmitglieds: "Habe den Bericht am Rosenmontag gelesen. Wollte ursprünglich nur einen Blick reinwerfen, habe dann aber nicht mehr aufgehört." Da werden sich die Mainzer aber ärgern, wenn wir ihnen jetzt schon die Zuschauer wegnehmen.
Trotz dieser positiven Reaktionen werden wir uns ein Gedicht von Ghandi hinter die Ohren schreiben:
Wenn Du etwas zwei Jahre lang gemacht hast,
Betrachte es sorgfältig.
Wenn Du etwas drei Jahre lang gemacht hast,
Betrachte es misstrauisch.
Und wenn Du etwas fünf Jahre lang gemacht hast,
Mach' es anders.
Im Rahmen der Großkampagne "Mit Menschenrechten gegen Armut" wurde die Aktion "Mutter werden, ohne zu sterben" gestartet. Ziel dieser Aktion war es, auf das marode Gesundheitswesen in Burkina Faso/Westafrika hinzuweisen, wo mindestens fünf Frauen pro Tag während der Schwangerschaft oder der Geburt sterben. Wir haben an (fast) alle (Frauen) Gruppierungen in der Stadt und im weiteren Umfeld Appellpostkarten und Unterschriftslisten verteilt, auf denen Maßnahmen zur Förderung einer "sicheren und selbstbestimmten Sexualität für Frauen" – da sind wir dem Papst schon etliche Längen voraus - und zur "Verringerung der Müttersterblichkeit" gefordert wurden. Die Resonanz war erfreulich: Wir sind etwa 100 Postkarten losgeworden, und aus einer Hebammenpraxis kam die Rückmeldung, dass man über Informationen zu diesem Thema sehr dankbar sei. Wir hoffen von Herzen, dass alle Babies dieser Mütter inzwischen gesund auf die Welt gekommen sind.
Amnesty ist bei dieser Aktion sehr konkret geworden und hat eine "Karawane der Hoffnung" durch 10 Städte des Landes geschickt. Die Karawane, die über die Anliegen der Aktion informieren und zu Veränderungen ermutigen wollte, scheint ein großer Erfolg gewesen zu sein, was sicher auch darauf zurückzuführen ist, dass neben Mitarbeitern der Londoner Zentrale auch Mitglieder von Ai-Burkina Faso mit auf Tournee gingen.
Wir wollen aber nicht verschweigen, dass im Amnesty-Journal ein Leserbrief erschien, der die Aktion in einem anderen Lichte sah. Er erwähnte lokale Initiativen in Burkina Faso, die sich weigerten, mit Ai zusammenzuarbeiten, weil die Berichterstattung der Organisation den Eindruck vermittle, "die Regierung sei ein menschenverachtendes Regime" – und nicht einfach ein armes Land, das sich den Aufbau eines soliden Gesundheitssystems nicht leisten könne.
Nichtsdestotrotz hat die Aktion erste Erfolge erzielt. Der Präsident sagte bei einem Treffen mit Ai zu, dass der Staat künftig "die Kosten für Geburtshilfe und Notfallversorgung zu 100% übernehmen würde", und zwei Ministerien haben eine Aufklärungskampagne zur Familienplanung ins Leben gerufen. Allzu sehr scheint sich Ai also nicht ins Fettnäpfchen gesetzt zu haben.
Genauso wenig wie wir in Miesbach, als wir mit einer Plakataktion zum Muttertag im Mai gleich noch einen draufgesattelt haben. Der Aufkleber "Muttertag in Afrika – Totemüttertag" sollte durchaus provokativ klingen, hat aber, unseres Wissens, hierzulande niemand verstört.
Jetzt schon zum 5. Mal waren wir eingeladen worden, den Schülerinnen und Schüler im Rahmen der Unterrichtseinheit "Ethik in der Pflege" die Menschenrechte und die Arbeit von Ai näher zu bringen. Dass diese Veranstaltung inzwischen zum "Heimspiel" geworden ist, liegt neben dem Engagement der Leiterin Frau Singer und dem Interesse des Publikums auch daran, dass wir Gruppenmitglieder haben, die selber vom Fach sind. Wir erteilen ihnen das Wort:
"Das Interesse stieg merklich an, als wir allgemein umschwenkten und über die Idee der Menschenrechte zu berichten begannen. Es war deutlich, dass das Thema im Unterricht schon angeschnitten worden war. Schamlos nutzten wir die erwachte Aufmerksamkeit aus und setzte nun die schockierenden Bilder des … Films über Säureattentate in Bangladesch (und deren Behandlung) ein." Und weiter: "Die Schüler … haben alle brav Karten genommen und unsere Unterschriftslisten unterschrieben." Und unser Fazit, passend im Pflegejargon: "Auftrag erfüllt, Patient lebt."
Ehe wir unseren Auftritt kommentieren, ein Auszug aus dem Leitartikel der Süddeutschen Zeitung zum 1. Mai:
"Gewerkschaften gelten nicht wirklich als chic. Egal wie die Marktplätze an diesem Samstag gefüllt sein mögen: die allermeisten Menschen dürften die Teilnahme an der Maikundgebung ungefähr so ernsthaft erwägen wie den Gedanken, am Buß- und Bettag büßen und beten zu gehen. Schön finden die Leute den 1. Mai, weil er überall ein Feiertag ist, anders als dieser protestantische Mittwoch im November."
Nun wir gingen hin, zum einen weil "unschicke" Organisationen zusammenhalten müssen, zum anderen, weil wir mit Mansour Ossanlu einen iranischen Gewerkschaftler betreuen. Wir waren mehr als willkommen: Der Vorsitzende des Ortskartells Rudi Fertl, dem Gruppensprecher seit den gemeinsamen Tagen in der katholischen Jugend verbunden, begrüßte uns herzlich, der Referent Ludwig Wörner ("der einzige Landtagsabgeordnete aus dem Arbeitermilieu") erwähnte uns mit Wohlwollen, und man erteilte uns sogar das Wort, um unseren "Fall" vorzustellen. Wir erhielten zwar nur 14 Unterschriften, aber die 50 Briefe riss man uns geradezu aus den Händen. "Materialmangel" – so etwas haben wir schon lange nicht mehr erlebt. Deshalb wird uns niemand verdenken, dass wir das Lied "Brüder, zur Sonne zur Freiheit" lautstark mitgesungen haben. Wir haben dabei auch an Ossanlu gedacht, dem die Solidarität der Gewerkschaftler und unsere Aktionen bisher nicht greifbar geholfen haben.
Obwohl wir von der Kreisvorsitzenden Christine Negele eingangs erwähnt wurden, haben wir nur wenige Briefe abgesetzt. Da werden sich einige gedacht haben: "Was wollen denn die schon wieder? Waren doch erst letztes Jahr da." Aber da sind wir wie die Sternsinger. Jedes Jahr ist ein Neues Jahr.
Wir hatten uns angeboten, auf der Agora/Marktplatz in der Messehalle eine Zweistundenschicht am Infostand zu schieben. Der Empfang für die "Landeier" und die Reaktion auf unseren Einsatz von Seiten der hauptstädtischen "Parteigenossen" waren, sagen wir mal, "ambivalent". Einige von ihnen haben uns freundlich begrüßt und in die Arbeit eingewiesen, aber es gab auch andere, die uns nicht so recht zutrauten, einen Infostand betreuen zu können und uns deshalb noch eine halbe Stunde unter Aufsicht stellten. (Fußnote: Dabei haben einige von uns schon Infostände gemacht, als einige von ihnen noch in den Windeln lagen.) Und dann gab es noch einen kleinen Nachtreter im Bezirksrundbrief, bei dem wir den Eindruck hatten, dass wir (mit)gemeint waren, als man anmerkte, dass man "einen Ai-Anstecker tragen, Rucksäcke und Jacken unterm Stand verstecken und lieber das Gespräch mit den Standbesuchern als mit den Kollegen suchen sollte".
Ganz so blöd scheinen wir uns aber nicht angestellt zu haben, denn wir hatten den ultimativen Infostandkick zu verzeichnen. Die Leute machten keinen Bogen um den Stand; viele steuerten ihn sogar an, ohne dass wir sie angesprochen hätten. Die Postkarten gingen weg wie die warmen Semmeln, und allein "Gott, der Herr, hat sie gezählet". Es war ein echtes Auftankerlebnis vor dem nächsten Infostand auf dem Marktplatz in Miesbach.
Am Abend nahmen wir noch am Politischen Nachtgebet teil, das die "Menschen in Abschiebehaft" zum Thema hatte und bei dem neben Monika Lüke, Generalsekretärin von Ai und Susanne Breit-Kessler, Regionalbischöfin von München-Oberbayern auch Hubert Heinhold von Pro Asyl (und Ai-Lk Miesbach) mitwirkte. Das Lied "Da wohnt ein Sehnen tief in uns" sangen wir von Herzen mit. Wir waren rechtschaffen müde und sehnten uns – nach dem Bett.
Im Rahmen der Kampagne "Wohnen in Würde" haben wir die Bürgermeister des Landkreises angeschrieben mit der Bitte, einen Brief an ihren Kollegen in Csíkszereda/Rumänien abzusenden und darin die unerträgliche Situation einer Gruppe von Roma anzusprechen, die in seiner Stadt Opfer einer widerrechtlichen Zwangsräumung geworden waren und in die Sperrzone einer Kläranlage umgesiedelt wurden.
Ach, hätten wir doch besser geschwiegen! Die Bürgermeister jedenfalls scheinen geschwiegen zu haben. Nur ein einziger fand es die Mühe wert, uns überhaupt zu antworten. Er finde die Situation "sehr bedrückend", könne aber "als öffentlich-rechtliche Körperschaft dazu keine offizielle Stellungnahme abgeben". Dabei wären wir auch mit einer inoffiziellen Stellungnahme zufrieden gewesen. Im November haben wir dann noch bei zwei anderen Bürgermeistern nachgehakt. Der eine von ihnen begrüßte die Aktion, möchte sich aber "nicht in die Belange eines Kollegen einmischen"; der andere deutet an, dass unsere Post wohl im Vorzimmer hängen geblieben ist. ("Die Karte liegt bestimmt irgendwo.") Ob die Bürgermeister bei ihren Kollegen auch so zurückhaltend sind, wenn einer im Begriffe ist, ihnen einen Großbetrieb abzuwerben?
Verworfen haben wir jedenfalls die Überlegung, die Verbände der Sinti und Roma in Deutschland anzuschreiben, und sie auf geeignete Winterstellplätze im Landkreis hinzuweisen. Wir sind ja nicht so!
Mit großer Freude hingegen haben wir registriert, dass wir bei der Geburtstagsfeier des Kinderschutzbundes mit bei den "nicht konkurrierenden Partnerorganisationen" erwähnt wurden.
Wir hatten den Standort (aber nicht unseren Standpunkt) gewechselt, um eine Stunde verlängert, um nicht nur die Einkäufer sondern auch die Gastronomiekundschaft anzusprechen und als Blickfang zwei gefesselte und verkrümmte Schaufensterpuppen an den Straßenrand gelegt, die zu unserem Thema "Folter im Iran" hinführen sollten. Dazu sammelten wir Unterschriften und verteilten Briefe und Postkarten für den Menschenrechtler Emadeddin Baghi, der sich im Iran für die Rechte von Gefangenen einsetzt, (also gewissermaßen, aber in ausgesetzterer Position, Ai-Kollege ist), für den Studentenführer Majid Tavakoli, der nach einer Demonstration gegen die Wahlfälschungen verhaftet worden ist und für die Journalistin Hengameh Shahidi, die einen der Gegenkandidaten von Ahmadinedschad in Frauenrechtsfragen beraten hatte und die schon die Odyssee von Verhaftung, Folter, Scheinhinrichtung, Freilassung und Wiederverhaftung durchgemacht hat.
Die Schaufensterpuppen taten bei einigen Leuten ihre Wirkung, u. a. bei einem kleinen Mädchen, dem die Mutter einfühlsam erklärte, dass "die Puppen Leute darstellten, die böse misshandelt wurden". Vom Absatz her wurde es ein eher kleiner "Kirchentag": Wir erhielten etwa 40 Unterschriften und wurden etwa 20 Briefe und Karten los. Aber die Berichte unserer Standbetreuer(innen) haben in der Vergangenheit schon resignierter geklungen:
"Wir haben 10 Postkarten und zwei Briefe an den Mann/die Frau gebracht. Dass wir die Briefmarken schon dabei hatten, war sehr hilfreich. Unterschriften haben wir mehr bekommen." Und weiter: "Schönes Wetter, wenig Passanten, aber am Stand war Einiges los. Wir haben sogar ein Buch verkauft, was schon lange nicht mehr passiert ist."
Wir möchten es an dieser Stelle nicht versäumen, der Firma Thoba für die Überlassung der Schaufensterpuppen zu danken.
Wir hatten unsere Zelte schon abgebaut, als uns am Nachmittag eine Mail erreichte, die uns darüber informierte, dass Emadeddin Baghi drei Tage zuvor freigelassen worden war – freilich nur bis zum Prozess im Juli. Der Miesbacher Merkur hat unsere Erfolgsmeldung unter dem Titel "Gute Nachricht aus dem Iran" augenfällig und postwendend veröffentlicht. Wie zu erwarten war, wurde Baghi im September doch noch verurteilt: 6 Jahre wegen eines Interviews. Im gleichen Monat sorgte Präsident Ahmadinedschad erneut für einen Eklat bei den Vereinten Nationen in New York. Er unterstellte, dass die USA "die Attacken vom 11. September selbst inszeniert haben könnten". Seine (brutalst mögliche) Bestrafung erfolgte auf dem Fuß: Die Vertreter von 33 Nationen verließen unter Protest den Saal.
Der Einladung des türkisch-islamischen Kulturvereins war eine bemerkenswerte Initiative ihres Vorsitzenden Herrn Kaynak vorausgegangen. Auf seine Anregung hin hatte die Stadt einige Vereine eingeladen, die vor türkischen Jugendlichen (lauter Buben!) über ihre Arbeit berichten sollten. Ziel der Veranstaltung war es, diese Jugendlichen zur Mitarbeit zu ermutigen. Obwohl uns bewusst ist, dass wir im Vergleich zu Feuerwehr, Wasserwacht, Rotes Kreuz und Sportvereinen die schlechteren Karten haben – aber das nicht nur bei türkischen Jugendlichen – waren wir mit von der Partie.
Bei strahlendem Sommerwetter bauten wir dann 14 Tage später unseren Infostand an der Moschee auf und hofften auf zahlreiche Bekehrungen – zu Ai wohlgemerkt, nicht zum Christentum. Gleich zu Beginn ergab sich ein munteres Gespräch mit zwei Schülern und Standnachbarn und ihrem Vater (in einwandfreier Bundlederhosen!). Sie hatten schon von Ai gehört und nahmen unser Flugblatt mit – auf Deutsch nicht auf Türkisch. Im weiteren Verlauf überwog das Feiern, das Interesse war eher "mäßig". Aber ein Standbesucher wollte wissen, wie Ai zur Steinigung von Frauen stünde. War nicht schwierig zu beantworten.
Ein Gruppenmitglied machte einen Vorschlag, der durchaus zu bedenken wäre: "Falls wir nächstes Jahr wieder eine Einladung bekommen, einfach hingehen und mitfeiern und keinen Stand aufbauen". Man kann ja dazu noch einen "Ai-Anstecker" tragen. Dann können wir uns bei den Münchnern einschmeicheln.
Im Vorfeld ein Gruselschocker: Wir merkten erst kurz (4 Wochen) vor Konzertbeginn, dass unser erster Termin mit dem Endspiel der Fußballweltmeisterschaft zusammengefallen wäre. Den Gedanken, während des Konzerts ein public viewing anzubieten, haben wir umgehend verworfen. So g'scheit war'n mir "fei scho".
Womit wir bei der Gruppe angelangt sind, die mit ihrer "alpinen Weltmusik zwischen Landler und Funk" angesiedelt ist, aber eigentlich überall zuhause ist. Der Miesbacher Merkur schrieb dazu:
"Da wurden Ohrwürmer wie der "Schneeballwalzer" zum "Schmollzer" verfremdet, altbekannte Volkslieder wie 'Deandl mogst an Edelknaben' neu eingewandet und zungenbrecherische Jodler ganz ohne gebrochene Zunge gemeistert."
Der Gruppe hat es sichtlich Spaß gemacht, und den 70 Besuchern ebenfalls. Zwischenrein haben wir einige Kurztexte gelesen, die die Themen Fremdsein, Bayernsterben, Emanzipation, Selbstbewusstsein und Widerstand humorvoll (und damit zur Musik passend) aufgriffen und dazu beitrugen, dass dieser Abend zu einer der gelungensten Benefizveranstaltungen von Ai-Lk Miesbach wurde.
Da wir die Musik nicht in Papierform gießen können, zumindest eine Kostprobe von den Texten, die auch veranschaulichen soll, welchem Stress das nichtbajuwarische Publikum an diesem Abend ausgesetzt war:
Josef Fendl: Hätt mehr gebn müassn davo!
Dös is domois unterm Hitler gwesn:
Do hot der Ortsgruppenleiter ogschafft,
dass an Führers Geburtstag
olle im Dorf beflaggn müassetn.
Der Hirtreiter hot dös a ghört.
Er hot an Pappadeckl gnumma,
hotn an d'Haustür ghengt
und hot draufgschrien:
Wir flacken im Bett.
Wir bedanken uns an erster Stelle bei der Gruppe "Fei Scho" für ihren fulminanten Auftritt, dann aber auch bei den engagierten Vorleserinnen, bei der evangelischen Kirchengemeinde fürs das Gastrecht und beim Buch am Markt für den Billettentwurf und den Vorverkauf.
Einige Wochen später hat uns ein Mitglied der Gruppe mitgeteilt, dass der Abend in Miesbach von der Resonanz her auch für "Fei Scho" ein besonderer Auftritt gewesen sei. Da gehört es sich dann fei scho, auch das Publikum in unseren Dank mit ein zu beziehen.
Wir bewegten uns weiter auf Wolke 7, zumindest was die Zahl der Veranstaltungsbesucher (65) anbelangte. Das kam nicht von ungefähr: Zum einen hatten Frauenforum und VHS in diesem Jahr das Thema Weltethos behandelt, zum anderen hatten wir eine (illustre) Schar von Mitveranstaltern gewonnen, wie sie dem eindrucksvollen Hinweisplakat entnehmen können.
Ausschlaggebend aber war, und das hat uns eher verstört, dass die Themenwahl auf die Zeitläufe passte wie die Faust aufs Auge – und das ist auch wörtlich zu nehmen. Herrn Sarrazin würden wir nicht noch einmal erwähnen, hätte nicht sein Buch eine Lawine von Ereignissen und Umfragen losgetreten, die den Eindruck vermittelten, die Türken "stünden ein drittes Mal vor Wien". Da war von deutschen Schülern die Rede, die von türkischen Rowdies gemobbt wurden, da gab es im Länderspiel (türkische) Pfiffe für Mesut Özil, da wurde gefordert, die Religionsausübung von Moslems einzuschränken, da wurde der Eindruck vermittelt, dass das Gesetz zur Einführung der Scharia bereits in erster Lesung den Bundestag passiert hätte.
Auf den Referenten Dr. Stefan Jakob Wimmer wartete eine Aufgabe, würdig des Riesen Atlas, der in der griechischen Mythologie die Welt zu stemmen hatte. Es sei vorweggenommen, dass er sehr kurzfristig einspringen musste, da der vorgesehene Referent erkrankt war. Umso mehr gebührt ihm unser Dank für die spontane Zusage und unser Respekt für die Souveränität, mit der er sich aus der Affäre zog. Er brachte auch alle Voraussetzungen dafür mit: Verheiratet mit einer Palästinenserin und durch seine Lehrtätigkeit in allen drei monotheistischen Religionen beheimatet. Es führte hier zu weit, auf alle Themen einzugehen, aber was bei denen, die es hören wollten, am stärksten im Gedächtnis blieb, war die (mit weitgehend unbekannten Dokumenten untermauerte) Zuversicht, dass der Islam in Europa auch auf friedlichem Wege eine Heimat finden kann. Auf die erwähnten "Zeitläufe" angesprochen nahm er sich aber kein Blatt vor den Mund: "Islamfeindlichkeit ist derzeit die stärkste extremistische Kraft in Deutschland."
Damit war schon vorgegeben, dass die Diskussion eher konfrontativ verlaufen würde. Man zitierte leidenschaftlich den Koran (und die Bibel), um auf Defizite bei den Menschenrechten hinzuweisen, man stritt sich um die Begriffe Unantastbarkeit und Zeitgebundenheit der Wortlaute, man versuchte, zwischen Kultur und Religion zu unterscheiden. Erfreulich war, dass im Publikum auch Muslime vertreten waren, die sich selbstbewusst zu Wort meldeten (auch die Frauen!), und dass die Meinungen zwar aufeinander prallten aber nicht ausufernd am Thema vorbeiliefen. Dass sich die "Integristen" zurückhielten, mag damit zu tun gehabt haben, dass sie den Referenten auf ihrer Seite wussten – und dass eine ihrer Vertreterinnen nicht mehr zu Worte kam. ("Entschuldigung!")
Die Kritik an diesem Abend kam ebenfalls aus entgegengesetzten Richtungen: die Atmosphäre wurde als "feindselig" empfunden, der Referent als "islamfreundlich" bezeichnet. Die Veranstalter hingegen waren sich einig: Es wurde ein wichtiges Gegengewicht gesetzt zu den Hysterieanfällen der Vorwochen.
Interesse, Engagement und Kritik des Publikums aber machten klar, dass auf das Netzwerk Integration, das schon so gute Arbeit leistet, noch viel derselben wartet und dass das Gespräch und die Begegnungen im Alltag unbedingt fortgesetzt werden müssen. Die VHS hat folgerichtig Herrn Dr. Wimmer am 10. Mai 2011 zu einem weiteren Vortrag eingeladen. Wir treten gerne als Mitveranstalter auf.
Schon beim Plakatieren merkten wir, dass das Thema für einige Leute kein angemessenes Thema für die Adventszeit war. An einigen Stellen wurde das Ankündigungsplakat mit der Galgenschlinge gar nicht angebracht, an einer Stelle wurde es nach drei Tagen wieder entfernt, während die Plakate, die ein Eishockeyspiel und einen Bauernschwank in drei Akten ankündigten, unangetastet blieben. Eher ein Grund zum Schmunzeln war das friedliche Nebeneinander unseres Plakates mit der Ankündigung eines Vortrags über "Patientenverfügung", die im Untertitel die Frage aufwarf: "Wer gestaltet mein Lebensende? Wie kann ich mitgestalten?"
Bei der Vernissage waren wir weitgehend unter uns – aber das "bei leichter Musik". Es hatten sich etwa
25 Besucher eingefunden – Gruppenmitglieder, Musiker, Künstler und "alte Kameraden", denen wir an dieser Stelle herzlich für ihre Treue danken. Wer aber im Nachhinein den Artikel im Gelben Blatt gelesen hat, wird bedauern, dass er/sie nicht gekommen ist. Wir haben nämlich eine sehr eindrucksvolle Eröffnung hingekriegt, besser gesagt, die richtigen Leute dafür eingeladen. Das war zum einen die A-Capella-Gruppe "Quintensprung", die – so das Gelbe Blatt
"einen wunderbaren Ausgleich (zum todernsten Thema) boten, Lebensfreude pur, Leichtigkeit und Harmonie, Witz und immer eine Überraschung".
Das lag zum anderen daran, dass wir Frau Milazzo und Herrn Klee dazu bringen konnten, ein paar Worte zu ihren Ausstellungsstücken "Irreversible, Der Gebrochene, Die Häutung des Marsyas" zu sagen, was Künstler i. a. nicht so gerne tun, wofür das Publikum aber sehr dankbar war, weil ihm eine zusätzliche Bedeutungsdimension erschlossen wurde. Dazu noch einmal der Zeitungsartikel:
"Ihre (der Künstler) Interpretationen gehen weit über eine vordergründige Anklage hinaus – sie zeigen die ganze Bedrängnis des Menschen, aber auch seine Sehnsucht nach Erlösung und Sinnfindung."
Milazzo: "Der Gebrochene"
Klee: "Die Häutung des Marsyas"
Unser Beitrag bestand aus einem Überblick über Todesstrafe in Deutschland, den USA, Saudi-Arabien und China, aus Beispielen für ihre Grausamkeit und Absurdität, die Geschichte ihrer Abschaffung und dem "eindringliche Appell", diesen Schandfleck für die Menschheit auf Dauer zu beseitigen, denn "jedes Leben ist für Lebende kostbar".
Um einen bescheidenen Beitrag dazu zu leisten, haben wir uns den "Wackelstaat" Ghana herausgesucht, wo derzeit darüber beraten wird, das Hinrichtungsmoratorium zu beenden – und die Todesstrafe endgültig abzuschaffen. Wir erhielten mehrere Unterschriften und wurden 20 Postkarten los.
Das Konzept für die Ausstellung war doppelköpfig: Der dokumentarische Teil wurde durch 15 Tafeln mit je einem Fotomotiv, einem Argument gegen die Todesstrafe und dem Zitat einer bekannten Persönlichkeit abgedeckt, die "Tiefenwirkung" durch die Plastiken von Frau Milazzo und die Bilder der Herren Klee, Mittmann und Skudlik (dem Gründer von Ai-Miesbach) erzielt. Wir danken den Künstlern für ihre Mitwirkung, den Herren Mittmann, Fischer und Komm für das Konzept und die Hängung, der Gruppe Quintensprung für die Umrahmung der Vernissage und der Stadt und dem Büchereiteam von Frau Bott für die Beherbergung.
Unser Dank gebührt aber auch der Redaktion des Gelben Blatts, die der Ausstellung in einer Zeit der Vorweihnachtsfeiern eine halbe Seite (!)gewidmet hat und darüber, wie schon die Kostproben zeigten, in einem Tonfall berichtet hat, die uns (fast) den Kamm schwellen ließ. Und nicht zuletzt bedanken wir uns bei den (mindestens) vier Schulklassen, die die Ausstellung besucht haben. Und weil der Kampf gegen die Todesstrafe auch noch die nächsten Generationen beschäftigen wird, sei das Schlusswort einer Realschülerin erteilt, die begründet, warum sie sich ein bestimmtes Bild ausgesucht hat:
"Auf dem Bild sieht man drei Füße von Männern, die aufgehängt wurden. Ich finde es nicht richtig, dass andere Menschen entscheiden dürfen, ob ein Mensch leben darf oder nicht! Dieses Bild sieht aus, als wäre das Leben von Menschen fast nichts wert."
Vorsorglich hatten einige von uns zur Ausstellungseröffnung Campingliegen mitgebracht, denn die nächste Veranstaltung fand am nächsten Tag und nur in 50 Meter Entfernung statt. Miesbach erstrahlte im Lichterglanz, Unmengen von Besuchern drängten sich durch die Straßen und Gassen und hauten sich die ausgehungerten Mägen voll. Über den Schaukästen am Rathaus aber hing ein Transparent, diesmal hell beleuchtet: "Miesbach sagt Ja zur Lebensfreude, aber Nein zur Todesstrafe." Die Stadt nahm nämlich zum dritten Mal an der Aktion "Städte für das Leben, Städte gegen die Todesstrafe" teil. Für die Lebensfreude lieferten wir heiße Crêpes und kalten Cidre, gegen die Todesstrafe verteilten wir noch einmal Postkarten nach Ghana. Die Crêpes haben sich auch heuer wieder gut verkauft, aber bei den Postkarten ist geradezu ein kleines Wunder passiert: Sie sind uns ausgegangen – und das bei einem Vorrat von 120 Stück. Die Erklärung: Youth sells. Deshalb lassen wir unsere Nachwuchsmannschaft selber zu Worte kommen:
"Ich fand den Lichterglanz toll. Ich habe … zuerst Postkarten verteilt. Das ging echt ziemlich gut und schnell. Viele Leute fanden es eine tolle Sache und waren begeistert. … Ich hatte aber auch zwei Leute, die gemeint haben, in Deutschland sollte man die Todesstrafe wieder einführen." Und weiter: "Bei Gesprächen mit den Leuten fiel mir auf, dass Amnesty selbst bei jungen Leuten einen relativ hohen Bekanntschaftsgrad hat. … Die Verteilung der Postkarten lief, entgegen anfänglicher Zweifel, gut. … Erschreckend war die hohe Zahl, besonders bei Leuten höheren Alters, die ihren Ärger über Amnesty damit begründeten, dass sie für eine Wiedereinführung der Todesstrafe in Deutschland seien."
In dem Volkslied "Auf du junger Wandersmann" brechen die jungen Leute in die weite Welt auf, während die älteren Leute "hinter dem Ofen" sitzen bleiben. Respekt an diesem Abend gebührte aber beiden Gruppen: den jungen Postkartenverteilern, weil sie ihre Aufgabe mit Bravour (und wie lang gediente Profis) erledigten, den älteren Mitgliedern, weil sie nicht untätig hinterm Ofen/den Crêpespfannen hockten, sondern drei Stunden Dauerstress ausgesetzt waren. Und das alles bei Temperaturen, die dem ersten Teil des Abendmottos "Träume aus Eis und Farben" alle Ehre gemacht haben. Es gibt bei Ai (bisher) noch keinen Verdienstorden; den hätten sie sich sonst redlich verdient. Aber immerhin hieß es im Großartikel über den "Lichterglanz": "Auch die Ortsgruppe von Amnesty International war vertreten."
Vertreten waren wir natürlich auch beim dem Miesbacher Adventszauber und das mit einem Angebot, das für drei Verkaufsstände gereicht hätte: Keramik aus Miesbach und München, Schnitzereien aus dem Grödnertal, Holzarbeiten von der Berufsschule, Textilien aus Fischbachau, Socken aus Holzkirchen. Und dazu zwei originelle Krippenställe.
Leider blieben wir auf diesem Angebot weitgehend sitzen/bzw. stehen, denn die Besucher praktizierten, vom Glühweinverbrauch einmal abgesehen, schon jetzt den Konsumverzicht, den die Bischöfe erst für Weihnachten eingefordert hatten. So kam es zu einem Umsatzeinbruch, der nur durch Mitleidskäufe der Gruppenmitglieder, unsere "Filiale" in Fischbachau und einen Großeinkauf in der Nachmarktphase in erträglichen Grenzen gehalten wurde.
Was uns aber nicht hindern soll, denen zu danken, die uns dieses reichhaltige Angebot verschafft haben und es uns (und der Welt) ersparten, eigene Bastelarbeiten zu produzieren. Unser Dank gilt den Damen Schreiber, Schmalhofer-Jacobi, Klatt und van de Kooij, den Herren Haller, Schmucker, Kainz, Six und Bracher, den Schülern der Berufsschule und dem Fischbachauer Missionskreis. Wenn im Landkreis einmal ein Parasitenpreis verliehen werden sollten, sind wir allererste Anwärter.
Und unserer arbeitslosen Standbesatzung sei zum Trost ein Spruch aus dem Talmud mitgegeben:
Hast du gehofft
Und deine Erwartung
Ist nicht
In Erfüllung gegangen,
So hoffe nur weiter.
Den Tag der Menschenrechte begehen wir traditionsgemäß an den Türen der evangelischen und katholischen Kirche. Wir haben noch einmal Postkarten für die Roma in Rumänien und für den Studentenführer Majid Tavakolli im Iran verteilt. Wir sind von den Gemeindeleitern (Pfarrerin Sergel-Kohls, Pfarrer Weingärtner) wohlwollend eingeführt worden und haben etwa 75 Postkarten und 50 Broschüren verteilt. Außerdem haben wir mit Genugtuung registriert, dass wir bei den Katholiken schon im Pfarrbrief angekündigt wurden und dass im Gottesdienst auch die Fürbitten auf den Tag der Menschenrechte ausgerichtet waren.
Eine alte Dame, die in Begleitung ihres Sohnes zur Kirche kam, wollte wissen, welche Karte er da mitgenommen habe. Als sie "Rumänien" hörte, meinte sie: "Rumänien – nein, da fahre ich nicht mit."
Wir beschließen das Ai-Jahr in Miesbach gerne mit einem Blick auf unseren Schaukasten vor dem Rathaus, schon weil uns das Gelegenheit gibt, der Stadt für die großzügige Überlassung desselben zu danken.
Thema war heuer (einmal mehr) die "Herberge": die verzweifelte Suche (Flüchtlingsdrama vor der Weihnachtsinsel/Australien), der angemaßte Besitz (Siedlungen im Westjordanland), die hartherzige Verweigerung (Festung Europa).
Mit Mansour Ossanlu, dem Ex-Vorsitzenden der Busfahrergewerkschaft in Teheran, der 2007 wegen "Aktivitäten gegen die nationale Sicherheit" und "Propaganda gegen das Regime" (mit diesen blumigen Umschreibungen wurden seine Kontakte zur internationalen Gewerkschaftsbewegung kriminalisiert), zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, sind wir trotz unserer Aktivitäten zum 1. Mai nicht weiter gekommen. Im März erschien über ihn ein langer Bericht im Infoblatt der Gewerkschaft Kirche und Diakonie, und Ende April schaffte er es sogar in den Leitartikel der Süddeutschen Zeitung, aber nicht aus dem Gefängnis heraus. Ganz im Gegenteil: Im August 2010 wurde er erneut vor Gericht gestellt und wegen "neuer Anklagepunkte" (hat wohl seine Suppe nicht artig ausgegessen!) zu einem zusätzlichen Jahr verurteilt.
Im Dezember 2010 war er, mit anderen Gewerkschaftlern, Ziel einer weltweiten Eilaktion. Aber wir werden wohl, wie bei anderen Iranfällen zuvor, erst nach seiner Freilassung erfahren, ob wir ihm helfen konnten und ob er überhaupt von unseren Briefaktionen erfahren hat. Aber "das würde den Herren im Iran so passen", wenn wir am 1. Mai 2011 bei den Gewerkschaftsfeiern nicht wieder auf der Matte stünden!
Obwohl es im Lande immer noch zu Massenvergewaltigungen von Frauen und Kindern kommt, mal durch Rebellen mal durch die Armee und bisweilen auch "in Sichtweite" der Blauhelme, wollen wir heuer bewusst die Scheuklappen anlegen und uns auf eine gute Nachricht konzentrieren. Frau Bihamba war von Ai adoptiert worden, weil sie in ihrer Eigenschaft als Koordinatorin eines "Frauennetzwerks gegen sexuelle Gewalt" zusammen mit ihren Töchtern massiven Drohungen seitens des Militärs ausgesetzt war. Im November erreichte uns folgende Mitteilung:
"Justine Masika wurde durch die vielen Briefe und Petitionen von Ai-Aktivisten aus aller Welt so erfolgreich vor ihren Verfolgern geschützt, dass sie seit etwa neun Monaten keine Drohungen mehr erhält. Die Einzelfallakte Justine Masika Bihamba wird zu Ende des Jahres 2010 offiziell geschlossen – aus den besten, den schönsten Gründen, die wir kennen."
Auch Frau Bihamba selbst hat sich bei Ai in bewegenden Worten bedankt:
"Das Engagement von Amnesty International im Kampf gegen die Verletzung von Menschenrechten veranlasst mich dazu, die Kerze an Sie weiterzureichen. Stehen Sie mir bei, indem Sie Amnesty unterstützen."
Ende gut – aber nicht alles gut! Denn ihr Foto zu veröffentlichen, trauen wir uns immer noch nicht.
Bei diesem Aktionsnetzwerk wirken weltweit rund 80.000 Personen mit, die in Fällen von drohender Hinrichtung, Anwendung der Folter oder willkürliche Verhaftung die Behörden der betroffenen Staaten mit Briefen, Faxen und Mails "zuschütten". In unserer Gruppe sind zwei Mitglieder mit dieser Arbeit befasst; sie haben 2010 an etwa 20 Eilaktionen teilgenommen. Erfreulicherweise gibt man sich bei Ai inzwischen große Mühe, die Erfolge dieser Aktionen herauszustellen. So konnte man in der Juniausgabe des Amnesty Journals in der Rubrik "Einsatz mit Erfolg" folgende Schlagzeilen lesen:
Politischer Gefangener erhält medizinische Versorgung (Vietnam)
Oppositionelle aus Haft entlassen (Iran)
Carlos Jorge Garay wieder bei seiner Familie (Peru)
Man könnte uns natürlich vorwerfen, dass wir diese Erfolge mit einem gewissen Tunnelblick sehen: Für die iranische Frauenrechtlerin Somayeh Rashidi, die man entlassen hat, sind vielleicht fünf andere Frauen im Gefängnis gelandet, aber in diesen drei Fällen haben wir helfen können. Und solange man keine besseren Rezepte hat, werden wir mit diesen Eilaktionen weitermachen (müssen). Schätzungen zufolge "führten von den 400 Eilaktionen des Jahres 2009 etwa 40% zum Erfolg.
Nicht helfen konnten wir im Falle von Martin Grossman, der am 17. Februar in Florida wegen Mordes hingerichtet wurde, obwohl ein Kriminalpsychologe festgestellt hatte, dass es begründet Zweifel gäbe, dass Grossman vorsätzlich gehandelt habe. Auch attestierte er ihm "eingeschränkte geistige Fähigkeiten". Auf unseren Appell erhielten wir eine Antwort von Gouverneur Charlie Christ, der die Hinrichtung mit der Schändlichkeit des Verbrechens und den "sorgfältig geplanten Versuchen, es zu vertuschen" rechtfertigte. Im Schlusssatz bedankte er sich, dass wir uns die Zeit genommen hatten, ihm zu schreiben. Eine Begnadigung wäre uns lieber gewesen, aber im sonnigen Florida geht man eher kaltherzig mit Verbrechern um, die die Rentner in ihrer Ruhe stören.
Wir konnten im vergangenen Jahr immerhin einen neuen Abonnenten unserer Monatsbriefe gewinnen. Wer sich elektronisch zugeschaltet hat, können wir nicht beurteilen. Um für diese Aktionsform zu werben, möchten wir sie noch einmal kurz vorstellen. Da sich nicht viel geändert hat, schreiben wir schamlos von unseren letzten Tätigkeitsberichten ab:
"Es handelt sich dabei um eine relativ einfache Möglichkeit, unsere Arbeit zu vervielfältigen. Sie würden pro Monat sechs vorgefertigte Briefe (drei davon an Botschaften in Berlin) bekommen, die in Fensterkuverts passen und nur noch unterschrieben und frankiert werden müssten. Man kann die Briefe auch elektronisch von unsere Homepage (www.amnesty-miesbach.de) abrufen und sie wegfaxen oder wegmailen, wobei zu vermuten ist, dass Mails weniger Chancen haben, gelesen zu werden, als die beiden Papierformen. Bei fremdsprachigen Briefen fügen wir selbstverständlich auf Deutsch das Hintergrundmaterial bei, damit sie nicht Ihr eigenes Todesurteil unterschreiben. Die Aktion hat eine Erfolgsquote von 33%. Wenn man aus der Ziffer Menschen macht, heißt das: Bei einem Drittel der Fälle wurden Haftstrafen reduziert oder erlassen, Todesurteile umgewandelt, Haftbedingungen verbessert oder Täter vor Gericht gestellt."
Auch hier ist zu verzeichnen, dass wir, mit leichter Verspätung aber immerhin, jetzt öfter eine Rückmeldung erhalten, was aus den "Fällen" geworden ist. So ergab eine Auswertung der Briefe gegen das Vergessen aus dem Jahre 2008, dass bei 17 von insgesamt 36 Fällen eine positive Entwicklung zu verzeichnen war. Das sind fast 50%! Unsere bisher genannte Erfolgsquote von 33% korrigieren wir mit Vergnügen.
Einer der Fälle war Bu Dongwei/China. Wegen seiner Zugehörigkeit zur "ketzerischen" Falun Gong Bewegung wurde er zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Nach zweieinviertel Jahren im Arbeitslager durfte er in die USA ausreisen. Drei Monate Haftverkürzung – kein durchschlagender Erfolg, könnte man meinen.
Aber nach seiner Freilassung schrieb er an Ai:
"Heute weiß ich, dass ich im Lager nicht alleine war. Obwohl ich keinen einzigen der Briefe erhielt, merkte ich, dass sich die Haltung der WärterInnen änderte. Wenn sie wissen, dass die Außenwelt Aktionen startet und sich um eine Person sorgt, verbessert sich die Situation für diese Person. Briefe können einen Unterschied machen."
Weniger Vergnügen bereitet uns dafür die allmonatliche "Ausbeute" in der katholischen Kirche. Meistens nehmen wir die 10 Briefe wieder mit, die wir ausgelegt haben und sind schon froh, wenn niemand einen Brief dazugelegt hat. Nur einmal, im November, fehlten drei Briefe: In der Kirche hatte ein Gottesdienst zum Seelsorgetag der Diözese stattgefunden. Wir können den drei Abnehmern versichern, dass sie auf diese Weise für drei "arme Seelen" Sorge getragen haben. Wir werden auch die evangelische Kirchengemeinde bitten, ob wir auch in ihrer Kirche wieder unsere Briefe auslegen dürfen. Dann können die beiden Konfessionen in einen edlen Wettstreit eintreten.
Wir können uns hier etwas kürzer fassen, weil wir einige davon schon im Kapitel "Das Ai-Jahr" erwähnt haben. Aber wenn Sie einige Seiten dieses Tätigkeitsberichtes übersprungen haben, was Ihnen bei dieser Länge nicht zu verdenken ist, "müssen Sie jetzt dran glauben". Mit diesem etwas dubiosem Wortspiel sind wir bei unserem ersten Schwerpunkt angelangt.
Durch unsere Mitarbeit an zwei (überaus aktiven) Ai-Arbeitsgruppen, sind wir für das Thema "Todesstrafe" besonders sensibilisiert worden. Aber es reicht bereits, wachen Auges durch die Medien zu streifen, um zu sehen, dass der Kampf gegen die Todesstrafe ein Gewinn- und Verlustspiel ist. Hier einige Schlagzeilen aus dem Jahre 2010: Uganda zieht Gesetz zur Einführung der Todesstrafe für Homosexualität zurück, China verhängt Todesstrafe gegen betrunkenen Todesfahrer, in Virginia wird zum ersten Mal seit 100 Jahren wieder eine Frau hingerichtet, bei einem deutschen Staatsbürger wird in Florida die Todesstrafe in lebenslänglich umgewandelt, Schweizer Bürgerinitiative fordert Wiedereinführung der Todesstrafe, Ghana möchte sie endgültig abschaffen, in Pakistan soll eine Christin wegen Blasphemie gehängt, im Iran eine Frau wegen Ehebruchs gesteinigt werden - wahrlich genügend Gründe, um das Thema wieder einmal unter die Leute zu bringen, und das nicht zuletzt deswegen, weil die Zustimmungsrate in Deutschland immer noch bei geschätzten 30% liegt. Dass sie aus der bayrischen Verfassung erst im Jahre 1998 getilgt wurde und in der hessischen Verfassung nach wie vor herumgeistert, sei nur als Kuriosität erwähnt.
Eine Kuriosität der makabren Art ist das Drama, das sich seit Juli im Iran abspielt. Sakineh Aschtiani wurde wegen Verwicklung in die Ermordung ihres Ehemannes zum Strang und später zu einer zehnjährigen Haftstrafe und wegen mehrfachen Ehebruchs zum Tod durch Steinigung verurteilt. Zwar ist es schon rein technisch unmöglich, alle drei Strafen zu vollstrecken, aber dass Frau Aschtiani derzeit noch zwischen Steinigung, Lokalterminen, Strang, Pressekonferenzen und Gefängnis hin und her pendelt, ist massiven internationalen Protesten zu verdanken, in deren Verlauf sich Carla Bruni, die Frau des französischen Präsidenten, von einer iranischen Zeitung die Berufsbezeichnung "Prostituierte" eingehandelt hat.
Der vorletzte Akt des Dramas spielte sich dann im November ab, und da haben uns wirklich die Augen getropft, vor Empörung aber auch vor Mitgefühl. Da schrieb die Basler Zeitung: "Hauptsache, irgendeine Frau wird hingerichtet." Und da der "Fall" Aschtiani zu sehr im Rampenlicht stand, hat es Shahla Jahed erwischt, die "zeitlich befristete" Ehefrau eines ehemaligen Fußballnationalspielers, deren Geständnis, die hauptrangige Ehefrau erstochen zu haben, möglicherweise erzwungen war. Angeblich hätten die Justizbehörden vor der Hinrichtung noch die Familie des Opfers um Gnade gebeten, aber die hätten nicht mit sich reden (handeln) lassen, ganz im Gegenteil: Der Sohn des Opfers habe den Stuhl unter den Füßen der Verurteilten weggezogen. Mögen ihn dafür 72 Revolutionsgardistinnen in der Hölle erwarten!
Zurück zu unseren Aktionen: Wir haben im Juni etwa 30 Abgeordnete in der Mongolei angeschrieben, ihnen unsere Hochachtung ausgesprochen, dass ihr Präsident im Januar einen Hinrichtungsstopp verfügt habe und sie ermutigt, dem Moratorium die endgültige Abschaffung der Todesstrafe folgen zu lassen. Wie diplomatisch wir sein können, wenn wir nur wollen, zeigt der Schlusssatz der Postkarte in die Mongolei:
"Wenn Sie die Todesstrafe in ihrem Lande abschaffen, würden Sie damit in Asien und im Pazifischen Raum ein wichtiger Vorreiter sein."
Wenn man jetzt ins Internet geht, um zu sehen, wie sich die Dinge weiterentwickelt haben, wird man häufig enttäuscht: Für die Mongolei hören die Einträge im Januar 2010 wieder auf.
Im November haben wir, wie erwähnt, eine ähnliche Briefaktion nach Ghana gestartet. Im Dezember kamen aus diesem Land sehr widersprüchliche Nachrichten: Einerseits versicherte der Außenminister der Menschenrechtsorganisation "Hands Off Cain" ("Lasst den Kain in Ruhe"), dass er und der Generalstaatsanwalt sich einig wären, dass die Todesstrafe abzuschaffen sei, andererseits enthielt sich das Land erneut der Stimme, als die UN über einen Anti-Todesstrafen-Beschluss abstimmte. Wer es fassen kann, der fasse es! In der Abstimmung am 21. Dezember sprach sich eine klare Mehrheit der Staaten - 109 gegen 41 bei 35 Enthaltungen – für einen weltweiten Hinrichtungsstopp aus.
Bei dieser Kampagne ging es heuer um die hohe Müttersterblichkeit in Teilen Afrikas und die Verletzung des Rechts auf ein "Wohnen in Würde" in Kambodscha, Kenia, Italien und Rumänien.
In Kambodscha und Kenia kam es zu unangekündigten, mitsprachefreien und entschädigungslosen Zwangsvertreibungen, wobei die Ersatzquartiere, so sie denn überhaupt angeboten werden, oft die Grundversorgung an Wasser, sanitären Anlagen, Gesundheitsvorsorge und Bildungseinrichtungen nicht gewährleisten. In Rumänien hat man eine Gruppe von Roma neben einer Kläranlage angesiedelt, in Italien schickt man sie von einem Lager ins nächste. "Sind ja eh nicht sesshaft. Können doch leicht auf Wanderschaft gehen." Frankreichs Sarkozy hat den Nomadennotstand diesmal nicht mit dem Kärcher/Hochdruckreiniger, sondern mit dem Flugzeug bereinigt.
Die Abschiebung von Roma, diesmal in den Kosovo, war auch Gegenstand eines Briefes, den wir auf Bitten von "Pro Asyl" an den bayrischen Innenminister schickten. Pro Asyl hatte auf das Rückübernahmeabkommen zwischen Deutschland und dem Kosovo Bezug genommen und am Beispiel von Elvis A., (feste Arbeitsstelle und Partnerin, zwei kleine Kinder) verdeutlicht, dass eine Abschiebung in den Kosovo für einen Roma eine "Abschiebung ins Elend" bedeutet. (Zerstörung des Elternhauses, Prügel durch albanische Nachbarn, Passivität der Polizei) Der Minister hat uns immerhin eine Antwort von drei Seiten zukommen lassen. Er hat uns versichert, dass es zu keinen Abschiebungen von Roma "im großen Stil" käme und dass man sich "ein Bild von der Sicherheitslage im Kosovo" gemacht habe. "Derzeit bestehe keine unmittelbare Gefährdung für Rückkehrer nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie." Wo dann die Prügel für Elvis A. einzuordnen sind, bleibt ein Rätsel.
"Der Wahrheit verpflichtet, doch der Lüge zugeneigt", so könnte man das Dilemma beschreiben, vor dem wir seit Jahren stehen, wenn wir die Finanzlage der Gruppe zu beschreiben haben. Wir hatten auch heuer kein Problem, den Jahresbeitrag, der derzeit immerhin 2200 Euro beträgt, zu erwirtschaften, was in erster Linie auf unsere Spender und Förderer zurückzuführen ist, die seit Menschengedenken "in Treue fest" zu uns stehen – und das unabhängig von Booms und Baissen im nationalen Wirtschaftskreislauf. Wir können uns bei Ihnen nicht genug bedanken. Und wenn Sie jemanden kennen, der/die … Na, Sie wissen schon!
Aber auch wir selbst haben uns nicht behaglich im Lehnstuhl zurückgelehnt und nur andere für uns zahlen lassen. Wir haben bei unseren Veranstaltungen durch geschwisterliches Teilen (Konzert), trotziger Kälteresistenz ("Lichterglanz") und Mitleidskäufe der Gruppenmitglieder ("Adventszauber") schwarze (und halbschwarze) Zahlen geschrieben, wir durften in einer Buchhandlung in Holzkirchen eine Sammelbüchse aufstellen (und konnten sie auch zweimal ausleeren), und wir haben beim Infoabend, der normalerweise eher eine Verlustquelle ist, soviel an Eintrittsgeldern eingenommen, dass die Veranstalter noch, sage und schreibe, je 17 Euro verdient haben. Vieles an dieser guten Kassenlage, und das muss auch einmal gesagt werden, ist der Umsicht und der Zuverlässigkeit unseres "Finanzministers" Siegfried Komm zu verdanken, der diesen Job schon seit 39 Jahren macht. Die Bundesrepublik hat in diesem Zeitraum neun Finanzminister verbraucht. Soweit die Wahrheit!
Mit der Lüge tun wir uns schon schwerer: Wir nagen (nicht) am Hungertuch, mussten (nicht) durch reichere Gruppen vor der Insolvenz gerettet werden, verloren (nicht) reihenweise Spender und Förderer, standen nach unseren Veranstaltungen (nicht) vor leeren Kassen, brauchen im nächsten Jahr keine Unterstützung mehr. Halt, das ist eine Lüge! (s. o.)
Wir zählten bis zum Herbst 20 Mitglieder, von denen durchschnittlich acht bei unseren Gruppentreffen erschienen und die anderen bei unseren Veranstaltungen auftauchten oder mitwirkten oder "Heimarbeit" leisten. Bis zum Herbst hätten wir den Eintrag aus dem Jahre 2009 übernehmen können:
"In der Gruppe hat es keine großen Veränderungen gegeben. Wir sind nur alle ein Jahr älter geworden, was ein Gruppenmitglied zu der Feststellung veranlasste: "Wenn ich um mich blicke, sehe ich lauter graue Haare." So grau ist es nun auch wieder nicht, aber natürlich würde uns eine 'Verjüngungskur' nicht schaden."
Im Herbst hatten wir sie dann, die Verjüngungskur, und sie hat uns beileibe nicht geschadet. Es kamen gleich 3 Jugendliche (in Worten drei), und sie haben nach dem Besuch eines Einführungsseminars in München gleich munter mitgemischt. Wir wünschen ihnen (und uns), dass sie alle einen Job in der Region oder einen Studienplatz in München bekommen, damit sie uns lange als Mitglieder erhalten bleiben.
Wie Sie merken, sind wir dankbar für Neuzugänge – jeden Alters, Geschlecht, Religion oder Stammeszugehörigkeit. Und wir haben für jeden Neuzugang gute Verwendung, in Einklang mit dem Spruch von Henry van Dyke:
"Nutze die Talente,
die du hast.
Die Wälder wären sehr still,
wenn nur
die begabtesten Vögel sängen."
Im Gegensatz zum Vorjahr haben wir heuer schon einige Termine festgelegt, die Sie sich bitte auch merken sollten. Am 7. April spricht Dr. Roland Götz über "Starke Frauen im Oberland", zum 10. Mai hat uns die VHS eingeladen, im Rahmen der Reihe "Integration" bei einem Vortrag von Dr. Stefan Jakob Wimmer "Was wir vom Islam meist nicht wissen" als Mitveranstalter aufzutreten, und am 27. Mai singt der Chor von Frau Wehrmann "The Rainbow Gospel Voices" anlässlich des 50. Geburtstages von Amnesty International. Wir haben also bisher keinen Grund, das Neue Jahr so zu begrüßen wie der Mann auf dem Balkon.
Und übrigens: Im Jahr 2012 wird Ai-Miesbach dann 40 Jahre, und wir haben gute Chancen, mit dem bekannten Journalisten Gerd Ruge einen der Mitbegründer von Ai-Deutschland nach Miesbach zu locken.
In unserem Textprojekt "Spuren im Land" möchten wir von Ereignissen im jetzigen Landkreis Miesbach berichten, wo es im Laufe der Geschichte zu Verletzungen, aber auch zur Verteidigung von Menschenrechten gekommen ist, und das manchmal schon lange, bevor die "Menschenrechte" als Begriff überhaupt existierten" bzw. in der Politik eine Rolle spielten.
Müller am Baum, zwischen Miesbach und Gmund gelegen, ist heute, von einigen Kleinbetrieben abgesehen, eine Industriebrache, mit Häusern nahe der Straße, die einen vergessen lassen, dass der Weltkrieg schon geraume Zeit beendet ist. Das war nicht immer so. Zwei riesige Kamine erinnern noch an die einstige Papierfabrik, die um das Jahr 1900 immerhin 300 Beschäftigten Arbeit und Brot verschaffte. Wie es in der Arbeit zuging und wo man sich das Brot zu beschaffen hatte, davon später.
In dieser Papierfabrik spielte sich um die Jahrhundertwende ein Konflikt ab, der in seiner Vielschichtigkeit genügend Stoff für ein spannendes Theaterstück liefern würde. Da ging es zunächst um die "Sauereien" auf geschäftlicher Ebene: Bilanzfälschung, Schmiergelder, Scheinverkäufe, feindliche Übernahme. Der Konflikt hatte jedoch auch eine menschliche Dimension: Ausbeutung, Unterdrückung, Verführung, Erpressung, Erniedrigung. Und dann ging es noch um "Sauereien" politischer Art, denn der damalige Direktor, Karl Sauer, hatte der organisierten Arbeiterschaft von Miesbach und Umgebung den Kampf angesagt. Martin Gruber, ein Redakteur der Münchner Post, ein Blatt, das der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften nahe stand, und der selber eine maßgebliche Rolle in diesem Konflikt spielte, hat den Kampf und sein Ergebnis genüsslich in einer kleinen Broschüre festgehalten, die uns das Stadtarchiv Miesbach (+ H. Hofäcker , Frau Wank) dankenswerterweise zu Verfügung gestellt hat.
Die Kontrahenten sind bereits benannt. Da standen auf der einen Seite der Fabrikdirektor Sauer und seine Erfüllungsgehilfen Holzhammer und Hofmann. Über Sauer hören wir, dass er ein "rücksichtsloser Scharfmacher" gewesen sei, der betrunken in die Fabrik kam und vor dem "keine Frauenschürze sicher war". Das tat jedoch seinem Selbstverständnis als "Wohltäter" keinen Abbruch. Als "böser Geist" der Fabrik galt Werkmeister Holzhammer. Er pöbelte die Arbeiter an, bedrohte sie schon einmal mit einem Revolver und ging die Frauen an, die sein Chef übrig gelassen hatte. Selbst Minderjährige waren vor ihm nicht sicher. Ihm "würdig zur Seite" stand der Saalmeister Hofmann, der Arbeiterinnen gerne mit Kosenamen wie "Saumensch, Lumpenmensch, Schlampe" bedachte. Auf der anderen Seite standen viele Beschäftigte der Papierfabrik, vor allem jene, die in Gewerkschaften oder im Arbeiterausschuss der Fabrik organisiert waren, sowie der erwähnte Redakteur und die beiden Gewerkschaftler Wild und Tauscheck, die von Sauer vor Gericht gezerrt wurden.
Direktor Sauer zufolge war die Papierfabrik eine "Musteranstalt", aber für die Gegenseite war sie eher ein "Zuchthaus". Bezeichnend für das Arbeitsklima war, dass sogar russische Arbeiter, die man über den "Sklavenhandel" engagiert hatte, wieder davon liefen. Am Baum wurde länger gearbeitet als von der Gewerbeordnung her erlaubt; es wurden keine Pausen zugestanden, sodass man während der Arbeit essen musste; die Sonntagsarbeit wurde nicht ordnungsgemäß abgerechnet; die Schutzvorrichtungen waren mangelhaft; es kam durch willkürliche Prämienentzüge und Strafgelder zu Lohnkürzungen. "Im Zuchthaus", so der Marktsekretär, "sei es reinlicher als in der Fabrik am Baum." Und organisierte Arbeiter wurden schikaniert, in Sippenhaft genommen und gezielt hinausgeekelt. Auf ihren Invalidenkarten wurde die Zugehörigkeit zu einer Arbeitervereinigung markiert, damit man aus den Zeugnissen erkennen konnte, dass "der Mann nicht , wie man aus dem Wortlaut entnehmen möchte, ein sehr guter Arbeiter ist, sondern ein Sozialdemokrat". Für den Zynismus der Betriebsleitung spricht eine Bemerkung Holzhammers: "Jetzt (im Sommer) müssen wir noch das Maul halten, weil die Leute uns sonst davonlaufen, aber im Winter werden wir sie dann traktieren."
Ein besonderes Kapitel scheinen die so genannten "Wohlfahrtseinrichtungen" gewesen zu sein: der Konsumladen und die Betriebswohnungen. In der Konsumanstalt herrschte Kaufzwang, die Lebensmittel waren teurer als anderswo, die Wurstwaren haben gestunken, das Bier war im Sommer kaum zu trinken. Wer sich aber beim Wirt frisches Bier holen ließ, dem wurde bis zur Hälfte seines Monatsverdienstes von der Prämie abgezogen. Auch die Betriebswohnungen waren eher eine "Wohltat" für den Besitzer als für die Mieter. Für 12 Familien gab es 12 Zimmer, und "wer den Abort benützte, musste nicht selten, da er nicht zu oft geleert wurde, die Exkremente erst niederstampfen, um für seine Entleerung Platz zu schaffen". Einem alten Mann, dessen Söhne (fälschlich) bezichtigt wurden, an einer Wirtshausschlägerei beteiligt gewesen zu sein, wurde die Wohnung gekündigt, und dem Wirt wurde von Sauer verboten, ihm eine zu vermieten. Dabei scheint der damalige Bürgermeister der Gemeinde Wies, und Eigentümer der Wirtschaft am Baum, eine wenig rühmliche Rolle gespielt zu haben.
Die Beschwerden, die gegen die Fabrikleitung in Baum vorgebracht wurden, kamen nicht nur von den Beschäftigten und Gewerkschaften. Fabrikinspektoren klagten darüber, dass Vereinbarungen über die Abstellung von Mängeln nicht eingehalten wurden, Polizisten stellten heraus, dass über andere Papierfabriken keine Klagen kämen und ein Beamter des Bezirksamtes forderte (vergeblich), dass die Prämienabzüge rückgängig zu machen seien und bezeichnete Sauer gegenüber den Konsumladen als "eine nette Wohltätigkeitsanstalt".
"Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil", sagte man sich damals in Miesbacher Arbeiterkreisen und schritt zur Gegenwehr. Im Sommer 1905 wurde im Baderwirt eine Arbeiterversammlung einberufen, auf der die "russischen Zustände" in der Papierfabrik eingehend besprochen wurden, In der Folge brachte die Münchner Post zwei Artikel unter der Überschrift "Eine Musteranstalt" und "Der Sauerwurm", in denen die Zustände am Baum aber auch das bewegte Vorleben Sauers beleuchtet wurden. Zur Verleumdungsklage gegen Gruber musste Sauer vom Aufsichtsrat der Fabrik geradezu gedrängt werden, aber da die Zeugenaussagen "vernichtend" waren, zog Sauer seine Klage wieder zurück. Die "ziemlich bedeutenden Kosten wurden dem Kläger überbürdet".
Da die Einstellung des Verfahrens keine personellen Konsequenzen zur Folge hatte, berief der Gewerkschaftsverein Miesbach für Sonntag, 25. November 1906 eine öffentliche Versammlung in den Waitzingersaal ein. "Wohl 1000 Personen folgten dem an sie ergangenen Rufe", – obwohl es nicht an Versuchen gefehlt hatte, die Versammlung zu verhindern. Die Zeitungen berichteten sehr unterschiedlich über die Versammlung. Für die "Münchener Post" war es ein "imposantes und nachhaltiges Volksgericht", für die Lokalzeitungen, die in den Augen der "Post", eher "reellen Geschäftsinteressen" verbunden waren, sprich: auf Unternehmerseite standen, war es ein "Haberfeldtreiben" der schlimmeren Art. Doch zeigen sich in der Berichterstattung von "Miesbacher Anzeiger" und "Schlierach-Bote" (eine Zeitung, die zwischen den 1890er Jahren und dem 1. Weltkrieg existierte) bemerkenswerte Widersprüche. So räumte der "Anzeiger" durchaus ein, dass es am Baum "unleidliche Zustände" gäbe, die es verständlich machten, dass viele Arbeiter jetzt "den Weg zur Organisation" gehen würden, dass aber der 2. Teil der Veranstaltung, der sich mit dem (un) sittlichen Vorleben Sauers beschäftigte, eher aus "dreckigen Details" bestand. Der "Schlierach-Bote" hingegen ging auf die Zustände in der Fabrik kaum oder gar nicht ein und behauptete, dass "solche Art der Propaganda den Gewerkschaften wie der sozialdemokratischen Partei einen schlechten Dienst erweisen" würde. Und während der "Anzeiger" bemerkte, dass die Mehrzahl der Besucher den Enthüllungen "mit freundlichem Schmunzeln" lauschte, hat beim "Schlierach-Boten" der "größte Teil der Versammlung ein solches Vorgehen entschieden missbilligt". Da war man wohl auf zwei verschiedenen Veranstaltungen.
Schon einen Tag später erfolgte eine Solidaritätserklärung von 90 Beschäftigten der Papierfabrik, in der Direktor Sauer bescheinigt wurde, dass er die Belegschaft gut behandle und dass sie "mit solchen Minierarbeiten (!)" nichts zu tun haben wollten. In der nachfolgenden Verhandlung über die Beleidigungsklage Sauers gegen den Redakteur Gruber und die Gewerkschaftler Wild und Tauscheck, die auf der Versammlung gesprochen hatten, stellte sich dann heraus, dass mehrere Unterzeichner gar nicht auf der Versammlung gewesen seien, weil man ihnen die Teilnahme verboten hätte, und "dass sie gar nicht gelesen hätten, was sie da unterschrieben". Peinlich für Sauer war auch die Zeugenaussage des Mannes, den man damit beauftragt hatte, die Reden mit zu stenografieren. Er musste auf Befragung hin einräumen, dass es zu "Verwechslungen" gekommen sein könnte, "da er in der Versammlung einen ungünstigen Platz hatte, schlecht hört und kurzsichtig sei". Wie gesagt, genügend Stoff für ein Volkstheater!
Die Entscheidungsschlacht, im Kinojargon der Showdown, fand dann vor dem Amtsgericht München I statt. Direktor Sauer stellte am 9. Januar 1907, wiederum "auf Drängen des Aufsichtsrates", Beleidigungsklage gegen die drei Redner. Werkmeister Holzhammer schloss sich der Klage an. Zur Hauptverhandlung im November 1907 wurden über 50 Zeugen geladen. Der Verlauf sei wie folgt zusammengefasst: Die Beweisaufnahme führte zu einem Rollentausch – aus den beiden Klägern werden Angeklagte, aus den drei Angeklagten Ankläger. Die Vorwürfe gegen Sauer und Holzhammer werden weitgehend bestätigt – sowohl von Zeugen aus der Belegschaft, wie auch von Amtspersonen. Die Entlastungsaussagen fallen vage oder widersprüchlich aus. Allerdings drängt sich der Eindruck auf, dass es den Klägern weniger deswegen an den Kragen ging, weil sie die Belegschaft unmenschlich behandelt hatten, sondern weil sie sich wiederholt wie skrupellose "Lüstlinge" verhalten hatten. (Originalton: Verteidiger Bernheim) So sagte beispielsweise die
Zeugin aus, dass sie von Sauer verführt worden sei und dass sie, als sie die Alimente einforderte, von ihm "mit Schimpfnamen belegt worden wäre, mit denen er sonst nur seine Frau zu belegen pflegte".
Das Urteil war eindeutig: Gruber und Tauscheck wurden freigesprochen, Wild wegen formaler Beleidigung zu 30 Mark Geldstrafe verurteilt, das "Strafminimum". Die Kosten wurden, wieder einmal "dem Kläger überbürdet". Damit aber nicht genug: Das Gericht begründete sein Urteil damit, dass es sich nicht um Beleidigung sondern um "eine äußerst scharfe Kritik" gehandelt habe, und zwar an Leuten, die es "an jenem moralischen Auftreten fehlte, das ein Arbeiter von seinem Vorgesetzten erwarten kann". Der Aufsichtsrat der Fabrik hat (endlich!) auf das Urteil reagiert: Sauer und Holzhammer mussten zum 1. Februar 1908 gehen.
Die "Münchener Post" schloss mit einem flammenden Aufruf an die Arbeiterschaft: "Die Organisation hat nach einem harten Kampf gesiegt. Ihren weiteren Ausbau auch in Friedenszeit nicht zu vergessen, sei auch ferner unsere oberste Sorge."
Hart ist auch der Kampf, den heute Gewerkschaftler im Iran, Simbabwe, Guatemala, Kolumbien und Mexiko zu führen haben, und die Repressalien, denen sie ausgesetzt sind, sind ungleich brutaler als damals in der Papierfabrik am Baum. Allen bedrohten, misshandelten, eingesperrten und getöteten Gewerkschaftlern sei dieser Artikel gewidmet.
Fritz Weigl (Gruppensprecher)
Wallenburger Str. 28d
83714 Miesbach
Tel. 08025 3895
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Bernard Brown
Carl-Weinberger-Str. 5
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Homepage: www.amnesty-miesbach.de
Wir danken für Ihr Interesse und Ihre Unterstützung.