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Amnesty International Gruppe Miesbach (1431)

Impressum

Gruppe Miesbach (1431)

Tätigkeitsbericht der AI-Gruppe

im Landkreis Miesbach

für das Jahr 2012

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Einleitung

Diese Einleitung entstand zwischen Neujahr und Faschingsdienstag, und deshalb werden sie mir auch diese Karikatur verzeihen, die irgendwo zwischen diesen beiden Tagen angesiedelt ist.

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An Neujahr gute Vorsätze zu fassen erzeugt ein rauschhaftes Glücksgefühl, am Jahresende dann Bilanz zu ziehen, führt zu Katerstimmung – sofern man sich an die guten Vorsätze überhaupt noch erinnern kann.

Da AI (im Landkreis) Miesbach heuer 40 wird, sind gute Vorsätze, sollte man meinen, eine Pflichtübung. Wir fangen mit den Sachen an, die wir (mit Sicherheit) nicht erreichen können, obwohl es sehr gute Vorsätze wären:

  • Wir werden nicht alle Orte des Landkreises solange mit Infoständen überziehen können, bis alle Esel statt "IA" "AI" schreien.
  • Wir werden es nicht schaffen, bei unseren Infoabenden so viele Leute anzulocken, dass in der Oberlandhalle in Miesbach eine Einlasssperre verhängt werden muss.
  • Es wird uns nicht gelingen, Gerhard Polt und die Biermösl Blosn für einen Auftritt zu unserem Jubiläum wiederzuvereinigen.
  • Unser Spendenaufkommen wird nicht ausreichen, alle politischen Gefangenen dieser Welt freizukaufen.
  • Wir werden es wohl nicht erleben, dass neue (dynamische, kreative, unausgelastete und junge) Mitglieder in solcher Anzahl in die Gruppe drängen, dass wir die Vorbereitung des 50. Geburtstages getrost ihnen überlassen können.

Um besagte Katerstimmung zu vermeiden, werden wir die guten Vorsätze bescheiden halten und im Unbestimmten belassen, so wie es uns Altmeister Goethe mit seinen biederen Versen fürs Poesiealbum vorgepredigt hat.

"Ein neues Jahr

hat neue Pflichten,

Ein neuer Morgen

ruft zur frischen Tat.

Stets wünsche ich

ein fröhliches Verrichten

Und Mut zur Kraft

zur Arbeit früh und spat."

Wem das zu salbungsvoll ist, kann es auch mit unserer Bezirkssprecherin halten, die eine nüchternere Einstellung zum Ehrenamt vertritt:

"Das Motto (für unsere AI-Arbeit) sollte lauten: Was passiert, ist gut, was nicht passiert, passiert eben nicht. Auch die ehrenamtliche Tätigkeit soll Spaß machen. Wer zuviel macht, läuft Gefahr, sich zu verbrennen. Das nützt niemandem."

Damit, glaube ich, kann man die "alten Hasen" trösten und die neuen Hasen ermutigen, in die Gruppe einzusteigen.

Und damit auf zum "etwas anderen Jahresrückblick", dessen Abfassung nicht immer "ein fröhliches Verrichten" ist. Zur Auflockerung der Stimmung haben wir jedem Monat einen Vers aus Erich Kästners "Die 13 Monate" vorangestellt.

2. Der (etwas) andere Jahresrückblick

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Januar 2012

"Die Wolken bringen Schnee aus fremden Ländern.

Und niemand hält sie auf und fordert Zoll.

Silvester hörte man's auf allen Sendern,

daß sich auch unterm Himmel manches ändern

und, außer uns, viel besser werden soll."

Fangen wir mit dem "besser werden" an. In Malaysia, heuer Themenland des Weltgebetstags der Frauen, wurde der Oppositionsführer Anwar Ibrahim nach einem "politisch motivierten und von Unregelmäßigkeiten durchzogenen Verfahren" (und zu seiner eigenen Überraschung!) vom Vorwurf der Homosexualität freigesprochen. Zur Mitternachtsmesse der koptischen Christen in Kairo kamen neben einigen Generälen auch Repräsentanten der Muslimbrüder. Und selbst die Salafisten, die schon mehrfach gegen "unislamische Umtriebe" gewettert hatten, kündigten an, sich am Schutz von (christlichen) Kirchen zu beteiligen.

Erfreuliche Nachrichten kommen auch aus einem Land, das "im Westen lange Zeit als hoffnungsloser Fall galt", aus Myanmar/Burma. Dort wurden 650 Regimegegner freigelassen, eine Maßnahme, die von AI als "großer Schritt nach vorne" bezeichnet wurde. Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass sich das Regime noch "einige Trümpfe in der Hinterhand" behielt, sprich, noch einige Hunderte von politischen Gefangenen inhaftiert sind.

Fehler

Die USA planen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Myanmar, aber das war schon (fast) die einzige positive Nachricht, die es vom "Lande der Freien" zu vermelden gab. "Obamas Sündenfall" und "Obamas Schande" betitelten deutsche Zeitungen die Unterschrift des Präsidenten unter ein Gesetz, das es dem Militär erlaubt, Terrorverdächtige unbegrenzt, ohne Anklage und richterliche Anhörung einzusperren – außer es handle sich um amerikanische Bürger, und das

  • obwohl Obama 2009 als erste Amtshandlung angekündigt hatte, Guantánamo innerhalb von 12 Monaten zu schließen;
  • obwohl inzwischen namhafte Generäle und Geheimdienstler der Meinung sind, das "System Guantánamo" bedeute "einen schweren Rückschlag für die Terrorbekämpfung", da es "Beschuldigte nicht zu Kooperation motiviere";
  • obwohl der ehemalige Verteidigungsminister (mit dem sprechenden Namen) Rumsfeld bei einem Rundgang durch das Gefangenenlager der Feststellung zugestimmt haben soll, dass die meisten Häftlinge nicht "zu den allerschlimmsten Terrorkämpfern" zählten.

Und es geht (un)lustig weiter. Mit "überchristlicher Barmherzigkeit", die den unbelasteten Häftlingen in Guantánamo bisher vorbehalten bleibt, ist ein amerikanisches Militärgericht mit dem Sergeanten Frank Wuterich umgesprungen. Auch der hatte seinem Namen alle Ehre gemacht, als er im November 2005 in einer Racheaktion für einen getöteten Kameraden den Befehl gab, "Erst schießen, dann fragen!" und damit in der irakischen Stadt Haditha ein Blutbad auslöste, dem 24 Zivilisten, darunter sieben Kinder, zum Opfer fielen. Der Sergeant erhielt "wegen Pflichtverletzung im Dienst" (der besagte Befehl ist nach amerikanischem Wehrrecht illegal) zu einer Haftstrafe von drei Monaten verurteilt (die er nicht antreten musste) und wurde zum einfachen Gefreiten degradiert, aber ohne dass sein Sold gekürzt wurde. Damit kann man leben – und töten.

Bevor Sie jetzt die USA endgültig zum Schurkenstaat degradieren, tut es Not, das düstere Bild etwas aufzuhellen. Im Indischen Ozean befreite die US-Marine 13 ausgehungerte iranische Fischer aus der Gewalt somalischer Piraten. "Es ist, als ob Euch Gott geschickt hat", zitierte die New York Times einen der geretteten Männer. Die Aktion wurde von der Navy weidlich ausgeschlachtet, denn so häufig kommt es derzeit nun auch wieder nicht vor, dass Amerikaner von Iranern als Gesandte Gottes erlebt werden. Wir bringen das Gruppenfoto mit Abwandlung des Brecht-Zitates: "Oft geht es anders, doch so geht es auch."

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Ein blutiges Wochenende wurde aus Nigeria gemeldet. Bei Angriffen der islamistischen Sekte Boko Haram auf Polizeistationen und Kirchen kamen etwa 200 Personen ums Leben. Der Name der Sekte ist Programm; übersetzt heißt er in etwa: "Westliche Bildung ist verboten." Und dazu rechnet die Sekte auch das Christentum. Ein Leitartikel der SZ, der pflicht- und wahrheitsgemäß auch die Verfehlungen der Christen in der Vergangenheit benannt hat, kam zu dem eindeutigen Schluss:

"Keine Religion ist weltweit derart der Gewalt und der Diskriminierung ausgesetzt wie das Christentum. Hier gibt es auch kein Gleichgewicht des Schreckens: Es gibt nun einmal keine Nachricht darüber, dass eine radikale Christen­gruppe namens 'Tod den Ungläubigen' Sprengstoff in Autos geladen und Hunderte von Menschen in die Luft gesprengt hätte."

Das anrührendste Foto des Monats kam aus Bahrain. Es zeigte einmal mehr den Wunsch der Menschen, "dass sich auch unterm Himmel etwas ändern soll".

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Februar 2012

"Unsere Orden sind Attrappe.

Bunter Schnee ist aus Papier.

Unsere Nasen sind aus Pappe

Und aus welchem Stoff sind wir?"

Mit dem "bunten Schnee aus Papier" sind wohl die Konfetti gemeint, die, so nicht wasserlöslich, noch im Hochsommer an die Faschingszüge erinnern. Und sie sind noch am ehesten geeignet, eine holprige Überleitung zum Geschehen im Februar zu liefern. Da gab es einige Ereignisse, wo man statt Konfetti besser Stinkbomben geworfen hätte. Die erste Stinkbombe hätte sich Malaysia verdient, das den saudi-arabischen Blogger Hamsa Kaschgari an sein (ölreiches) Heimatland ausgeliefert hat, obwohl ihm dort die Todesstrafe wegen Blasphemie droht. Kaschgari hatte wie folgt mit seinem Propheten getwittert: "An Deinem Geburtstag werde ich sagen, dass ich den Rebellen in Dir geliebt habe, dass Du mir immer eine Quelle der Inspiration warst, aber dass ich Deinen göttlichen Heiligenschein nicht mag. Ich werde nicht für dich beten." Mohammed wird diese Weigerung mit Sicherheit verschmerzen können, die Saudis nicht. Malaysia wird im März Themenland des diesjährigen Weltgebetstags der Frauen sein, und das Land hat das Gebet bitter nötig.

In Afghanistan wurden weder Konfetti noch Stinkbomben geworfen, sondern ein Brandbeschleuniger gezündet. Zum Sündenregister amerikanischer Soldaten, auf dem nächtliche Hausdurchsuchungen, Luftangriffe auf Hochzeitsgesellschaften und ein "Kill Team", das auf tote Taliban urinierte, verzeichnet sind, gesellte sich jetzt noch eine Koranverbrennung. Obwohl die Verbrennung (angeblich) ein Versehen war und sich Präsident und Oberbefehlshaber dafür wortreich entschuldigten, kam es zu wütenden Demonstrationen, die 30 Todesopfer forderten. Dass der afghanische Religionsrat "Vorsatz" unterstellte und die amerikanischen Republikaner Obama als "Sorry-Präsident" verspotteten, hat auch nicht gerade zur Entspannung beigetragen.

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Ohne den Vorgang verharmlosen zu wollen, sei doch ein kleiner Nachtrag erlaubt: Es ist gut, dass eine Bibelverbrennung in christlichen Ländern, vom "Bibelgürtel" in den USA vielleicht einmal abgesehen, heutzutage zwar nicht mit Applaus aber doch ohne Gewalt aufgenommen würde. Die Zeiten der Autodafés gegen Häretiker sind bei uns vorbei.

Freundlich empfangen wurde Angela Merkel bei ihrem Staatsbesuch in Peking. Die Gespräche zwischen den Delegationen "waren so vertrauensvoll wie nie zuvor" -und werden das nächste Mal wohl gleich in eine gemischte Sauna verlegt. Und Ministerpräsident Wen Jiabao machte mit der Kanzlerin sogar einen Ausflug "ins drei Flugstunden entfernte Kanton". In den Konfettiregen aber mischten sich einige scharfkantige Hagelkörner. Der chinesische Anwalt Mo Shaoping war zwar zum Empfang der deutschen Botschaft eingeladen, wurde aber für die Dauer des Empfangs in seinem Büro festgesetzt, um "die soziale Stabilität des Landes" nicht zu gefährden. Und als Frau Merkel eine kritische Zeitung besuchen wollte, war Wen Jiabao nicht von der Partie. Ganz im Gegenteil: Der Besuch wurde von den Behörden unterbunden. Dass die deutsche Delegation der Regierung in Peking eine Liste mit einem Dutzend Namen verfolgter Chinesen überreicht und die "deutliche Bitte" ausgesprochen hat, die Fälle wohlwollend zu prüfen, kann man im Nachhinein nach diesen "Schikanen" durchaus als kleine Retourkutsche werten. Eine Karikatur, die Frau Merkel an einem Heizkessel zeigt, wie sie Euro und Menschenrechte gleichzeitig verbrennt, war offensichtlich schon vor ihrer Pekingreise angefertigt worden.

Von China geht's, wie schon öfter bei unseren Berichten, geradewegs in die USA. Dort wurde einem Militärgericht die Anklagepunkte gegen Bradley Mannings zugestellt, der Wikileaks (angeblich) mehr als 700 000 Dokumente über den US-Einsatz im Irak zugespielt hatte. Was hat denn der im Irak sonst noch getan? Man wirft ihm "Unterstützung des Feindes" und andere Delikte vor, die ihm eine lebenslängliche Haftstrafe eintragen könnten. Um alles absitzen zu können, müsste er mindestens zwei Leben haben, denn in der Addition beliefe sich das mögliche Strafmaß auf 150 Jahre. Sauer auf ihn ist man aber nicht nur wegen der Weitergabe militärischer Daten, sondern auch weil er Kriegsverbrechen unter dem Teppich hervorgekehrt hat, und dazu gab es in der SZ einen deutlichen Kommentar:

"Angeklagt sind natürlich nicht die Kriegsverbrechen (und Kriegsverbrecher!), die aus den von ihm weitergegebenen Materialien ersichtlich waren; angeklagt ist das Verbrechen ihrer öffentlichen Aufdeckung. Der Aufdecker muss froh sein, dass ihm nicht die Todesstrafe, sondern nur lebenslänglich droht."

Auf Englisch heißt ein solcher Aufdecker "whistleblower", aber wer tatsächlich ausgepfiffen werden sollte, sei einmal dahingestellt.

Verlassen wir den Fasching und stellen wir uns dem Aschermittwoch – mit einer Verspätung von zwei Tagen, den vorher war das Kasperltheater des politischen Aschermittwochs zu überstehen. In einer Feierstunde gedachte die Politprominenz in unser aller Namen der Opfer des "Nationalsozialistischen Untergrundes/NSU". Die Kanzlerin sprach von einer "Schande für unser Land" und stellte als "besonders beklemmend" heraus, dass die Angehörigen jahrelang unter falschen Verdächtigungen der Ermittler leiden mussten. Semiya Simsek, Tochter eines der Opfer, sorgte für den bedrückendsten Moment der Feierstunde, als sie anfragte, ob sie, in Deutschland geboren, "hier zuhause sei, in einem Land, wo es Menschen gibt, die mich hier nicht haben wollen und die zu Mördern werden, nur weil meine Eltern aus einem fremden Land stammen".

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Während Politik und Mehrheitsgesellschaft in Sack und Asche gingen, witterte die rechte Szene in Franken und Niederbayern Morgenluft. Eine Kundgebung in Landshut, Versuche des "Freien Netzes Süd" in Halsbach/Altötting sich in einer Dorfwirtschaft einzunisten und ein Brandanschlag auf das Auto eines Nazigegners in Fürth bestätigen die lapidare Aussage des "Merkur": "Die Taten der Zwickauer Nazi-Serienmörder scheinen für die bayerische Szene sogar Ansporn zu sein". Ansporn waren die Nazi-Auftritte gottlob auch für die Normalbevölkerung. Zu einer spontan einberufenen Gegendemonstration in Halsbach trommelte der Bürgermeister immerhin 200 der gemeldeten 900 Bewohner zusammen.

Von der (leider) verflossenen Biermösl Blasn stammt die berühmte und variable Nummer: "…, wie reimt sich das zusamm'?" Unser Vorschlag: "Argentinien – Fußball – Ukraine". Hier der mutmaßliche ("mutmaßlich" weil die genaue Chronologie umstritten ist) Sachverhalt, die Liedfassung müssen Sie sich selber reimen. In Argentinien war 1978, zur Zeit der Militärdiktatur, Fußballweltmeisterschaft, und der Gastgeber benötigte einen Kantersieg gegen Peru, um ins Finale vorzustoßen. Das Spiel endete 6:0 für Argentinien, aber jetzt sind Kronzeugen aufgetaucht, die behaupten, dass das Ergebnis nicht nur ein Versagen der peruanischen Defensive war. Im Zuge der Amtshilfe gegen unliebsame Dissidenten hätten die beiden Regierungen vereinbart, Argentinien solle im Gegenzug für ein "Entgegenkommen" auf dem Fußballplatz zwölf peruanische Oppositionelle entführen und liquidieren. Argentinien wurde Weltmeister, aber zur "Gegenleistung" kam es nicht, weil ein Journalist die Landung des Flugzeuges mit den entführten Peruanern an Bord fotografierte.

Und jetzt zum dritten Teil des Puzzles – die Ukraine. Dort findet doch heuer, im Verbund mit Polen, die Fußballeuropameisterschaft statt. Und dort sitzen doch Julia Timoschenko und andere Regimegegner hinter Schloss und Riegel. Wie wäre es, wenn Deutschland der Ukraine zum Einzug ins Finale verhülfe und dafür die Überstellung Timoschenkos nach Deutschland bekäme? Ein Versprechen, sie zu liquidieren, würden wir natürlich nicht abgeben – ganz im Gegenteil!

"Herr Kästner, wo bleibt das Positive?" hat sich der bekannte Schriftsteller in einem Gedicht einmal selber gefragt. Hier kommt es: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat verfügt, dass Italien (und damit wohl auch andere "Frontstaaten") Flüchtlinge nicht mehr auf hoher See abweisen und in ein unsicheres Herkunftsland, z.B. Libyen, zurückbringen darf. Man hätte zu prüfen, ob die Flüchtlinge darauf hingewiesen wurden, dass sie Asyl beantragen können und ob Schutzbedürftige an Bord seien, die bei einer Weiterverschiebung von Libyen in ihr Heimatland Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt seien. In Eritrea beispielsweise werden rückgeführte Flüchtlinge inhaftiert und gefoltert, weil sie ohne Erlaubnis das Land verlassen haben. Den meisten der 24 Kläger hat die Entscheidung aus Strassburg nicht mehr geholfen. 16 sind während der Revolution in Libyen verschollen, zwei sind unter ungeklärten Umständen verstorben. Da das Urteil die europäische Grenzschutzpraxis grundlegend verändern könnte, kann man sich vorstellen, dass die Politik schon an einer Strategie feilt, um die Entscheidung der Richter zu unterlaufen. Wahrscheinlich wird man "Standgerichte" auf den Frontex-Schiffen installieren, die im Eilverfahren über die Asylanträge entscheiden können.

Zu begrüßen ist auch die Unterzeichnung des Zusatzprotokolls zur UN-Kinderkonvention. Kinder, deren grundlegende Menschenrechte verletzt werden, beispielsweise durch sexuellen Missbrauch, Rekrutierung zum Kindersoldaten, Verelendung in Slumzonen – und die vor den Gerichten ihrer eigenen Länder kein Gehör finden, sollen ein Klagerecht vor der UN erhalten. Damit könnte ein altes Sprichwort einen neuen Sinn bekommen: "Wo ein Kläger, da ein Richter!" Nur, ist zu befürchten, wie soll ein Opfer zur UN finden?

Aber "Aufgeben gilt nicht" war auch ein Artikel in der "Zeit" überschrieben, der von einer Polizeireporterin in Ciudad Juárez/Mexiko, eine der Mordhauptstädte der Welt, verfasst wurde. Sie heißt Luz Sosa, berichtet täglich von den Opfern der Verbrechersyndikate, kritisiert aber auch Polizei und Behörden, die unfähig und korrupt sind und die Arbeit der Journalisten hintertreiben. "In meiner Stadt herrscht ein schreckliches Chaos, und ich befinde mich mittendrin." Sie berichtet aber auch von den Initiativen und Projekten der Menschen, die ihre Stadt noch nicht aufgegeben haben und schließt mit einem Satz, der auch für unsere AI-Arbeit gilt: "Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, aber wir gehen ihn mit kleinen, festen Schritten." Darin bestärkt hat uns eine Nachricht aus Ägypten: Der Blogger Maikel Nabil Sanad/Ägypten wurde nach sechs Monaten Haft freigelassen und bedankte sich bei "allen – für jeden einzelnen Schritt, den ihr für meine Freiheit gegangen seid". Nun, unser Schritt war ungefährlich. Er bestand in der Unterschrift bei einer Online-Aktion.

Jetzt ist der kürzeste Monat des Jahres doch recht lang geworden, und dabei haben wir die Frage aus Kästners Februargedicht noch gar nicht beantwortet. "Aus welchem Stoff sind wir denn?" Nun, wir sind mutig und feige, listig und unbedarft, freimütig und hinterfotzig, mitfühlend und rücksichtslos, das Leben bejahend und das Leben verneinend – kurz: "Wir sind aus solchem Stoff wie (Alp)Träume sind." (Shakespeare, "Der Sturm")

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Arabiens Pietà

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März 2012

"Springflut und Havarie,

Sturm und Lawinen, -

gibt es denn niemals Ruh

drunten bei ihnen?"

"Drunten bei ihnen", das ist bei uns auf der Erde. Und unruhig bis stürmisch war es auch wieder im März – vom Fernen Osten Tibet bis zum Wilden Westen/Süden USA.

  • Tibet: In Tibet (und Indien) hat die Zahl der Selbstverbrennungen derart zugenommen, dass chinesische Soldaten bereits mit Feuerlöschern ausgerüstet sind.
  • Afghanistan/Frankreich: In Afghanistan und Südfrankreich haben Attentäter zugeschlagen, der eine in der Uniform einer amerikanischen Spezialeinheit, der andere ein selbsternannter El-Kaida Terrorist (beide wohl verwirrt im Geiste aber kaltblütig in der "Vollstreckung").
  • Iran/Israel: Zwischen dem Iran und Israel probt man weiterhin den Tanz entlang der "roten Linie" – Wie weit bist du mit der Atombombe? Wie stark sind deine Bunker brechenden Waffen?
  • Fehler
  • Syrien: In Syrien läuft das alte Wechselspiel zwischen Friedensplänen und Panzereinsätzen.
  • USA: In Florida hat ein weißer Hobby-Polizist einen schwarzen Jugendlichen erschossen, möglicherweise weil er ihn mit seinem schwarzen Kapuzenpulli für ein Mitglied des Ku-Klux-Klan hielt. (Das Wissen. dass der Klan weiß gekleidet war, kann man in einem Staat wie Florida, wo es Ärzten untersagt ist, auf die Gefahren des häuslichen Waffenbesitzes hinzuweisen, nicht mehr ohne weiteres voraussetzen.) Immerhin wurde sechs Wochen nach der Tat endlich Anklage erhoben, leider nur gegen den Todesschützen und nicht auch gleich gegen die NRA/Nationaler Gewehrfreak Verband.

Stellvertretend für die Kinder und den Jugendlichen, die in Afghanistan, Südfrankreich und Florida erschossen wurden, das Bild des tibetanischen Kindes, das auch deshalb so groß ist, weil die Hoffnung, dieses geplagte Land möge seinen Frieden finden, so klein ist.

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Auf halber Strecke zwischen Tibet und Florida käme, in etwa, Bayern zu liegen. Und aus dem Lande, das "Gott mit uns" schon in seiner Hymne mit sich führt, kommen eine schlechte und eine gute Nachricht. Wir sind, Gnade uns Gott, zu einem Rückzugsgebiet für Rechtsextremisten geworden und beherbergen fast ein Viertel (38) aller in Deutschland zur Fahndung ausgeschriebenen Neonazis. "Das Boot ist voll", kann man da nur sagen. Das hat aber, Gott sei Dank, zur Folge, dass der Verfassungsschutz sich stärker nach rechts orientieren muss und Gruppierungen wie die Islamische Gemeinde Penzberg endlich in Ruhe lässt. Und, wer weiß, vielleicht kommt es bald zu einem Treffen zwischen Innenminister Herrmann und Imam Idriz, wo man sich mit "Salaam, Herr Minister" und "Grüß Gott, Herr Imam" begrüßt?

An die Echternacher Springprozession ("Drei vor, zwei zurück" – oder manchmal auch umgekehrt) fühlt man sich erinnert, wenn man die Schlagzeilen zur Todesstrafe aneinanderreiht: "Iran hebt "Todesurteil auf", "670 Hinrichtungen im Iran", "Todesurteile vollstreckt", "Todesstrafe auf dem Rückzug", "Zahl der Exekutionen steigt", "Todesurteile in Japan".

"Vollstreckt" wurde in Weißrussland, dem einzigen Land in Europa, das die Todesstrafe beibehalten hat. Und hingerichtet wurden die zwei Metromörder, an deren Schuld massive Zweifel bestanden. "Entlastungszeugen seien zum Schweigen gebracht oder nicht zugelassen worden, und die Geständnisse seien unter Folter entstanden" – so die SZ. Vom Präsidenten Lukaschenko gibt es übrigen den denkwürdigen Ausspruch über Guido Westerwelle: "Lieber bin ich ein Diktator als schwul." Uns ist, ehrlich gesagt, der Guido lieber!

Der vermeintliche Widerspruch bezüglich der Hinrichtungszahlen ist leicht zu erklären. Die Zahl der Staaten, die die Todesstrafe vollstrecken, nimmt ab, während die Anzahl der Hinrichtungen in den Killer-Staaten (China, Iran, Saudi-Arabien) zunimmt. Man muss doch den "Softies" etwas entgegensetzen. Auch unsere griffige "Erfolgsmeldung" – 1977 hatten nur 18 Staaten die Todesstrafe abgeschafft, 2009 wird sie nur mehr in 18 Staaten vollstreckt – müssen wir leider nach oben korrigieren. Im Jahre 2011 wurde in 20 Staaten hingerichtet.

Am 8. März war Internationaler Tag für die Rechte der Frau. Bis Afghanistan ist das nicht vorgedrungen. Dort hat Human Rights Watch festgestellt, dass etwa 400 Frauen und Mädchen wegen "Sittenverbrechen" in Haft sind – und tatsächlich sind die Delikte "ehrenrührig": Die Frauen sind vor Zwangsheiraten oder häuslicher Gewalt geflohen oder wurden vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen. Natürlich gehören diese Taten bestraft, aber im Gefängnis hocken die Opfer nicht die Täter. Wenn so etwas schon unter Karsai passiert, möchte man sich gar nicht ausmalen, was ihnen unter den Taliban blühen würde.

Probleme haben Frauen auch bei uns in Deutschland, und dass wir diese Probleme in Form einer Karikatur darstellen, soll beileibe nicht heißen, dass wir sie nicht ernst nehmen.

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Eigentlich gehörte der Lukaschenko ja auch vor den Kadi in Den Haag. Solange jedoch der große Bruder in Moskau seine Hand über ihn hält, wird er sich halten. Jetzt überlegt man, ob man dem Land die Eishockey-WM 2014 entziehen sollte. Aber der Sport ist vor der Politik fast immer eingeknickt. Das hat man schon 2008 auf der Olympiade in Peking erlebt, wo es statt "Gold für Menschenrechte" nachher "Gitter für Menschenrechtler" gab.

Erwischt hat es einen anderen "Lu". Der Weltgerichtshof hat den kongolesischen Milizenchef Thomas Lubanga wegen des Einsatzes von Kindersoldaten schuldig gesprochen. Lubanga hatte seine "kleinen Soldaten" als Waisen bezeichnet, um die er sich kümmere. In Ausübung seiner Sorgepflicht hat er die Buben zum Plündern und Morden "angelernt" und die Mädchen zu Sexsklavinnen "ausgebildet". AI hat diesen Schuldspruch euphorisch begrüßt – "Ein Meilenstein in der internationalen Rechtsprechung" – die SZ hat deutlich auf die Defizite des Verfahrens hingewiesen: Lubanga wurde der Rekrutierung von Kindersoldaten angeklagt, weil man ihm seine schwereren Verstöße, Massenerschießungen und Massenvergewaltigungen, nicht nachweisen konnte. Und sein Stellvertreter, der ähnliche Schandtaten auf dem Kerbholz hat, ist heute kongolesischer General, auf den Den Haag wohl noch lange warten kann.

Von Guido Westerwelle und von (erfolglosen) Versuchen, mediale Großereignisse als Hebel zur Verbesserung der Menschenrechtslage zu nutzen war in diesem Monat schon einmal die Rede. Diesen Hebel beherzt anzusetzen, hatte sich Markus Löning, der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, vorgenommen. Sie kennen ja alle diesen Musikwettbewerb, wegen dem das "Wort zum Sonntag" immer erst mit deutlicher Verspätung verkündet werden kann. Diese Lärmbelästigung soll heuer in Baku/Aserbaidschan stattfinden, weil die letztjährigen Sieger aus diesem Lande stammen. Markus Löning hatte angemahnt, dass vor dem Gesang alle politischen Gefangenen freigelassen werden sollten. Er tat dies in deutlichen Worten:

"Es fällt schwer, fröhlich und unbeschwert zu singen, wenn ein paar Kilometer weiter Menschen im Gefängnis sitzen, weil sie über Facebook zu einer Demonstration aufgerufen haben."

Und dann begleitet er auch noch unseren Außenminister (und seinen Parteifreund) auf dem Staatsbesuch! Baku hat sehr ungnädig reagiert, und beim Abendessen für die deutsche Delegation hat für Löning die Tischkarte gefehlt. Guido hingegen hat in der Pressekonferenz das Wort Menschenrechte kein einziges Mal erwähnt. Das hat er dann doch wieder mit Lukaschenko gemeinsam. Die diesjährigen Sieger haben übrigens mit dem Lied "Running scared" gewonnen. Ob Markus Löning auch "erschreckt davongelaufen" ist, wissen wir nicht. Er ist jedenfalls wieder heil nach Deutschland zurückgekommen.

Am letzten Beispiel ersehen Sie, dass wir die Katastrophenliste des Märzgedichts zu Genüge abgearbeitet haben. Wir wollen uns Frühlingslüfte um die Nase wehen lassen. In der Türkei wurden die Journalisten Ahmet Sik und Nedim Sener nach 375 Tagen Untersuchungshaft entlassen. Man hatte ihnen vorgeworfen, die aus Ex-Militärs bestehende Terrororganisation Ergenekon unterstützt zu haben, obwohl die beiden Männer selbst entscheidend dazu beigetragen hatten, das Verfahren gegen die Gruppe überhaupt ins Rollen zu bringen. Den beiden Journalisten droht immer noch der Prozess, aber Sik gab sich bei der Entlassung ungebrochen. Er werde erst ruhen, wenn die Richter, die ihn ins Gefängnis geschickt hätten, selbst hinter Schloss und Riegel säßen.

Ein (Frühlings) "Wind des Wandels" weht weiterhin durch Myanmar. Aung San Suu Kyi, eine der Hoffnungsträgerinnen der Menschheit, darf zu den Nachwahlen für das Parlament antreten – und siegt triumphal. Nyi Nyi Oo, einer ihrer Wahlkampfhelfer, der genau die Hälfte seines Lebens – 22 Jahre und drei Monate – im Gefängnis verbracht hat, betreibt die Vergangenheitsbewältigung auf seine Art: "Wenn man eine Nation neu aufbauen will, ist darin kein Platz für Hass."

Und damit sind wir bei den "Liebesgrüßen aus Tel Aviv" angelangt. "Israel liebt Iran", haben Ronny Edry und Michal Tamir über Facebook ins Internet gestellt. Sie wollten eine Gegenmeinung mobilisieren, die den Kriegstreibern auf beiden Seiten den Wunsch der Völker nach Frieden vorhalten sollten. Und die Reaktion war überwältigend. Auch aus dem Iran kam Zustimmung – trotz Internetblockade und deshalb meistens anonym. Die "Zeit" schrieb dazu prägnant aber von der Wortwahl her reichlich deplaziert: "Vielleicht brauchen Ahmadinedschad und Netanjahu genau das: einen Shitstorm voller Liebe."

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April 2012

"Der Mond in seiner goldenen Jacke

versteckt sich hinter dem Wolken-Store.

Der Ärmste hat links eine dicke Backe

und kommt sich ein bisschen lächerlich vor.

Auch diesmal ist es dem März geglückt:

Er hat ihn in den April geschickt. "

Wir müssen, es sei zugegeben, Erich Kästner etwas Gewalt antun, um sein Aprilgedicht in Richtung Aprilwirklichkeit zu verbiegen. Bei der "dicken Backe" fällt einem natürlich gleich Günter Grass ein, der für sein Gedicht "Was gesagt werden muss" zuhause heftige Prügel bezogen hat und von der israelischen Regierung mit einem Einreiseverbot belegt wurde. In dem Gedicht, das von echter Lyrik so weit entfernt ist, wie die iranischen Atomanlagen von den israelischen Flugplätzen, hat er einiges gesagt, was gesagt werden darf, und einiges, was er besser (so) nicht gesagt haben sollte. Natürlich darf man sagen, dass Israel Atommacht ist und dass man einen "Erstschlag auf Vermutung" ablehnt. Ob es aber "die Atommacht Israel ist, die den Weltfrieden gefährdet", ist nicht "mit letzter Tinte" sondern mit der falschen Feder geschrieben. Was aber zur Teilrehabilitierung von Grass auch gesagt werden muss, hat Johano Strasser, der Vorsitzende des deutschen P.E.N.-Zentrums, auf den Punkt gebracht: "Kritik an der Politik der israelischen Regierung ist natürlich kein Antisemitismus." Und hinzufügen möchte man noch: "Welch glückliches Land! Wo man sich wegen eines Gedichtes die Haare ausrauft!"

Da sollte man sich doch ein Beispiel an Sebastian Vettel nehmen, der nicht nur auf der Rennbahn weiß, wo es letzten Endes lang geht. Der leidigen Boykottaufrufe gegen das Formel 1 Rennen in Bahrain überdrüssig, soll er seine Sehnsucht zum Ausdruck gebracht haben, endlich in sein Auto steigen zu können und sich "mit den Dingen zu befassen, auf die es wirklich ankommt – Reifentemperaturen". Einigen von uns mag eine solche Äußerung "ein bisschen lächerlich" vorkommen, für die Frau auf dem Foto war es Verhöhnung pur. Sie wird es wohl nie in die Pole-Position schaffen, aber wir hätten sie gerne als Chefmechanikerin beim Boxenstopp von Sebastian Vettel gesehen.

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Am Tag, so die SZ, "an dem die Formel 1 Bahrain grünes Licht signalisierte, legte Amnesty International einen ernüchternden Bericht zur Lage in dem Land vor. Die versprochenen Reformen würden nur bruchstückhaft umgesetzt, und noch immer wende die Staatsgewalt unverhältnismäßige Gewalt gegen Demonstranten an". Als Bernie Ecclestone, der Vermarkter des Formel 1 Spektakels dann noch davon sprach, dass alles "ruhig und friedlich" sei, fühlten wir uns mehr als nur "in den April geschickt".

Der Boykott von Großereignissen war auch im April ein beherrschendes Thema der Berichterstattung, und man war sich nicht einig, ob "Spiele" aller Arten ein Regime aufwerten würden oder eine Chance böten, Defizite bei den Menschenrechten anzumahnen. Eine Verlegung der Fußball-EM aus der Ukraine würde, im Unterschied zum Autorennen in Bahrain, auch das Volk treffen, aber wie wäre es, wenn die Sportler mit einem "I love Julia Timoschenko" Trikot einlaufen würden? Ob die Solidarität mit der Politikerin bei den deutschen Fans allerdings so weit gehen würde, dass sie beim Eröffnungsspiel gegen die Niederlande orange Schals (die Symbole der "orangenfarbenen Revolution" von 2004) tragen würden, wurde nicht nur in der "Heute Show" mit Fug und Recht bezweifelt.

Also was tun? Die Fußballer sollen ruhig hinfahren, und die Politiker sollen zuhause bleiben. Da gibt's auch was zu tun.

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Janukowitsch allein zuhaus

Aus Weißrussland, wo, wie erwähnt, die Eishockey WM von 2014 stattfinden soll und das sich verschärften Sanktionen der EU gegenübersieht, erschallen nach den Genickschüssen vom März die Friedensschalmeien. Einem Gnadengesuch der inhaftierten Regimekritiker Sannikow und Bondarenko wurde huldvoll stattgegeben.

Einen Aprilscherz der harmloseren Art hat sich die Polizei in einer Kleinstadt in Georgia/USA geleistet. Ein Mädchen hatte im Direktorat ihrer Schule zu randalieren begonnen und wurde von der Polizei vorschriftsmäßig abgeführt, die Arme mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Das Mädchen war sechs Jahre alt. Dazu passend eine Meldung aus Florida/USA. Da wurde ein eineinhalbjähriges Mädchen "aus dem Flugzeug geworfen". Gott sei Dank, ist die Meldung nicht wörtlich zu nehmen: Die Kleine durfte halt nicht mitfliegen, weil ihr Name auf einer Liste von mutmaßlichen Terroristen stand. Im Juni ist dann ein Plan aufgeflogen, bei dem ein Terrorist (und Doppelagent) den Sprengstoff in der Unterhose transportieren wollte – und von der Unterhose zur Windel ist es tatsächlich nur mehr ein Katzensprung.

Die Zurückweisung des Mädchens, deren Mutter verschleiert war, war angeblich auf eine Computerpanne zurückzuführen, und von der "Panne" zum "Vergehen" werden die Wege auch immer kürzer. Als in Emden/Deutschland ein mutmaßlicher Kindermörder festgenommen wurde, haben sich auch die sozialen Netzwerke eingeschaltet – aber eher auf unsoziale Art. Die SZ kommentierte: "Die Digital-Gestapo verbreitete Namen und Anschrift des Tatverdächtigen und lud Fotos jenes Hauses hoch, in dem der junge Mann wohnte." Zur Lynchparty vor der Polizeistation erschienen immerhin 45 Leute. Zum "Strafvollzug" ist es nicht gekommen, sonst hätte man die Grabinschrift eines gewissen George Johnson übernehmen müssen, der in Tombstone /Arizona (unschuldig) einem Lynchkommando zum Opfer fiel. Da steht nämlich. "Er hatte Recht, wir nicht, aber wir haben ihn trotzdem aufgehängt." Im Mai wurde ein Facebook-Sheriff zu zwei Wochen Jugendarrest verurteilt. Seinen Aufruf "zu den Bullen zu gehen und das Schwein totzuhauen", hat er bedauert.

Mit der klaren Unterscheidung zwischen Gut und Böse etwas härter tun wir uns im Falle der Hochspringerin (und Polizistin) Ariane Friedrich. Sie hatte von einem Stalker eine obszöne Mail bekommen und hatte diese Mail zusammen mit dem vollen Namen und Wohnort des Mannes auf ihrer Facebook-Seite veröffentlicht. Da brach der Shitstorm los, wohlgemerkt nicht gegen den Stalker, sondern gegen das Opfer. Ob sie etwa wieder den Pranger des Mittelalters einführen wollte? Nun, gegen Bloßstellung am Pranger sind wir natürlich (prinzipiell) auch, aber die Frage muss schon erlaubt sein, ob zuerst die Henne da war oder das (Kuckucks)Ei. Der Staatsanwalt führt ein Ermittlungsverfahren gegen den Stalker, aber bei Friedrichs Dienstherren, der hessischen Polizei, prüft man "ob ein Disziplinarverfahren wegen Verstoßes gegen das Persönlichkeitsrecht gegen sie eingeleitet werden muss". Auf ihrem Grab würde dann stehen: "Sie hatte Recht, aber wir haben sie trotzdem entlassen." Im Mai liefen dann mehrere Anzeigen gegen Frau Friedrich ein. Man warf ihr "Beschuldigung eines Unschuldigen" vor. Naja!

Bleiben wir bei der Justiz. In Argentinien hat der Hauptverantwortliche des "Schmutzigen Krieges" von 1976 bis 1983, Jorge Rafael Videla, die Ermordung von politischen Gegnern zwar eingeräumt aber nicht bedauert. Es sei darum gegangen, "eine anarchisierte Gesellschaft zu zivilisieren". In der Türkei stehen die Ex-Generäle vor Gericht, die vor 30 Jahren (!) für den Militärputsch verantwortlich waren. Der Putsch sollte den Kämpfen zwischen rechts- und linksgerichteten Gruppen ein Ende setzen, führte aber seinerseits zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen: 300 Häftlinge kamen in Gefängnissen ums Leben, 49 Menschen wurden hingerichtet. Vom damaligen Staatschef Evren ist der Ausspruch überliefert: "Sollen wir diese Terroristen füttern, anstatt sie aufzuknüpfen?" Und schließlich wurde in Den Haag Charles Taylor verurteilt, der den Bürgerkrieg in Sierra Leone (1996 – 2002) am Kochen hielt, sich mit Blutdiamanten bezahlen ließ und zu einem der Stammväter der Kindersoldaten wurde. Die SZ befasste sich intensiv mit den widersprüchlichen Zeugenaussagen und der unklaren Beweislage und machte aus Taylor einen "skrupellosen Machtpolitiker", dem sein "übler Leumund zum Verhängnis wurde". Auf Englisch würde man sagen: "We beg to differ." (Wir erlauben uns, anderer Meinung zu sein – als die SZ) Im Mai wurde er dann zu einer Haftstrafe von 50 Jahren verurteilt, was die SZ zu dem Kommentar veranlasste, dass man wieder einmal "die Kleinen hänge", während George W. Bush und Tony Blair (wegen des "völkerrechtswidrigen Krieges im Irak") ungeschoren davonkämen. Aber so klein war er auch wieder nicht!

Allen Opfern dieser Herren, und es sind immer die Männer, widmen wir eine Karikatur aus dem Jahre 1813.

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Computertomographie eines Machtmenschen

Zum Abschluss kehren wir zum Kästner-Gedicht zurück. In den April geschickt wurden die Bewacher des Bürgerrechtlers Chen Guangcheng. Es gelang ihm, aus seinem Hausarrest zu entfliehen. Da war einmal "der Blinde König unter den Zweiäugigen", denn Chen ist blind, was von seinen Bewachern wohl nicht anzunehmen ist. Fortsetzung folgt im Maibericht. In Nordkorea schrie eine Langstreckenrakete, die einen Satelliten (und später vielleicht auch etwas anderes) befördern sollte, wenige Minuten nach dem Start "April, April!" – und explodierte. Unser Mitleid hielt sich in Grenzen – das des Karikaturisten ebenfalls.

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Mai 2012

"Melancholie und Freude sind wohl Schwestern.

Und aus den Zweigen fällt verblühter Schnee.

Mit jedem Pulsschlag wird aus heute gestern,

Auch Glück kann wehtun. Auch der Mai tut weh."

Wie im Vormonat bereits erwähnt, begann der Mai mit einer Flucht, die zeigte, dass "Melancholie und Freude" tatsächlich eng verbandelt sind: Der chinesische Dissident Chen Guangcheng, der vier Jahre Gefängnis und zwei Jahre Hausarrest mit gelegentlichen Misshandlungen hinter sich hatte, weil er erzwungene Abtreibungen und ungewollte Sterilisierungen öffentlich gemacht hatte, flüchtete in die amerikanische Botschaft in Peking, wurde von dort in ein Krankenhaus hinauskomplimentiert und nach einer diplomatischen Schamfrist in die USA entlassen. Soweit die Freude! China hielt sich auf seine Art für den "Gesichtsverlust" schadlos: Chens Familie soll massiven Schikanen ausgesetzt sein. Und das zur Melancholie!

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Was uns in Deutschland weh tat, war der Waffen(schul)gang in Memmingen, wo "nur Glück und ein professioneller Polizeieinsatz einen weiteren Amoklauf eines Jugendlichen" verhinderten. Grund genug, uns ein wenig auf die Sportschützen und ihre Lobbyisten einzuschießen. Hoffentlich liest keiner von ihnen diesen Jahresbericht. Der könnte ihnen schon einen (Schreck)Schuss wert sein. Wir wollen aber nicht verallgemeinern. Die meisten von ihnen gehen vernünftig mit ihren Geräten um, könnten aber ihren Sport auch ohne großkalibrige Vernichtungswaffen ausüben. Ein solcher Verzicht hätte einen positiven "Rückstoß" auf ihr Image und passte auch gut zur derzeitigen AI-Kampagne: "Hände hoch für Waffenkontrolle."

Wo uns das Blut in den Kopf geschossen ist, um auf dieser Ebene zu verbleiben, war ein Artikel in der "Zeit", aus dem wir zwei Kostproben zitieren wollen. Als in Erfurt im April 2002 der Amoklauf stattfand, diskutierte der Bundestag gerade über das neue Waffenrecht. Nach der Debatte sah sich der Cheflobbyist der Schützengilde, Joachim Streitberger, seine SMS an. Um einer Verleumdungsklage zu entgehen, verschanzen wir uns hinter den Redakteuren der "Zeit":

Die SMS "informieren ihn über den Amoklauf in Erfurt. Anfangs ist von drei Toten die Rede, und Streitberger sagt zu einem Kollegen, drei Tote, das halte man aus."

Und als es 2009 zum Massaker von Winnenden kommt,

"stellt die Redakteurin eines Blogs für Waffenbesitzer einen offenen Brief an die Eltern von Winnenden ins Netz, in dem steht, dass sie endlich verstehen sollen, dass ihre Eigenschaft als Opfer sie nicht befähige, sich zum Waffenrecht zu äußern".

Auch wenn das folgende Bild durchaus zum Thema passt, möchten wir der Fairness halber hinzufügen, dass Böller bei den Amokläufen noch nie zum Einsatz kamen. Auch die Schützen selber schauen so aus, als könnte man ihnen ohne Bedenken im Wald begegnen. Außerdem sind sie vollauf damit beschäftigt, die Fronleichnamsprozessionen vor den gottlosen Tirolern zu schützen.

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Wir erlauben uns zwei Rückblicke auf den Jahresbericht von 2011. Zur Einstellung des Verfahrens wegen des umstrittenen Polizeieinsatzes in Pfaffenhofen (Kreis Rosenheim) gab es nachdenkliche und scharfe Kommentare in den Tageszeitungen. Der "Merkur" forderte die Polizei in aller Vorsicht auf, "selbstkritisch zu prüfen, ob das Verhalten mancher Beamter im Einsatzalltag zeitgemäß und angemessen ist", während die SZ sich Volkes Meinung zu eigen macht und schreibt: "… denn außer der Staatsanwaltschaft und vermutlich der Mehrheit ihre Kollegen glauben in Rosenheim nicht viele, dass die Polizisten in diesem Fall die Unschuldslämmer waren".

Erinnert haben wir 2011 auch an Ampon Tangnoppakul/Thailand, der wegen angeblicher Majestätsbeleidigung zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde. Jetzt müssen wir seiner gedenken; er starb im Gefängnis. Majestät können wieder ruhig schlafen.

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Bester Laune scheint dagegen ein anderer Häftling zu sein: Ratko Mladic. Er scheint den Prozess in Den Haag sichtlich zu genießen. Er äfft die Zeugen nach, ignoriert die Ordnungsrufe der Richter und grinst, als man einen Videofilm vorführt, in dem er prahlt, bei jedem Besuch in Sarajewo einen "Türken"/bosnischen Muslim zu töten. In der Monatsmitte wurde der Prozess auf unbestimmte Zeit vertagt, weil die Staatsanwaltschaft der Verteidigung Dokumente vorenthalten hat. Der Prozess soll übrigens drei Jahre dauern, eine neue Erfahrung für den General, der eher auf "kurze Prozesse" gesetzt hatte.

Eine schwierige "Abrechnung mit der Geschichte" findet derzeit in Guatemala statt. Das Land war drei Jahrzehnte lang Schauplatz eines blutigen Bürgerkrieges, der 200 000 Menschenleben forderte und in der Erstürmung der spanischen Botschaft im Januar 1980 gipfelte. Das Land tut sich schwer mit der Vergangenheitsbewältigung, weil Diktatoren wie Ríos Montt jahrelang Immunität genossen, weil mutmaßliche Täter alle die rechtsstaatlichen Mittel ausschöpfen, die ihren Opfern einst vorenthalten wurden und weil jetzt ein Ex-General Staatschef ist, der Menschenrechtsorganisationen aufgefordert hat, sich weniger in die Justiz einzumischen. Stein des Anstoßes zur Aufklärung der Verbrechen während des Bürgerkrieges wurde Rigoberta Menchú, Friedensnobelpreisträgerin von 1992. Immerhin: Ríos Montt ist seit Januar unter Hausarrest, der Polizeioffizier Arrondo, verantwortlich für die Erstürmung der Botschaft, und einer der "berüchtigtsten

Überschreiter von Menschenrechten" steht derzeit vor Gericht. Zur Verhandlung erscheint er mit der Gesichtsmaske der Todesschwadronen. Guatemala ist übrigens eng mit der Anfangszeit von AI-Miesbach verknüpft. Wir haben uns jahrelang für den (ermordeten) Gewerkschaftler Pedro Ramos Micatú eingesetzt.

In Baku/Aserbaidschan ging der ESC (European Song Contest) über die Bühne. Gewonnen hat ihn die Schwedin Loreen. Auch AI hätte für sie gestimmt, denn sie soll die einzige gewesen sein, die sich in "schlechte Gesellschaft" begeben hat. Sie hat nämlich das Büro der Menschenrechtler besucht. In Deutschland hat sich die Jurorin Anke Engelke über das Verbot hinweggesetzt, politische Andeutungen zu machen. Von der Reeperbahn/der Großen Freiheit (!) aus hat sie Aserbaidschan mit den Worten "Es ist gut, eine Wahl zu haben", viel Glück auf der Reise nach Europa gewünscht. Während manche diese "klare" oder doch eher "verschlüsselte" Äußerung bejubelt haben, hat die SZ einen bösen Vergleich gezogen: "Ein bisschen wirkte das wie Kabarett in der DDR, wo auch oft ein paar Andeutungen reichen mussten." Aber das "bisschen Andeutung" kann ihr gut und gerne ihren Platz in der nächsten ESC-Jury kosten. Einen Vorschlag für einen intelligenten Protest möchten wir uns nicht verkneifen: Wie wäre es gewesen, wenn alle Sängerinnen und Sänger ihren Beitrag mit "Brüder, zur Sonne zur Freiheit" eingeleitet hätten? Das Lied war doch früher in Aserbaidschan auch erlaubt. Aserbaidschan ist übrigens auf den 4. Platz gekommen. Die AI-Jahresver-sammlung in Ulm hätte anders abgestimmt, aber es versteht sich von selbst, dass die von ihr vergebenen

0-Punkte nicht der Sängerin Sabina Babayeva gegolten hätten.

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Von Loreen zu Aung San Suu Kyi. Die "tapfere Lady" weigerte sich zunächst, bei der Parlamentseröffnung den Amtseid auf die Verfassung zu leisten. Sie wolle die Verfassung, die die Vormacht der Generäle garantiert, nicht "schützen", sondern nur "respektieren". Wenn man das Foto sieht, weiß man, warum sie sich zunächst geweigert, aber schließlich doch nachgegeben hat.

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Als sie dann im Juni mit 21 Jahren Verspätung den Friedensnobelpreis ausgehändigt bekam, zeigte sich, dass man ihr den Schneid noch nicht abgekauft hatte. Sie begrüßte die Freilassung der bekanntesten politischen Häftlinge, fügte aber hinzu: "Aber man muss befürchten, dass die Unbekannten vergessen werden." Sie erinnern sich? Peter Benenson hat 1961 den Gründungsartikel von AI mit "The Forgotten Prisoners/Die vergessenen Gefangenen" überschrieben.

Wo der Mai wirklich wehtat, war der Bericht über das Massaker von Hula/Syrien, bei dem über 100 Menschen getötet wurden, darunter 49 Kinder und 34 Frauen. Im Internet entbrannte ein heftiger Streit, ob die Opfer überwiegend Sunniten oder Schiiten/Alawiten waren und als Täter infolgedessen regimefreundliche oder regimefeindliche Milizen in Frage kämen, aber die Opfer werden darüber auch nicht mehr lebendig. Diese Diskussion zeigt aber die Ohnmacht der Staatengemeinschaft. Man flüchtet auf "Nebenkriegsschauplätze", weil man sich nicht einigen kann (und will), wie der Hauptkonflikt zu lösen ist. Es wird noch viele Hulas geben.

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Bleiben wir beim Islam, gehen wir nach Bayern. Unser Innenminister Markus Söder, der beim Fasching in Veitshöchheim oft die beste Maskierung hat, verkündete auf einem türkischen Kulturfest, dass "der Islam ein Bestandteil Bayerns sei". Von seinem Sprecher kam zwar postwendend die Richtigstellung, dass Söder gemeint habe, die Menschen/Muslime gehörten zu Bayern. Auch recht! Aber zurück nach Veitshöchheim.

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Stellen Sie sich diesen Mann mit krausem Vollbart vor! Könnte doch glatt ein Salafist sein.

Es ist Zeit, zum Juni überzugehen.

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Juni 2012

"Am letzten Tische streiten sich

ein Heide und ein Frommer,

ob's Wunder oder keine gibt.

Und nächstens wird es Sommer."

Ach hätten sie doch nur um Wunder gestritten! Für den Verfasser dieses Berichts war der Juni ein Monat schwieriger Entscheidungen, und er war froh, sie nicht treffen, sondern nur darüber nachdenken zu müssen. Wie ist Obamas Drohnenkrieg moralisch zu bewerten? Soll man an Israel U-Boote liefern, jetzt wo man weiß, dass sie nicht zur Tiefseefischerei verwendet werden? Und, nicht zuletzt, soll man die europäischen Südstaaten weiter unterstützen, wo sie uns doch den für Deutschland reservierten EM-Pokal schnöde entwendet haben? Im Jahre 1968 erschien der Film "Artisten in der Zirkuskuppel ratlos". Nun, wir sind weder Politartisten, noch streben wir nach einem Platz in der Zirkuskuppel, aber ratlos sind wir allemal, vor allem vor der Frage, wer denn die Heiden und wer die Frommen sind.

In Washington soll es inzwischen einen "Terror Tuesday" ("Terrordienstag") geben. Da fliegt nicht etwa ein Terroristenflugzeug auf das Weiße Haus zu, sondern da prüft der amerikanische Präsident eigenhändig die Todeslisten, die ihm das Verteidigungsministerium vorgelegt hat. Und wenn der mutmaßliche Al-Qaida-Terrorist genügend auf dem Kerbholz hat, wird die Killerbiene/Drohne auf ihn abgefeuert. Da ist nur zu hoffen, dass neben dem Vorstrafenregister auch geprüft wird, wie viele Zivilisten als mögliche Kollateralschadensfälle ums Leben kommen könnten. Völkerrechtler haben ihre Zweifel, ob diese Prüfung mit gebührender Sorgfalt durchgeführt wird und streiten sich heftig, ob Drohnenattacken wirklich ein Schritt zum "sauberen Krieg" sind. Unser Rat an Obama: Friedensnobelpreis zurückgeben!

"Lieferungen unter Verdacht, hochbrisante Geschäfte, besondere Beziehungen, Israels Lebensversicherung", das waren die Schlagzeilen, die das deutsche U-Boot Geschäft mit Israel begleiteten. Unsere Analyse ist wie immer messerscharf und in sich unschlüssig: Die mit Atomwaffen bestückten U-Boote sollen Israels Zweitschlagkapazität gewährleisten; Waffenlieferungen in Spannungsgebiete verstoßen gegen die Bestimmungen für den Rüstungsexport. "Aber", so ein ehemaliger General der Bundeswehr, "bei Israel laufen die Dinge eben anders". Müssen wohl anders laufen, so die SZ, "auf Grund der deutschen Vergangenheit und Israels geostrategischer Lage".

Was tun? Liefern und drängen. Darauf dringen, dass Israel die Lieferbedingungen erfüllt, z.B. die Eindämmung der illegalen Siedlungspolitik, und dass die Regierung mehr Energie in den Friedensprozess mit den Palästinensern investiert, damit die U-Boote eines Tages doch eine andere Funktion bekommen könnten – Taucherbasen im Roten Meer beispielsweise. Das wäre allerdings ein Wunder.

Die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland war Thema eines der schärfsten Kommentare, den die SZ je gegen die Regierung Netanjahu losgelassen hat. Ein Gericht in Jerusalem hatte die Zwangsräumung des Außenpostens Ulpana verfügt, aber die Regierung beeilte sich, den wütenden Siedlern "den Landraub zu vergolden". Für die fünf geräumten Häuser sollen im Westjordanland 851 neue Siedlerwohnungen gebaut werden. Kein schlechtes Geschäft – für die Siedler. Da werden sie in Zukunft noch öfter ihre eigene Zwangsräumung vor Gericht beantragen.

Zurück zu den Wundern. Das "Wunder von Kiew" ist ausgeblieben. Angela Merkel soll im Halbfinale den Italienern die Daumen gedrückt haben - nur in der Tasche ihres Hosenanzugs versteht sich - weil ihr die Entscheidung erspart blieb, im Finale dem Janukowitsch die Hand zu schütteln, aber leider gab es auch wirklich unerfreuliche Momente. In München skandierten nach dem Sieg gegen Portugal etwa zehn Rechtsradikale: "Wir bauen eine U-Bahn von der Türkei nach Auschwitz", und im Internet tauchte die Forderung auf, dass nur noch Spieler mit deutsch klingenden Nachnamen in die Nationalmannschaft aufzunehmen seien. Diese Stimmen konnte man noch den gestörten Randbezirken unserer Gesellschaft zurechnen, aber was sich die UEFA bei ihrer Bildberichterstattung ("Weltbild") leistete, war auch behandlungs-/reformbedürf-. tig. Wir zeigen das Bild, auf dem zwei Grüne mit einem Transparent von der Prominentenloge herab für "ein faires Spiel in Fußball und Politik" warben. Das Bild passte nicht in das "Weltbild" der UEFA, der ZDF-Reporter hat das Transparent immerhin erwähnt – genauso vorsichtig wie sich auch Anke Engelkes Einlassung beim Eurovisions Wettbewerb anhörte.

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Vor den beiden Abgeordneten ziehen wir den Hut. Sie haben das gemacht, was AI für solche Großveranstaltungen fordert: "Hinfahren ja, aber mit einer Botschaft im Gepäck."

Eine Situation, wo es echten Zoff gab, wo die Heiden und die Frommen auch nicht so ohne weiteres von-einander zu unterscheiden sind, aber wo "es nächstens doch Sommer werden könnte", spielte sich in Sachsen-Anhalt ab. Volkes Stimme erhob sich lautstark ("kastrieren und weg") gegen die Anwesenheit von zwei nach 25 Jahren entlassenen Sexualstraftätern. Um dem Volkszorn entgegenzutreten, waren 70 Abgeordnete in das Dorf gekommen, die die Bewohner an das Recht, den Aufenthaltsort frei zu wählen, zu erinnern versuchten. Zunächst ohne großen Erfolg: Die meisten Bewohner blieben der Versammlung fern. Im Juli fand dann eine Demo gegen die Hetzkampagne statt, an die sich, wie sollte es anders sein, auch die staubigen Brüder von der NPD beteiligten. Die Demo wurde zunächst "wegen Störung des öffentlichen Friedens" verboten, dann aber unter Auflagen erlaubt. Zahlenmäßig die stärkste Gruppe scheint die Polizei gewesen zu sein. Ob sich die Stimmung gegenüber den Neubürgern langsam wenden könnte, bleibt offen. Es gibt zwar freundlichere Leserbriefe in der Zeitung und das Angebot von Nachbarn, Einkäufe zu übernehmen - aber diese Nachbarn werden dafür von ihren Mitbürgern gemobbt.

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Mobbing hätte der iranische Rapper Shahin Najafi vielleicht noch weggesteckt, aber die Fatwa, die iranische Ayatollahs gegen ihn erlassen hatten und die "im Namen Gottes des Barmherzigen" auch in Deutschland verbreitet wurde (mutmaßlich von einem früheren Mitarbeiter des iranischen Generalkonsulats in München) ist ein anderes Kaliber. Najafi hatte sich in einem Lied an einen Imam des neunten Jahrhunderts gewandt, mit der ironischen Bitte, "gegen Sexualisierung (?), Korruption und falsche Prediger" im (heutigen) Iran vorzugehen. Die Ayatollahs reagierten auf das Lied mit der vertrauten Litanei von "Ketzerei, Gotteslästerung und Abfall vom Glauben". Auf Najafi ist ein Kopfgeld von 100 000 Dollar ausgesetzt, und er erhält derzeit zwischen zwei und zehn Morddrohungen pro Tag. In Deutschland haben 50 Künstler einen Solidaritätsaufruf unterzeichnet, in dem die Freiheit der Kunst (und das Recht zu provozieren) eingefordert werden. Zu den Unterzeichnern zählt auch Frank-Markus Barwasser, sodass wir in Bälde mit einer neuen Sendung zu rechnen haben: "Pelzig engagiert sich." Die iranische Botschaft streitet übrigens ab, dass es überhaupt eine Fatwa gäbe, die "persönlich gegen Najafi" gerichtet sei. Will ihn wohl aus dem Versteck locken, in dem er unter Polizeischutz steht.

Die Ayatollahs im Iran sollten sich an Niederbayern ein Beispiel nehmen. Auch dort gibt es Konflikte mit religiösem Hintergrund, doch ausgetragen werden sie zwar handfest aber weit unterhalb der Mordschwelle. Da spielte sich am Palmsonntag in Vilshofen ein "Zickenkrieg" zwischen zwei Ministrantinnen ab. Streitobjekt war nicht die Würde eines verflossenen Imams, sondern das Rauchfass und wer es schwenken durfte. Nach der Messe kam es auf dem Kirchplatz zum Showdown, es fielen Watschen, die Verwandtschaft schaltete sich ein, und jetzt liegt eine Strafanzeige vor. Man kann sich gut vorstellen, wie der Dompfarrer in der Münchner Frauenkirche, wo Ministrantinnen zwar nicht verboten, aber auch nicht willkommen sind (also nicht vorkommen), reagiert hat: "Das hat man davon, wenn man die Mädchen ranlässt."

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Juli 2012

"Im Feld wächst Brot. Und es wachsen dort

auch die künftigen Brötchen und Brezeln.

Eidechsen zucken von Ort zu Ort.

Und die Wolken führen Regen an Bord

und den spitzen Blitz und das Donnerwort.

Der Mensch treibt Berg- und Wassersport

und hält nicht viel von Rätseln."

Wie, in aller Welt, soll man mit diesen Sommerversen einen Bezug zur Winterwelt herstellen, die uns auch im Juli wieder frösteln ließ? Aber wenn es Kästner gelungen ist, für seine "Brezeln" ein leidlich passendes Reimwort zu finden, dann werden auch wir nicht daran scheitern, einige Ereignisse so zurechtzubiegen, dass sie zu den Versen passen. Mit "Blitz und Donner" haben wir sowieso keine Probleme, aber fangen wir mit den Rätseln an.

Es wird uns – dem alten wie wohl auch dem neuen Europa – ein Rätsel bleiben, wie amerikanische Präsidenten und Kandidaten über ein Massaker im Kino sprechen können, ohne die laxen Waffengesetze zu kritisieren . In Aurora/Colorado hatte ein Amokschütze bei der Premiere des neuen Batman-Films zwölf Menschen getötet. Er war mit zwei Pistolen, einer Schrotflinte, einem Sturmgewehr und einem Großraummagazin mit 100 Schuss bewaffnet. In den Trauerbotschaften von Obama und Romney kam das Wort "Waffe" aber kein einziges Mal vor, so als ob die Opfer einer Schlaganfallstafette erlegen wären. Rätselhaft ist auch, warum in Colorado ein Volksentscheid aus dem Jahre 2000, der striktere Normen für Waffenbesitz verlangte, nicht zum Tragen kam. Und ein Rätsel bleibt auch, warum immer noch eine (knappe) Mehrheit der Amerikaner gegen eine Verschärfung der Waffengesetze ist. Die Auflösung der drei Rätsel können wir allerdings mitliefern: In Amerika ist Wahlkampf, die Waffenlobby dominiert die Politik (oder ist Teil derselben), und bei vielen weißen Männern hat sich eine "Festungsmentalität" entwickelt, die es gebietet, bei tatsächlichen oder vermeintlichen Bedrohungen aus allen Rohren feuern zu können.

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Zur Ehrenrettung des Präsidenten sei allerdings nachgetragen, dass er vor einer Organisation von Waffengegnern vorsichtig angedeutet hat, dass "halbautomatische Gewehre … nicht auf die Straßen unserer Städte gehören". Seinen Wahlchancen hat das nicht gut getan.

Die Waffenlobby schlägt für solche Situationen (mutmaßlich) vor, auch die Kinobesucher zu bewaffnen. Da wäre dann ein Geballer losgegangen, bei dem sich Batman schleunigst hinter die Leinwand verzogen hätte. Schon eine Woche später wurden in Wisconsin sechs Menschen in einem Sikh-Tempel erschossen. Der Täter hatte die Sikhs für Muslime gehalten. Die Aufregung im Lande hielt sich diesmal in Grenzen.

In Russland, Amerikas Gegenspieler im Kalten Krieg, ging es zwar nicht um Leben und Tod, aber doch um sieben Jahre Frischluft oder Gittermief. Eine Punkband namens "Pussy Riot" (frei übertragen mit "Aufstand der Miezekatzen") hatte im Februar vor der Altarwand einer Kathedrale in Moskau ein Punk-Gebet gesprochen und als Refrain "Mutter Gottes, verjage Putin" skandiert. Daraufhin steckte man sie fünf Monate in Untersuchungshaft Der Staat wirft ihnen "Rowdytum", die Kirche "Blasphemie" vor. Soweit unsere Informationen reichen, fühlten sich weder der liebe Gott noch die Jungfrau Maria belästigt, aber den drei jungen Frauen droht eine Höchststrafe von sieben Jahren Lagerhaft. Dazu wird es voraussichtlich nicht kommen, denn Putin hat eine "nicht zu harte" Strafe befürwortet, die orthodoxe Kirche hat sich, getreu dem alten Plattenlabel "His Master's Voice", dem angeschlossen, und der Staatsanwalt hat (daraufhin?) nur mehr drei Jahre beantragt. Wenn sie da nur nicht die Rechnung ohne die Richterin gemacht haben! Frau Syrowa hat schon 178 Urteile gesprochen, und dabei gab es nur einen Freispruch – bei einem Verkehrsunfall.

Dass das Treiben der Miezekatzen in der Kathedrale bunt war, für manche von uns, das sei zugestanden, etwas zu bunt, ist keine Frage,

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aber dass man sie deshalb wie Schwerverbrecherinnen behandelt, das ist schlimmeres Rowdytum und, wenn man den Menschen als Ebenbild Gottes sieht, echte Blasphemie.

Amnesty hat die drei Frauen als politische Gefangene adoptiert und in 44 Städten gibt es am Tag der Urteilsverkündung (17. August) Demonstrationen. In München wurde dafür sogar das Vermummungsverbot aufgehoben. Die Teilnehmer dürfen bunte Masken tragen – müssen aber ihren Ausweis dabei haben.

Trotz (oder wegen) internationaler Proteste hat Frau Syrowa voll zugeschlagen: Sie verhängte zwei Jahre Lagerhaft und blieb damit nur ein Jahr unter der Forderung des Staatsanwalts. Ob Putin das als "milde" Strafe versteht, wissen wir nicht, aber die Kommentatoren gehen davon aus, dass es ein Putin-Urteil an die Adresse der Opposition ist. "Bleibt zuhause, sonst landet ihr im Gefängnis." Frau Merkel hat das Urteil als "unverhältnismäßig hart" bezeichnet. Putins Freund, Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der sich zurzeit auf lukrativen Vortragsreisen zum Thema "Europatauglichkeit von Agenda 2010" befindet, hatte sich auch sechs Tage nach Urteilsverkündung noch nicht geäußert. Die "Frankfurter Allgemeine" kommentiert unter dem anspielungsreichen Titel 'Das Schweigen': "Langsam beginnt sein Schweigen zu stinken." Im November haben dann die Anwälte der beiden Frauen ihr Mandat niedergelegt, "da sie ihre Mandantinnen nicht mehr beschützen können". Die neue Anwältin geht mit Vorschusslorbeeren ins Rennen: sie hatte für die dritte Pussyfrau eine Bewährungsstrafe durchgesetzt.

Kein "spitzer Blitz und Donnerwort" kam auf die Teilnehmer der UN-Konferenz zur Regulierung des internationalen Waffenhandels (ATT-Vertrag) hernieder, die über einen "robusten" Vertrag berieten. Er sollte u. a. verhindern, dass Waffen illegal in Konfliktgebiete geliefert und dort zu Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen missbraucht werden. Darauf, so meint man, müsste man sich doch einigen können. Konnte man nicht! Manche Länder, darunter Deutschland, wollten schärfere Formulierungen, anderen Ländern, darunter die USA, Russland und China, waren die Kriterien zu hart oder die Kontrollen, die sowieso nicht vorgesehen waren, zu umfassend. "Robust" hätte halt auch geheißen, dass womöglich die Exportgeschäfte Einbußen erlitten hätten und dass man seine "Freunde" in den Spannungsgebieten (Israel, Syrien, Sudan) nicht mehr so leicht hätte beliefern können. Bei der Konferenz anwesend waren übrigens auch Vertreter des WFSA, dem "Forum für die Zukunft von Sportschützenaktivitäten". War auch notwendig, denn auf der Konferenz ging es auch um die Lieferung von Kalaschnikows, der bei "überwiegendem Risiko" die Genehmigung hätte verweigert werden können.

Daheim in Deutschland waren die Reaktionen unterschiedlich: Außenminister Westerwelle war enttäuscht, Krauss-Maffei weniger. Es stehen nämlich an: Lieferung von Leopard-2 Panzern nach Katar und Indonesien. Würde wohl bei einem robusten ATT-Vertrag nicht so leicht über die Bühne gehen. In New York anwesend war auch die AI-Rüstungsexpertin aus Deutschland. Sie nannte das Scheitern "empörend".

Natürlich gäbe es im Juli noch zu berichten, dass sich zwei Länder, die bisher in unseren Jahresrückblicken nicht vorgekommen sind, ohne jegliche Diskretion um Aufnahme in denselben bewarben. Wir entsprechen ihrer "Bitte" in Kurzfassung: In Rumänien legt die Demokratie gerade den Rückwärtsgang ein: die handstreichartige Übernahme der Institutionen erinnert fatal an die Machtergreifung Hitlers, nur dass es diesmal, Ironie der Geschichte, die Sozialdemokraten und die Liberalen sind, die zugreifen. In Mali hingegen herrscht "Krieg im Krieg": Gaddafis arbeitslose Söldner kämpfen im Norden des Landes gegen die Islamisten, und die Regierung gegen alle beide. In Timbuktu, der "Perle der Wüste", wird Weltkulturerbe zerstört, im Dorf Aguelhok wird ein Paar wegen Ehebruchs gesteinigt. Die Dummheit wird immer noch von der Unmenschlichkeit überrundet.

Vom Kästnergedicht haben wir bisher die "Brötchen/Semmeln und Brezeln" außer Acht gelassen. Aber die bauen wir auch noch ein: Karlsruhe hat, mit einiger Verspätung, entdeckt, dass es bei der Versorgung von Flüchtlingen "ein offensichtliches Defizit in der Sicherung der menschenwürdigen Existenz" gibt. Und das Gericht hat verfügt, dass "niedrige Sozialleistungen nicht mehr zur Abschreckung von Zuwanderern eingesetzt werden" dürfen, hat das Asylbewerberleistungsgesetz also als "Rausekelgesetz" entlarvt. An die Brezen kommen Flüchtlinge jedenfalls jetzt leichter ran: das Taschengeld wurde von 40,90 auf 130,00 Euro pro Monat erhöht.

Jetzt bleiben nur noch "die Eidechsen, die von Ort zu Ort zucken". Die haben wir leider nicht integrieren können. Gezuckt hat es aber in unseren Mundwinkeln, als wir die Nachricht vom gelockerten Dresscode an der Uni Oxford lasen. Auf Antrag der Vereinigung Homo- und Transsexueller Studenten (und Studentinnen) hin, dürfen sich jetzt auch Männer in Röcken und Frauen in Anzügen prüfen lassen. Auch wenn Sie dieser Nachricht nicht das gebührende Gewicht beimessen, müssen Sie doch zugeben, dass wir Sie gegen Ende des Monats doch noch in die leichte Kästnersche Sommerstimmung versetzen konnten – auch ohne Eidechsen.

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August 2012

"Ein Erntewagen schwankt durchs Feld,

Im Garten riecht's nach Minze und Kamille.

Man sieht die Hitze. Und man hört die Stille.

Wie klein ist heut die ganze Welt!

Wie groß und grenzenlos ist die Idylle…"

Was, so werden Sie sich fragen, tut Pilatus im Credo (Osama bin Laden im Himmel, Romney im Weißen Haus – wenn's dazu kommt) und die Idylle in einem Jahresbericht von Amnesty International? Wurde da vom Duft "nach Minze und Kamille" der Geist umnebelt? Will man im Urlaubsmonat ein wenig Urlaub von den Menschenrechten machen? Unsere Antwort wie immer glasklar und kompromisslos: Ja, mitnichten!

Da gab's natürlich auch im August Ereignisse, wo es heiß herging. In Südafrika wurden 34 Minenarbeiter von der Polizei erschossen. Die Polizei sprach von Notwehr, aber im Fernsehen sah es eher wie ein "angeordnetes Massaker" aus. Wen wundert es, dass Erinnerungen an die Zeiten der Apartheid aufkamen? Aber heute sind die Freiheitskämpfer und Nationalhelden selber an der Macht.

Traumatische Erinnerungen wurden auch bei der Gedenkveranstaltung an die heißen Tage in Rostock vor 20 Jahren wach. Ein Mob aus Neonazis und Nachbarn steckten das Sonnenblumenhaus in Brand und jagten Asylbewerber und vietnamesische Vertragsarbeiter auf das Dach. Die Polizei zog ab, als es brenzlig wurde, die Politik gab dem "Volkszorn" nach - und änderte das Grundrecht auf Asyl. Als Zeichen des Lebens hatte man zum Jahrestag eine "Friedenseiche" gepflanzt, die aber nach drei Tagen der "Arbeitsgruppe antifaschistischer Fuchsschwanz" zum Opfer fiel, nachdem zuvor linke Kritiker die Eiche als "symbolisch vorbelastet" bezeichnet hatten. Auf einer der vorigen Seiten dieses Berichts war zu lesen, dass "die Dummheit immer wieder von der Unmenschlichkeit überrundet wird". Das gilt auch umgekehrt.

In beide Rubriken einzuordnen ist ein Vorfall in einem Dorf in der Provinz Helmand/Afghanistan. Dort scheinen 17 Menschen, darunter zwei Frauen, von den Taliban enthauptet worden zu sein, angeblich weil man sich zu einer gemischtgeschlechtlichen Party oder einem Musikfest getroffen hatte und die Männer den Frauen beim Tanzen zugeschaut hätten. Anderen Berichten zufolge seien die Männer Informanten der Regierung gewesen, und die beiden Frauen habe man "mitgeschlachtet", weil sie für die Männer um Gnade gebettelt hätten. Ganz gleich, wie's nun war: Es ist kein Grund, jemandem den Kopf abzuschlagen. Aber irgendwie fällt einem, ohne jetzt die Brutalität mancher ISAF-Einsätze verharmlosen zu wollen, bei dem Wort "Taliban" immer auch "Kannibale" ein. Muss wohl der Gleichklang sein!

Wenden wir uns nun der "Idylle" zu. Wir wollen den Begriff nicht allzu wörtlich nehmen. Vom "idealen, unschuldsvollen Zustand" der Welt sind wir weit entfernt, aber wenn wir die "ländliche Einfachheit" durch "menschliche Einfalt" ersetzen, können wir mit einigen Ereignissen aufwarten. Doch davon später.

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Patriarch Kirill und der katholische Erzbischof Michalik unterzeichneten den gemeinsamen Aufruf.

In den Bereich "Schritte zum Idealzustand" fällt der "historische Appell zur Versöhnung", zu dem die Kirchenführer Polens und Russlands aufgerufen haben. Die Bischöfe fordern darin die Gläubigen auf, "um Verzeihung für das Leid, die Ungerechtigkeiten und alles Böse zu bitten, das sie einander gegenseitig angetan haben". Und das war wahrhaftig nicht wenig! Nationalkonservative Politiker in Polen sind der Meinung, dass die Russen mit der Gegenseitigkeit recht gut wegkämen, aber der Verzicht auf das genaue Abzählen der Opfer und Untaten ist Voraussetzung für eine solche Versöhnung. Ein solcher Verzicht kommt nicht zuletzt auch uns Deutschen zugute. Ein bisschen stolz aber dürfen wir darauf sein, dass sich das Versöhnungsdokument an der Erklärung der polnischen und deutschen Bischöfe von 1965 orientiert, in der es geheißen hatte: "Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung."

Nun zur Idylle als Schauplatz "menschliche Einfalt". In einem Garmischer Werbeprospekt für arabische Touristen hat man die Perspektive auf den Gipfel der Zugspitze "geringfügig verschoben", weil man ihnen den Anblick des Gipfelkreuzes ersparen wollte. Die evangelische Regionalbischöfin Breit-Keßler hat diese profitorientierte Demutsgeste zutreffend kommentiert: "Dümmer geht's nimmer." Dazu passend die Dame hinter Gittern, die Thilo Sarrazin im Albtraum erschienen ist.

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Nur zur Klarstellung. Es geht uns hier nicht um die "Unschuld der Muslime", sondern um die Dummheit der Deutschen. Mit den Katholiken fand Ende Oktober ein Versöhnungsgespräch statt. Die Zugspitzbahn versprach, für die nächste Broschüre andere Bilder auszuwählen. Wie wär's mit einem Nachtfoto – das Gipfelkreuz unterm Halbmond?

Die Dummheit marschierte auch in eine Messfeier im Dom zu Köln. Unter dem Slogan "Aktion gegen Staaten, Knäste und Kirche in Solidarität mit Pussy Riot" störte eine Handvoll bunt gekleideter Demonstranten den Gottesdienst. Nach wenigen Minuten wurden sie von Ordnungsleuten ("Domschweizern") abgedrängt oder hinausgetragen. Einer der Demonstranten beschwerte sich, dass "die Kirche mit ihnen genauso brutal umgegangen sei, wie (die Kirche, Putin, das Gericht) mit den drei Frauen in Russland". Soweit die Dummheit. Die Kirche in Köln erstattete Strafanzeige wegen Hausfriedensbruch und Störung der Religionsausübung. Wenn die Gruppe zur möglichen Höchststrafe von drei Jahren verurteilt würde, müssten wir allerdings die Seiten wechseln.

Um unser Versprechen wahr zu machen, im August menschenrechtsmäßig etwas zu relaxen, schließen wir mit einer Karikatur zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den Einsatz der Bundeswehr im Inland bei "Ereignissen von katastrophischen Dimensionen". Die Entscheidung ist nicht nur sprachlich ein Problem, aber die Zeichnung passt gut zur Badesaison.

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September 2012

"Die Stare gehen auf die Reise,

Altweibersommer weht im Wind.

Das ist ein Abschied laut und leise.

Die Karussells drehn sich im Kreise.

Und was vorüber schien, beginnt."

Die Stare, der Altweibersommersommer und die Karussells (des Oktoberfestes) reimen sich mit den Themen unseres Jahresrückblicks schlecht zusammen. Bleibt nur die letzte Zeile "Und was vorüber schien, beginnt." Machen wir uns also auf die Suche nach den Wiedergängern!

Ein solcher Wiedergänger ist der Film "Unschuld der Muslime", in dem Mohammed "als sexbesessener Anführer einer Horde halbwilder Dummköpfe dargestellt" wird. Ob die Schmähung des Propheten gleich als Gotteslästerung einzustufen ist, sei dahingestellt, eine Lästerung religiöser Gefühle und des guten Geschmacks ist er allemal. Wiedergängerisch sind allerdings auch die Reaktionen auf den Film. Amerikanische Fundis und deutsche Rechtsausleger reiben sich die Hände, weil da wieder einer den Moslems eins über die bärtige Rübe gegeben hat, der pakistanische Eisenbahnminister – Züge sind ja bekanntlich besonders blasphemieempfindlich – setzte ein Preisgeld von 100 000 Dollar auf den Kopf des Regisseurs aus, von dem man lange nicht wusste, ob er Israeli, Exilkopte oder doch nur ein gewöhnlicher Amerikaner war, und im Sudan ging die deutsche Botschaft in Flammen auf.

Zu den tragischsten Opfern dieses Konflikts unter Paranoikern gehörte der amerikanische Botschafter in Libyen Christopher Stevens. Tragisch auch deswegen, weil Stevens ein ausgewiesener Freund der Araber war und in Bengasi ermordet wurde, jener Stadt, deren drohende Vernichtung durch Gaddafi den NATO-Einsatz von 2011 ausgelöst hatte. Dass seine Ermordung am 11. September möglicherweise ein Racheakt von al Qaida war, ist nicht einmal ein schwacher Trost.

Ein echtes Trostwort hatte Friedrich Hölderlin auf Lager: "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch." Und in der Tat: In die schrillen Töne mischten sich auch Stimmen, die zu Vernunft und Toleranz aufriefen. In Bengasi hielten Frauen Transparente hoch, auf denen stand, dass "Verbrecher und Mörder weder Bengasi noch den Islam repräsentieren", in Saudi-Arabien (!) erschien ein Artikel unter der Überschrift "O.k., aber was ist mit unserem Film?" und meinte damit die Fernsehaufnahmen von den Angriffen auf westliche Botschaften, die genauso abstoßend seien wie das Mohammed-Video, und in Bayern mahnten die Imame zur Besonnenheit. "Es ist das Ziel solcher Filme, Hass zu säen. Die Muslime sind gut beraten, ruhig zu bleiben. sonst haben die Hassprediger ihr Ziel erreicht."

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Sie können sich jetzt den Kopf zerbrechen, wer der Sprecher zwischen den feindlichen Lagern ist. Von der Situation her könnte es gut Mohammed selber sein, aber dann würden wir eine Mohammed-Karikatur abdrucken, und …

Wiedergänger Nummer 2 hat mit Integration bzw. Integrationsverweigerung zu tun. Während Thilo Sarrazin 2010 seine Sorge zum Ausdruck brachte, dass sich "Deutschland abschaffen" würde, was bisher so nicht eingetreten ist, aber dem Autor einige Moneten eingebracht hat, erschien jetzt das Buch eines Lokalpolitikers, der mehr von der Sache versteht und wahrscheinlich auch mehr darunter leidet als der smarte Thilo. Der Berliner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky klagt in seinem Buch "Neukölln ist überall" über die Rat- und Zahnlosigkeit unserer Integrationspolitik". Er fordert deshalb mehr Härte – "gegen migrantische Machos, die ganze Viertel terrorisieren, Familien, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken oder Schwarzarbeiter, die es sich im Sozialsystem eingerichtet hätten". So weit so schlecht. Kritik an Buschkowsky kam von verschiedenen Seiten, etwas zu kurz gegriffen der Einwand von Cem Ödzemir, Buschkowsky sei "für die Zustände in Neukölln auch selbst verantwortlich, da er seit 10 Jahren Bürgermeister sei", fundierter die Entgegnung von Dilek Kolat, die eine Neuköllner(!) Grundschule besucht hat und jetzt Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen ist, also den "Aufstiegswillen" gezeigt hat, den Buschkowsky von den Zuwanderern einfordert. Neukölln ist also nicht überall, nicht einmal in Neukölln, und das Rezept muss lauten wie bei den Hartz-IV Empfängern: "Fördern und Fordern." Das tut übrigens auch Buschkowsky, denn der weitaus größere Teil seines Buches befasst sich mit Lösungsvorschlägen und "dem Kampf vieler einzelner Menschen gegen die Lethargie".

Wiedergänger Nummer 3 ist ein Nachtgespenst, dem wir in Deutschland am allerwenigsten auf unseren Straßen begegnen wollen, der Antisemitismus. Die Übergriffe gegen Juden reichen von der Weigerung eines Taxifahrers, eine Familie mitzunehmen, weil sie als Ziel die Synagoge in Charlottenburg angegeben hatte, bis zur Verprügelung eines Rabbiners durch (mutmaßlich) arabischstämmige Jugendliche. Es genügt nicht, als Tatmotiv den Palästina-Konflikt zu bemühen, denn was jüdische Schüler auf dem Schulhof und jüdische Fußballmannschaften zu hören bekommen, stammt sicher nicht nur von Migranten "aus dem arabischen Raum". Wenn nämlich an der Behauptung etwas dran ist, dass es "in der deutschen Nachkriegsgesellschaft eine Judenfeindschaft von stabilen 25 % gibt", dann ist es Zeit, dass die 75% Flagge zeigen, so wie die Demonstranten, die mit einer Kippa auf dem Kopf, gegen Antisemitismus auf die Straße gingen. Da hat Facebook einmal zu einer vernünftigen "Party" eingeladen.

Festesstimmung ist auch angesagt, weil der berühmte israelische Pianist Menahim Pressler wieder die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt hat – und das nach 73 Jahren. In letzter Minute den Nazis entkommen, hat er, trotz Auschwitz, nie aufgehört hat, von Deutschland so zu sprechen, "als hätten hier immer nur Kant, Goethe und Beethoven regiert". Pressler soll als Botschafter der Stadt Magdeburg ihre Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas unterstützen. Wir freuen uns, dass er zurückgekommen ist.

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Versöhnliche Töne erklangen auch bei einer zweisprachigen Gedenkfeier in der tschechischen Stadt Jihlava (Iglau), wo die Leichen von zwölf Sudetendeutschen beigesetzt wurden, die 1945 im Dorf Dobronin (Dobrenz) einem tschechischen Mob zum Opfer fielen und erst vor zwei Jahren, nach Recherchen zweier tschechischer Journalisten und Autoren, wieder aufgefunden wurden. Angehörige der Opfer empfanden die Trauerfeier als "sehr ergreifend". Wie schwer allerdings die "Versöhnung über dem offenen Grab" noch fällt, zeigte sich an der Reaktion der Behörden in Dobronin: Sie lehnten eine Bestattung in ihrem Dorfe ab.

Mit gemischten Gefühlen las man auch die Nachrichten zum Thema Asyl. In der türkischen Ägäis ertranken wieder 100 Flüchtlinge, und im Münchner Speckgürtel wehrt man sich mit harten Bandagen gegen die Unterbringung von Asylbewerbern. So in einem Flugblatt der JU Brunnthal, wo vor fallenden Immobilienpreisen (endlich!) und wachsender Kriminalität (fraglich!) gewarnt wird. Andererseits entschied der Europäische Gerichtshof in einem "bahnbrechenden Urteil" (Pro Asyl), dass gravierende Verletzungen der Religionsfreiheit in Zukunft ein Asylgrund sind. Aus der Ferne freuen wird das den iranischen Pastor Youcef Nadarkhani, der nach drei Jahren Haft wegen "Missionierung von Muslimen" vom Vorwurf der Apostasie (Abfall vom Glauben) freigesprochen wurde und zu seiner Familie heimkehren konnte. Wenn ihm im Iran wieder der Boden zu heiß werden sollte, kann er in Europa missionieren – wahlweise Christen oder Muslime. Und Asyl bekäme wohl auch das Mädchen Rimsha Masih, das in Pakistan in "Schutzhaft" genommen wurde, weil es angeblich einige Seiten aus dem Koran verbrannt haben sollte. Der Fall nahm eine dramatische Wende, als ein Muezzin (Gebetsrufer) seinen Imam (Vorbeter) anzeigte, weil er dem Mädchen die verbrannten Koranseiten unterschoben habe und dann die Nachbarschaft aufgewiegelt habe, um die Christen aus der Gegend zu vertreiben. Ein solches Verhalten wäre durchaus Stoff für eine Karikatur, aber wir belassen es (aus guten Gründen) mit dem Foto von der Demonstration der Christen.

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Im November wurde das Blasphemieverfahren gegen Rimsha eingestellt. Mit ihrer Familie wurde sie aus Sicherheitsgründen an "einem unbekannten Ort" verbracht. Der Imam wurde auf Kaution freigelassen, nachdem einige Belastungszeugen ihre Aussagen zurückzogen. Personenschutz hat er wohl nicht angefordert.

Beschließen wir den Monat mit einer Meldung über Frauen, die wenig Chancen haben, einen geruhsamen Altweibersommer zu erleben. Ein Gesetz, das 2002 erlassen wurde, um die Lage von Prostituierten zu verbessern, hat sein Ziel nach Expertenmeinung klar verfehlt. "Die Position der Polizei und der Rechtsschutzorgane ist seitdem erheblich geschwächt, die Frauen in der Prostitution recht- und schutzlos. … Deutschland ist zu einem Eldorado des Menschenhandels geworden." So sagt Lea Ackermann von der Frauenhilfsorganisation SOLWODI und zitiert dazu das Angebot eines Flatrate-Bordells: 1 Frau, 1 Bier, 1 Würstchen, alles inklusive für € 8,90. Und wenn Sie mal bei einem Bierfest einen dieser Flatrate-Nutzer mit seinem "Schnäppchen" prahlen hören, dann nehmen Sie ruhig den Maßkrug und schütten ihm "1 Bier" über seinen dämlichen Kopf.

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Oktober 2012

"Fröstelnd geht die Zeit spazieren.

Was vorüber schien, beginnt.

Chrysanthemen blühn und frieren.

Fröstelnd geht die Zeit spazieren.

Und du folgst ihr wie ein Kind."

Chrysanthemen waren im Oktober nicht zu beschaffen, aber die anderen Themen (Achtung Wortspiel – aber ein schlechtes!) tauchten auf. In China beispielsweise ließ man der Zeit nicht einmal die Zeit, mit dem Frösteln anzufangen, denn "um 9.18 stellt der Professor seinen Beitrag online, um 9.19 ist er gelöscht". Es handelte sich um einen Kommentar zu einem Artikel in der "New York Times", wonach die Familie des scheidenden Premiers Wen Jiabao im vergangenen Jahrzehnt ein Milliardenvermögen aufgehäuft haben soll.

Seit man in China 2005 die "harmonische Gesellschaft" reaktiviert hat, heißt "löschen" im Netzslang übrigens "harmonisieren", und die Fähigkeit, in Windeseile zu "harmonisieren", hat dem Land eine neue Bezeichnung für seine Regierungsform beschert. China sei, so eine CNN-Reporterin, ein System, das auf einem "vernetzten Autoritarismus" beruhe. Ob wir in Bayern da nicht schon auf einem ähnlichen Wege sind, wenn Pressesprecher der Staatspartei bei den Fernsehanstalten anrufen, um bestimmte Beiträge zu "harmonisieren"? Lassen wir die Frage offen und beschränken uns auf den Abdruck einer Karikatur, die nur deswegen keine Gefahr läuft, in China zensiert zu werden, weil der Tätigkeitsbericht von AI im Landkreis Miesbach unseres Wissens dort noch nie ins Netz gestellt worden ist.

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Gefröstelt haben wir auch über einem Dauerbrenner aus den USA. Dort sitzt seit 22 Jahren der deutsche Staatsbürger Jens Söring eine lebenslange Haftstrafe wegen Doppelmordes ab. Eine Initiative von 54 Bundestagsabgeordneten, Söring nach Deutschland zu überstellen, wurde abschlägig beschieden. Soviel zur deutsch-amerikanischen Freundschaft! Dabei gibt es begründete Zweifel, ob Söring schuldig ist, aber absolute Gewissheit darüber, dass schlampig über ihn verhandelt wurde. So soll 2006 ein Mitglied des Bewährungsausschusses bei der Anhörung seines Falles eingeschlafen sein. Wir können Söring nicht die Freiheit verschaffen, die ihm nach deutschem Recht wohl schon zustünde, aber wir wollen ihn wenigstens zu Worte kommen lassen. In einer Mail schreibt er:

"Ein Fall wie dieser, wo elf Tage vor der Anhörung das Ergebnis mitgeteilt wird, wo die Aussagen einer stellvertretenden Staatsanwältin und die eines angesehenen Ermittlers ignoriert werden, wo herauskommt, dass 27 Jahre lang FBI-Unterlagen unterdrückt wurden, kann man so einen Fall nicht einen Justizskandal nennen?"

Wir sind der Meinung, das kann man.

Einem Justizskandal entkommen ist Jekaterina Samuzewitsch, eine der drei Pussy Riot Frauen, die zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt wurden. Ein Berufungsgericht hat befunden, dass sie an der Punk-Andacht nicht teilgenommen hat, weil Ordner sie schon vorher aus der Kathedrale entfernt hatten. Die beiden anderen Frauen, Mütter kleiner Kinder, haben sich (angeblich) mit ihr gefreut. Und deswegen tun wir es auch, denn wer ginge schon freiwillig in ein russisches Straflager? Unionspolitiker unter Federführung von Vizefraktionschef Andreas Schockenhoff haben in einem Papier deutliche Worte zu den "Demokratiedefiziten Russlands" gefunden, aber das Auswärtige Amt hat die Vorlage so weichgespült, dass nur eine "kleinlaute Rüge" geblieben ist. Immerhin hat das Papier dazu beigetragen, dass der Petersburger Dialog im November in "angespannter Atmosphäre" stattgefunden hat. Frau Merkel zeigte sich wiederholt "irritiert", Putin konterte in KGB-Manier, u.a. indem er den Pussy Riot Frauen Antisemitismus vorwarf, was sich nach Recherchen als klare Lüge herausstellte. Soviel zur deutsch-russischen "Modernisierungspartnerschaft".

Kehren wir nach Deutschland zurück. Ausdrücklich nicht näher befassen wollen wir uns mit dem Salafisten Murat K., der in einer Demo zwei Polizisten mit einem Messer verletzte und dies damit rechtfertigte, dass sie einem Lande dienten, in dem Mohammed-Karikaturen gezeigt werden durften. Und auch nicht mit den christlichen Fanatikern von kreuz.net, die den verstorbenen Kommentator des RTL-Dschungelcamps Dirk Bach als "homosexuellen Sittenverderber" bezeichnet hatten. Unser Rat: Salafisten und Kreuznetzler gemeinsam ab ins Dschungelcamp und ohne Recht auf Wiederkehr.

Da lobe ich mir die Rede des türkischen Premierministers Erdogan bei seinem Besuch in Berlin. Er, der uns bei früheren Staatsbesuchen gerne die Leviten gelesen hat, hat diesmal einen aktiven Beitrag seiner Landsleute zur Integration gefordert. "Wir wollen, dass die Türken in Deutschland fließend Deutsch sprechen. … In diesem Sinne müssen sie Doppelsprachler sein und sich mehr und mehr am Leben beteiligen."

"Was vorüber schien, beginnt", schrieb Erich Kästner. Und wer fühlte sich nicht an die Vergangenheit erinnert, als in Berlin das Mahnmal für die in der Nazizeit ermordeten Sinti und Roma eingeweiht wurde?

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Messina Weiss,12, Angehörige eines Holocaust-Überlebenden der Sinti und Roma, bei der Einweihung des Mahnmals

Und wer würde nicht an die Gegenwart erinnert, wenn er das Gezerre um die Aufnahme der Flüchtlinge aus Serbien und Mazedonien denkt, die der bayrische Innenminister Herrmann pauschal als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet, die der Not zumindest in der kalten Jahreszeit entkommen wollen? Man kann sich natürlich auf den Standpunkt stellen, dass die Sehnsucht nach einem warmen Ofen in Deutschland Grund genug wäre, Menschen aufzunehmen, deren Vorfahren wir vor 70 Jahren reihenweise ermordet haben. Aber der warme Ofen ist beileibe nicht der einzige Fluchtgrund. Die Flüchtlinge mögen "zwar in ihrer Heimat nicht politisch verfolgt sein", aber sie gehören einer "massiv benachteiligten Minderheit" an, die immer wieder "brutalen Übergriffen" ausgesetzt ist. "Gedenken" und (ohne Perspektive) "abschieben" passt irgendwie nicht zusammen. Da würde sich das klare Wasser der Gedächtnisschale bald wieder eintrüben. Dass es übrigens nicht nur der "warme Ofen" ist, der Roma zur Flucht treibt, zeigt der Fall von Selma Demiriva (Name geändert), die von unserem Gruppenmitglied Hubert Heinhold vertreten wird. Selma, eine Roma aus Mazedonien, war von zwei Schutzgelderpressern, die nach ihren Angaben einem parteinahen Sicherheitsdienst angehörten, vergewaltigt worden. Weder bei der Polizei noch im Krankenhaus habe sie Hilfe bekommen. Als ihr Sohn (nicht die Vergewaltiger!) vor Gericht gestellt werden sollte, floh die Familie nach Deutschland. Schutzanspruch wegen "geschlechtsspezifischer Verfolgung"? Pustekuchen! Ablehnung da "offensichtlich unbegründet".

An ein anderes Kapitel deutscher Vergangenheit dachte man, als die Nachricht verbreitet wurde, dass Kuba seinen Bürgern mehr Reisefreiheit zugestehen wolle. Kubaner brauchen jetzt "keine Einladung mehr aus dem Land vorweisen, in das sie reisen wollen". Da kommen manchem von uns wieder die Tricksereien in den Sinn, mit denen wir in den 1980er Jahren unseren Freunden in der DDR einen westdeutschen Stammbaum verschafften, damit sie bei uns ihre Verwandten, ob tot oder lebendig, besuchen konnten.

"Und du folgst ihr wie ein Kind", lautet die letzte Zeile unseres Einleitungsgedichtes. Aber in unserem vorletzten Beitrag zum Monat Oktober geht es nicht um ein passives Kind, das gehorsam hinter der fröstelnden Zeit einhertapst, sondern um ein mutigen Mädchen aus Pakistan, das mit 12 Jahren begonnen hat, auf einer Blog-Seite über Gräueltaten der Taliban zu schreiben und das sich einsetzt für das Recht von Mädchen, in die Schule zu gehen. Und wie reagierten die Gotteskrieger? Mit einem Kopfschuss, denn "die Scharia sehe eindeutig vor, dass auch Frauen getötet werden müssten, die sich dem Kampf der Mudschaheddin in den Weg stellten". Malala hat überlebt, aber wie! Vier Tage später traf sich in Miesbach der Jugendhilfeausschuss. Zwei Schülerinnen verteilten Postkarten mit der Bitte, in der Öffentlichkeit für den Kinderschutz zu werben. Wie man sieht, wurde nicht auf sie geschossen, sondern sie fanden freundliches Gehör.

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Abschließen aber wollen wir den Oktober nicht mit beißender Kälte, sondern mit bissiger Ironie. In Anlehnung an den Ausspruch der Regionalbischöfin führen wir unseren Wettbewerb unter dem Motto "Dümmer geht's immer" fort. Heiße Anwärter auf den Siegespreis sind der bereits erwähnte Pressesprecher der bayrischen Staatsregierung, der, angesichts einer satten CSU-Mehrheit, versucht hat, einen Beitrag über den SPD-Parteitag zu stoppen. Neben ihm in der Pole-Position liegen Bayerns Junge Liberale, die eine Lockerung der "unverhältnismäßig" strengen Waffengesetze fordern. Auf die Forderung der Jungen Liberalen hat das Bundesinnenministerium reagiert – aber so was von machtvoll. Ab Januar 2013 wird der Zugang zu Waffen erschwert, Großkaliber dürfen nicht mehr für Sport und Freizeit verwendet werden und die Aufbewahrung von Waffen und Munition zu Hause wird verboten. April! April! und das im Oktober. Aber dafür wird ein zentrales Waffenregister eingeführt. Wer also in Zukunft Amok läuft, darf dies nur mit einer registrierten Waffe tun.

Es war ein origineller Einfall des "Münchner Merkurs", dass er direkt über dem Artikel über die Forderung der Julis dieses eindrucksvolle Foto platzierte. Eine solche Waffe sollte auch ohne angemeldete Kontrolle im heimischen Waffenschrank aufbewahrt werden dürfen.

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Unser Sarkasmus ist uns allerdings im Dezember gründlich vergangen, als ein junger Herodes in Newtown/Connecticut einen neuen Kindermord verübte. Wie werden die Eltern der 20 getöteten Kinder Weihnachten feiern? Und wie die Mitglieder der NRA/Nationale Gewehrmafia?

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November 2012

"Was man besaß, weiß man, wenn man's verlor.

Der Winter sitzt schon auf den kahlen Zweigen.

Es regnet, Freunde, und der Rest ist Schweigen.

Wer noch nicht starb, dem steht es noch bevor.

Und der November trägt den Trauerflor."

"Novembertrübsinn", werden Sie sagen, "da kann eine Menschenrechtsorganisation doch nur frohlocken. Jetzt könnt ihr einmal wie die Jahreszeit so richtig Düsternis verbreiten." Können wir, wenn wir's auch nicht wollen. Und noch dazu könnten wir mit unserem "Novembertrübsinn" ganz im Lande bleiben. Fangen wir mit den "kahlen Zweigen" an. Von der FDP kahl gefressen wurde der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Hatte der Erstentwurf aus dem Hause von der Leyen (CDU) noch deutliche Bezüge zur Wirklichkeit, so wurden diese Bezüge im Hause Rösler (FDP) gekappt. Der Satz "Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt" wurde gestrichen, das Sinken der Reallöhne in den unteren Lohngruppen wurde geradezu auf den Kopf gestellt. Jetzt heißt es nämlich: Sinkende Reallöhne sind "Ausdruck struktureller Verbesserungen" am Arbeitsmarkt. Brauchen Sie auch Nachhilfe um einen solchen Satz zu verstehen? Es handelt sich wohl um einen Lobgesang auf die Minijobs, die zwar die Reallöhne senken, deren Inhaber aber nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik auftauchen. Münchhausen lässt grüßen.

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"Wer noch nicht starb, dem steht es noch bevor", aber wenn wir schon sterben müssen, möchten die meisten von uns in den eigenen vier Wänden sterben. Das geht nicht immer, aber dann gibt es immer noch ortsnahe Seniorenheime, die Besucher zu Fuß, mit dem Auto oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen können. Das hört sich auf, wenn das "alternative Pflegemodell" eingeführt wird. Gemeint ist dabei nicht etwa die verlängerte Pflege zu Hause, sondern der "Export" der Alten ins Ausland. Und dieses Ausland liegt in Spanien, Osteuropa oder auch in Thailand, da wo die Pflege halt noch preiswert ist. Die SZ nennt "die Zwangsentsorgung der Alten einen Akt der Verrohung der Gesellschaft", und der Karikaturist zieht eine Parallele zum traumatischen Erlebnis der deutschen Heimatvertriebenen nach dem Krieg.

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Mit Spannung erwartet wurde das Urteil gegen den ehemaligen Rosenheimer Polizeichef, der einen Jugendlichen auf der Wiesenwache des Herbstfestes sehr unsanft behandelt hatte. Mit Spannung deshalb, weil Angehörige des Opfers behaupteten, sie hätten die "Behandlung" selbst beobachtet, weil Gutachten den Richter dazu veranlassten, von "Missbrauch der Machtbefugnisse" zu sprechen und weil Kollegen des Polizisten im Erstprotokoll Aussagen gemacht hatten, die durchaus darauf hinwiesen, dass ihr Chef damals durchgedreht hatte. Im Zeugenstand aber konnten sie sich nicht mehr daran erinnern, was sogar den Richter "sichtlich nervte". Der Polizeichef wurde zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, die so bemessen wurde, dass er nicht aus dem Beamtenverhältnis ausscheiden musste und seine Pensionsansprüche behielt. Über das Urteil steht uns kein Urteil zu; der Skandal ist, wieder einmal, der Korpsgeist der Kollegen bei der Verhandlung. Wie sagte schon Erich Kästner? "Der Rest ist Schweigen."

Weil wir es uns aber mit der (nicht prügelnden) Polizistenmehrheit nicht verderben wollen und sie vielleicht beim nächsten Volksfest selber brauchen, sei durchaus eingeräumt, dass der Polizeidienst bei solchen Lustbarkeiten ein Albtraum sein kann – selbst wenn es nur um "Gebrauch der Machtbefugnisse" geht.

Gar kein Verständnis aber haben wir darüber, dass ein Münchner Ehepaar nach einer Luxusreise u. a. deswegen auf Entschädigung klagte, weil bei der Reise eine behinderte Frau dabei war, die eine intensivere Betreuung durch die Reiseleiterin benötigte, wodurch letztere "weniger präsent" gewesen sei. Die Richterin wies die Klage mit deutlichen Worten zurück. "Die Klägerin solle sich daran erfreuen, dass sie nicht behindert ist." Aber da sind wir gar nicht so sicher!

Das Startsignal für AI war vor über 50 Jahren ein Artikel mit dem Titel "Die vergessenen Gefangenen". Hier in Bayern ist ein "vergessener Weggesperrter" aus der Versenkung der Psychiatrie aufgetaucht und hat eine Bank, eine Ministerin, Justizbehörden, Gutachter und vielleicht auch eine Ex-Ehefrau arg in die Bredouille gebracht. Unserer Gruppe wurde der Fall Gustl Mollath zum ersten Mal vor einem halben Jahr vorgetragen. Wir kontaktierten die AI-Gruppe in Bayreuth, wo Gustl Mollath untergebracht ist. Da die Gruppe den Fall nicht kannte, fragten wir höheren Ortes an, ob das ein Fall für AI wäre und erhielten die etwas widersprüchliche Auskunft, dass sich AI zwar mit Polizeiwillkür aber nicht mit (etwaiger) Justizwillkür befasse. Die Frau, die den Fall an uns herangetragen hatte, speisten wir mit einer Adressenliste ab, die Vereinigungen gegen Rechtsmissbrauch benannte.

Im November tauchten jetzt Einzelheiten auf, die immer mehr Leute dazu bringen, sich zu fragen, "ob in Bayern schon russische Zustände herrschen". Da wurde ein interner Revisionsbericht der Hypo-Vereinsbank bekannt, der Mollaths Aussagen zum Schwarzgeldkomplex weitgehend bestätigte, der aber (deswegen?) jahrelang unter Verschluss gehalten wurde, da ließ sich ein Zeuge vernehmen, der gehört haben wollte, dass Mollaths Ex-Frau ihrem Mann etwas "anhängen" wolle, da stellte sich heraus, dass ein Gutachter, der Mollath persönlich gesprochen hatte, ihm 2007 bescheinigte, dass er "psychopathologisch unauffällig und geschäftsfähig" sei. Dieses Gutachten sei aber von drei anderen Gutachtern, die Mollath nicht akzeptierte, "zerpflückt" worden. Ein Regensburger Strafrechtler nahm das Verfahren in Nürnberg "förmlich auseinander" und dann wurde noch der damalige Richter von einem seiner Schöffen attackiert, weil er Mollath das Wort entzog, sobald dieser auf die Schwarzgeldgeschäfte zu sprechen kam. Die bayrische Justizministerin hat eine Neubegutachtung Mollaths lange abgelehnt und soll erst nach zwei langen Gesprächen mit dem Ministerpräsidenten ihre Meinung geändert haben. Fortsetzung folgt!

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Verlassen wir unsere heimischen Kriegsschauplätze mit einem Zweizeiler, der, wie man leicht feststellen kann, nicht von Kästner ist: "Wir müssen uns der eignen Monster wehren, doch schöner ist's vor fremden Türen kehren."

Monströs ist die Gehirnwäsche, denen Lagerhäftlinge in Nordkorea unterzogen werden. Im Film "Camp 14" schildert ein junger Mann, der im Straflager geboren ist, die Hinrichtung von Familienangehörigen, die er zuvor denunziert hatte:

"Bei der Hinrichtung meiner Mutter und meines Bruders habe ich nichts empfunden. Ich hatte nie gelernt, Gefühle zu empfinden. Ich kannte das Konzept der Familie nicht. Ich habe nur gelernt, dass ich Verbotsübertretungen melden muss."

Um eine verweigerte Gesetzesübertretung ging es im katholischen Irland. Einer schwangeren Frau wurde eine Abtreibung abgeschlagen, obwohl eine Untersuchung ergeben hatte, dass das Baby nicht überleben würde und eine Fehlgeburt bevorstand. Die Ärzte weigerten sich, die Geburt einzuleiten, da dies, nach Gesetzeslage, erst möglich wäre, wenn das Herz des Fötus zu schlagen aufgehört hätte. Die Frau starb nach vier Tagen an einer Sepsis. Der Gesetzeslage wurde Genüge getan, aber jetzt hatte man statt einer Leiche deren zwei. So kann das "Recht auf Leben" wohl nicht gemeint sein.

In Mexiko ist das "Recht auf Leben" für die Drogenkartelle (und manchmal auch für die Sicherheitskräfte) zu einer Lachnummer geworden. Wer sich den Banden entgegenstellt, wird liquidiert. Und wenn's beim ersten Mal nicht klappt, probiert man es im Zweijahresrhythmus eben wieder. Die Ex-Bürgermeisterin von Tiquicheo/Bundesstaat Michoacán Maria Santo Gorrostieta hatte schon zwei Anschläge hinter sich, in einem davon ihren ersten Mann verloren. Beim dritten Anschlag wurde sie aus dem Auto gezerrt und drei Tage später mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden. Der Gouverneur sprach vom "möglichen Eingreifen des organisierten Verbrechens".

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Es ist höchste Zeit den "Trauerflor" des Novembers für zwei aufhellende Kurzmeldungen abzulegen. Gehen wir dafür in den Nahen Osten. "Was", werden Sie sagen, "da waren doch die Raketen auf Israel und die Luftangriffe auf Gaza?". Aber da gab es auch die Stimme der Rufer in der Wüste. Über hundert Kulturträger in Israel veröffentlichten einen Aufruf, der sich quer zur öffentlichen Meinung in ihrem Lande legte:

Wir haben Terroristen getötet, Militäroperationen gestartet und sind im Gazastreifen einmarschiert, und das hat nichts gebracht außer noch mehr Töten und noch mehr Hass. Deshalb sei nun ein langer und stabiler Waffenstillstand nötig mit unseren Feinden in Gaza."

Hoffentlich ergeht es ihnen nicht wie weiland Johannes dem Täufer.

Abschließen wollen wir mit dem "Besuch zur rechten Zeit". Präsident Obama hat seine erste Auslandsreise nach dem Wahlsieg nach Myanmar unternommen. Als Begrüßungsgeschenk wurden erneut politische Gefangene freigelassen. Die Menschenrechtsorganisationen bleiben trotzdem skeptisch, die Kommentatoren hingegen sind vorsichtig optimistisch: "… Damit dürfte der Rückwärtsgang erst einmal keine Option mehr sein". Im Gedächtnis aber bleibt eine Umarmung, und man soll sich durch die paternalistische Geste nicht täuschen lassen: Die Stärkere von den beiden ist sie. Und auch der Friedensnobelpreis steht ihr (bisher) eher zu.

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Dezember 2012

"Ist viel geschehn. Ward viel versäumt.

Ruht beides unterm Schnee.

Weiß liegt die Welt, wie hingeträumt.

Und Wehmut tut halt weh."

Nein, "das könnte den Herren der Welt so passen", wenn man die Ereignisse des Monats Dezember so einfach unter den Schneeteppich kehren würde. Der würde sich nämlich bald verfärben – und zwar rotbraun. Und stinken obendrein! Doch davon später.

Fangen wir mit Weihnachten an, dem Fest des Friedens. Eine AG Kriegsursachenforschung in Hamburg hat verkündet, dass 2012 die Zahl der Krieg und bewaffneten Konflikte zurückgegangen ist. "Na also, geht doch", möchte man meinen. Und zwar von 37 auf 34! "Na bitte, geht doch (fast so) weiter wie bisher." Und bevor die Statistik ganz im Keller ist, werden die Waffenproduzenten in die Offensive gehen – unter Führung des diesjährigen Friedensnobelpreisträgers EU. Deren Spitzenbeamter Barroso hat in seiner Weihnachtsbotschaft "Hoffnung auf die Rüstungsindustrie gesetzt, denn die werde gute Arbeitsplätze für Jugendliche schaffen". Die SZ kommentiert zu Recht: "Rette sich wer kann."

Die Regierung in Deutschland hat diese Botschaft freundlich aufgenommen. Der Bundessicherheitsrat, der deshalb so geheim tagt, weil er die Sicherheit der deutschen Waffenindustrie zu gewährleisten hat, freut sich über lukrative Weihnachtsgeschenke aus dem Orient. Saudi-Arabien ist am Radpanzer "Boxer" und am ABC-Spürpanzer "Dingo" interessiert. Wenn sie dann einmal mit dem Kampfpanzer "Leopard" durch die Wüste fahren (und bei Bedarf auch beim Nachbarn Bahrain vorbeischauen), werden den deutschen Zoos bald die Tiere ausgehen. Der "Boxer" ist übrigens straßentauglich und damit auch zur Bekämpfung von Aufständen geeignet. Man muss sich das konkret vorstellen: Da setzen sich am Frauentag saudische Frauen ans Steuer und drehen eine Runde im Autokorso. Und dann fahren deutschstämmige (Marken)Boxer auf und räumen die Frauen von der Straße. Wir setzen an Weihnachten gegen Barroso und den Bundessicherheitsrat – auf die Mittelschule in Hausham.

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Haushamer Friedenstauben

Wer von Waffen redet, kam im Dezember nicht an Newtown/Connecticut vorbei. Ein Amokschütze erschoss an der dortigen Grundschule 20 Kinder, sechs Lehrkräfte und seine Mutter, die ihm zu Therapiezwecken das Schießen beigebracht hatte.

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Das Land hat auf das Massaker "vielstimmig" reagiert, und wir wollen diese Reaktionen (zunächst) unkommentiert aneinanderreihen. Der Präsident war den Tränen nahe und forderte Amerika auf "sich zu ändern", eine demokratische Senatorin bereitet einen Gesetzesentwurf vor, der das Verbot von halbautomatischen Waffen und Großraummagazinen vorsieht (und damit die Rechtslage herstellt, die bereits zwischen 1994 und 2004 bestand), ein Supermarkt tauscht Waffen gegen Lebensmittelgutscheine um und eine Lokalzeitung stellte eine interaktive Landkarte ins Netz, auf der die Namen und Adressen von Waffenbesitzern in der Nachbarschaft veröffentlicht wurden. Dann aber, nach einer Woche des Schweigens, trat die Waffenlobby auf den Plan: Mit den Worten "Das Einzige, das einen bösen Typen mit einer Waffe stoppt, ist ein guter Typ mit einer Waffe", forderte sie bewaffnete Polizisten an die Schulen und/oder feiwillige Hobbyschützen vor die Gebäude. Dann – aber das ist jetzt schon Kommentar – könnten die endlich mal auf lebendige Ziele ballern. Und die Waffenhändler sprachen von einem glänzenden Weihnachtsgeschäft: Das geplante Verbot vor Augen deckten sich die Kunden noch schnell mit halbautomatischen Waffen ein. Kann man ja später wieder gegen Lebensmittelgutscheine eintauschen!

Aber wissen Sie, warum dieses Mal eine gewisse Aussicht besteht, dass es tatsächlich zu einer Waffenkontrolle kommt? Obama braucht sich nicht ums seine Wiederwahl zu sorgen.

"Ist viel geschehn, ward viel versäumt", galt leider auch für die "angekommene Supermacht" (Obama) Indien. In Delhi wurde in einem Bus eine junge Frau vergewaltigt, mit einer Eisenstange misshandelt und aus dem Bus geworfen. In Singapur starb sie an den Folgen des Überfalls. In indischen Städten kam es zu Demonstrationen gegen die weit verbreitete, schamvoll verschwiegene, unzulänglich geahndete sexuelle Gewalt an Frauen. Indien ist trotz weiblicher Premiers immer noch eine von Männern dominierte Gesellschaft: Mädchen werden bevorzugt abgetrieben, Frauen in öffentlichen Verkehrsmitteln routinemäßig begrapscht, Gruppenvergewaltigungen, v.a. von Angehörigen der Minderheiten, sind an der Tagesordnung, und die wenigen Fälle, die zur Anzeige kommen, verstauben in (geschätzten) 100 000 Aktenordnern. Und ein Regionalpolitiker kommentierte das Verbrechen wie folgt: "Nur weil Indien um Mitternacht die Freiheit erlangt hat, bedeutet dies nicht, dass sich Frauen nach Einbruch der Dunkelheit herauswagen können." "Angekommen" ist höchstens die Ökonomie, auf der Strecke geblieben ist die Moral.

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Protest in Delhi

Es ist verständlich, dass man in Indien jetzt lautstark nach der Todesstrafe für die Vergewaltiger ruft, so wie ein SZ-Reporter zum 30. Dezember 2006, der Hinrichtung Saddam Husseins, geschrieben hat: "Am Galgen endete er dennoch – und das mit Recht." Wir von Amnesty bleiben bei unserer Position – auch wenn uns das bedingungslose Nein zur Todesstrafe in anderen Fällen (USA, China, Iran) leichter vom Mund gegangen ist.

"Weh getan", aber das ist leichtere Kost, hat auch eine Aktion der Münchner Polizei an einer Wirtschaftsschule. Ein Jugendbeamter der Polizei gab sich nach seinem Vortrag gleich selber den Einsatzbefehl, als er den (vermeintlichen) Diebstahl von fünf Euro aufklären wollte. Er forderte drei Kolleg(inn)en an, die die Schüler(innen) an Körperstellen visitierten, die man sich sonst nur bei Verdacht auf Drogenschmuggel vornimmt. "Das war nicht in Ordnung", meinte der Vizepräsident der Polizei und versprach eine "lückenlose Aufklärung" – nach Zeitungsbericht aber erst, nachdem sich Eltern an die Öffentlichkeit gewandt hatten. Und wo blieben die Lehrer? Waren regelrecht "überrumpelt" und überließen der Polizei "das Heft des Handelns". Ehrlicherweise sollte man als Ex-Lehrer einräumen, dass man bei einem solchen Auftritt geballter Staatsmacht vielleicht auch nicht anders reagieren würde; umso wichtiger ist es, an die Lehrerin in Newtown zu erinnern, die ihre Kinder in einen Schrank steckte, sich dem Amokläufer entgegenstellte und erschossen wurde. In München wäre Zivilcourage (und Geistesgegenwart) nicht tödlich gewesen.

Es war im Dezember nicht sehr leicht, wirklich gute Nachrichten zu finden. "Unterm Schnee", d.h. ungesühnt ruht zunächst einmal ein Massaker im Dorf Bogoro/DR Kongo, denn der angeklagte Milizenführer Ngudjolo wurde in Den Haag mangels Beweisen freigesprochen. Die Zeugenaussagen seien "zu widersprüchlich und schwammig" gewesen. Auch die Geschichte von Denise Siwatulu spielt im Kongo, aber sie produziert keine Opfer wie Ngudjolo, sondern steht ihnen zur Seite. Es ist ein echtes Weihnachtswunder, dass es in diesem rechtlosen Land noch Menschen gibt, die gegen das Unrecht aufstehen.

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Dem Weihnachtsfoto von Denise wäre an sich nichts hinzuzufügen, wenn sich nicht auch in Niedersachsen ein kleines Weihnachtswunder ereignet hätte. Kurz vor der Wahl im Januar 2013 beschloss der Landtag, eine Familie mit vier Kindern wieder zu vereinen. Frau Gazale Salame, die "bekannteste Migrantin Deutschlands" war vor sieben Jahren mit den zwei jüngeren Kindern abgeschoben worden, angeblich weil sich ihre Familien als "Scheinlibanesen" entpuppt hätten und in Wahrheit Türken seien. In einer konzertierten Aktion von Flüchtlingsrat, Bevölkerung und Landtagsabgeordneten aller Parteien (aber gegen den Widerstand des Innenministers) wurde jetzt Frau Salame die Wiedereinreise gestattet.

Mit vielen anderen Asylbewerbern wünschen wir ihnen/Ihnen mit etwas Verspätung Frohe Weihnachten.

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3. Das AI-Jahr im Landkreis Miesbach

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begann in den bequemen Kinosesseln des FoolsKINOS in Holzkirchen, genauer gesagt, setzte sich in diesen Sesseln fort, denn unsere Filmreihe "Menschenrechte", die wir mit den Frauen in Schwarz initiiert hatten, hatte schon im November des Vorjahres begonnen. Die ersten beiden Veranstaltungen der Reihe haben wir bereits in unserem letzten Tätigkeitsbericht besprochen, der sicher noch abgelesen und eselsohrig in ihrem Geheimarchiv schlummert.

3.1. Filmreihe "Menschenrechte" im FoolsKINO (Januar 2012)

Der dritte Film der Reihe "Mauer" spielte entlang der Demarkationslinie zwischen Israel und (Rest)Palästina. Am "Bauwerk" selber gibt es nicht zu deuteln, es ist eine "Riesenschweinerei" – und kann auf Dauer nicht bestehen bleiben, wenn es denn je zu einer Art des Zusammenlebens kommen sollte. Die Referentinnen Christa Ortmann und Gertrud Zeckau, die im April des Jahres 2011 Palästina bereist hatten, machten aus ihren Präferenzen keinen Hehl, aber in der Diskussion wurden auch vereinzelt Gegenstimmen laut, die darauf hinwiesen, dass es seit dem Mauerbau (fast) keine Selbstmordattentate in Israel gegeben hatte. Die Matinée war gut besucht, wir legten Unterschriftslisten aus, um gegen die endemischen Menschenrechtsverletzungen in der DR Kongo – Kindersoldaten, Vergewaltigungen, Straflosigkeit der Täter – zu protestieren. Unsere Ausbeute. 33 Unterschriften.

Der vierte Film "Water" gewann durch das Dezemberverbrechen in Delhi rückwirkend eine bestürzende Aktualität. Er handelt in wunderschönen Bildern von Frauen in Indien, die nach Zwangsverheiratung und Witwenschaft keine Chance auf ein zweites und selbstbestimmtes Leben bekommen. Die Referentin Angelika Starkulla, Mitglied einer Organisation für Dorfbauprojekte, sprach fundiert, wenn auch etwas lang, und brachte den Film, der in den 50er Jahren spielte, auf einen aktuellen Stand. Unsere Betreuer des Ai-Infotisches hatten nichts zu berichten.

Der letzte Film "8. Wonderland" war zunächst ein Lacher. Im ersten virtuellen Staat geht es nämlich gar lustig zu, beispielsweise als im Vatikan Kondomautomaten aufgestellt werden. Mit Menschenrechten hatte er wenig zu tun – damals. Wenn man heute allerdings sieht, was Cybermobbing bewirken kann, schaut das Wunderland schon anders aus. Um die Gefahren ging es dann auch im Gespräch mit Markus Gamperling, IT-Beauftragter am Gymnasium Miesbach, der sich das (vom Betreiber zunächst verweigerte) Honorar redlich verdiente. Der Besuch bei der ersten Aufführung war schwach, unser Infostand hatte sich tot gelaufen.

Fazit der Veranstaltungsreihe für AI: Auch wenn wir etwas im Schlagschatten der Frauen in Schwarz standen, hatten wir über Film, Referenten und Infotisch die Gelegenheit, einige unserer Anliegen an Mann und Frau zu bringen. Mit anderen Mitveranstaltern und an anderen Kinos wäre das nicht so einfach gewesen. Deshalb von unserer Seite aus: "Wiederholung erwünscht".

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3.2 Resonanz auf unseren Tätigkeitsbericht 2011

"Selbstlob stinkt", sagt das Sprichwort. Wir tun es trotzdem. Obwohl der Bericht bei verkleinerter Schrift inzwischen auf 40 Seiten angewachsen ist, gibt es immer noch Leute, die ihn lesen. Chapeau – für die Leser(innen). Die Reaktionen reichten von "desolat aber gut zu lesen" über "witzig-sarkastisch, vor allem aber berührende Darstellung der Ereignisse" bis zu einem Megalob eines AI-Mitglieds aus Altötting, das uns am 1. April erreichte. "Ich habe eine Woche lang euren Jahresbericht gelesen, jeden Tag ein paar Seiten, weil ich nichts verpassen wollte." Auch die beiden Lokalzeitungen berichteten ausführlich, auch wenn sie nicht ganz an die 40 Seiten des Originals herankamen.

3.3 Weltgebetstag der Frauen (2. März)

Wir waren diesmal gleich in drei Pfarreien (Miesbach, Weyarn, Bad Wiessee) vertreten, hatten aber das Problem, dass wir zum diesjährigen Partnerland Malaysia kaum neues Material hatten. Daran haben die Veranstalterinnen gedacht: Im Gottesdienst zirkulierte eine Petition mit der Forderung nach Rechtsschutz und Verbesserung der Arbeitsbedingungen von philippinischen Haushaltshilfen in Malaysia. Wir konnten bei einem Gottesdienst AI vorstellen, stießen aber mit unserem Brief an Frau al-Assad (Schutz für syrische Menschenrechtsaktivistinnen) und einer Unterschriftsliste nach Ägypten (Gewalt gegen Demonstrantinnen) auf wenig Gegenliebe. Aber für Indigenas in Mexiko wurden wir an die 20 Postkarten los. Die (Teil)Abstinenz sei den Teilnehmerinnen nur dann verziehen, wenn sie die Petition nach Malaysia unterzeichnet haben.

Zu Frau al-Assad ist nachzutragen, dass sie in der Vergangenheit eine Hoffnungsträgerin für Frauen- und Kinderrechte in Syrien war. Sie hat beispielsweise 2007 eine Frauenfriedensfahrt gesponsert und wurde in einer französischen Zeitschrift als "Rose der Wüste" bezeichnet. Heute igelt sie sich mit ihrem Mann im Präsidentenpalast ein und zeigt ihre Stacheln/Dornen.

Nachzutragen ist ebenfalls die Notiz unseres Chefprotokollanten:

"Der Weltgebetstag ist eine Veranstaltung, die seit langem besteht und am Anfang nur für Frauen gedacht war. Mittlerweile dürfen auch Männer rein – aber, soweit ich weiß, nur mit Kopftuch und in separate Räume."

Um die Gewalt gegen Frauen in Ägypten zu illustrieren, kommt man natürlich um ein Foto nicht herum, das eine Frau "am Boden" zeigt und das damals um die Welt ging wie das Bild des Napalmmädchens aus dem Vietnamkrieg. Wir verzichten auf einen Abdruck, weil er die Frau noch einmal entwürdigen würde. Eine andere Frau, Azza Suleiman, die versucht hatte, der Frau am Boden zu helfen, wurde von den Soldaten bewusstlos geprügelt. AI unterstützt im weihnachtlichen Briefmarathon ihre Forderung nach einem Prozess gegen den Schlägertrupp.

3.4 Infoabend – "Iran - Innenansichten - Ein Reisebericht." (21. März)

Von der Referentin Christa Ortmann, Sprecherin der "Frauen in Schwarz" und couragierte Reisende in Krisengebiete, wussten wir, dass ein eher sperriger "Reisebericht" zu erwarten war, dessen "Innenansichten" der Politik des Westens (Sanktionen, Kriegsdrohungen, Regimewechsel) diametral gegenüberstehen. Wir versuchten im Vorfeld und bei der Begrüßung AI-Anliegen (Todesstrafe, Frauendiskriminierung, Meinungsterror) geltend zu machen, müssen es aber offen lassen, ob uns das gelungen ist. Unser Infotisch mit einer U-Liste gegen die Unterdrückung iranischer Filmschaffender und einen Brief für die Freilassung von Abolfazl Abedini Nasr (unseren neuen Iran-Fall) blieb jedenfalls weitgehend unbeachtet.

Die über 40 Zuhörer(innen) genossen die "Bilder aus einem fremden Land, erschreckend, rätselhaft und hinreißend schön" und nahmen der Referentin ab, dass ihre "Innenansichten" in zahlreichen Gesprächen mit der Bevölkerung bestätigt worden sind. Die Diskussion verlief eher verhalten und berührte sekundäre Themen, eine hitzige Kontroverse fand erst vor der Haustüre statt. Wichtig an diesem Abend war, dass man angestoßen wurde, unsere "Außenansicht" zu hinterfragen, insbesondere die Auswirkung der Sanktionen auf die einfachen Leute, aber auch uns wieder bewusst zu machen, dass ein liebenswertes Volk eine Führungsclique hat, die es nicht verdient.

3.5 (Jahres)Besuch in der Krankenpflegeschule Agatharied (23. März)

Dieser Einladung kommen wir aus mehreren Gründen besonders gerne nach. Wir können uns vor jungen Leuten präsentieren, wir können auf bewährtes Material zurückgreifen, weil die Kurse immer aus einer neuen Belegschaft bestehen, und es ist derzeit die einzige Gruppe, die uns regelmäßig einlädt. Regelmäßig haben wir aber auch Probleme mit der Technik: Diesmal waren Videorekorder und VCR-Kassette nicht kompatibel, und wir mussten den Film "50 Jahre Amnesty International" durch einen Vortrag ersetzen, der nicht ganz so lange dauerte. Den Vortrag ließen die Schüler(innen) über sich ergehen, während die "Kollisionsfälle" von Pflegesituation und Menschenrechtsartikeln, die unser Ex-Krankenpfleger mit Humor und Lebensnähe zusammengestellt hatte, auf reges Interesse stieß und das Publikum zu "déjà vu"-Kommentaren veranlasste (Fixierung von Patienten). Reges Treiben herrscht in der Pause auch am Infostand. Wir wurden zwei Tätigkeitsberichte los und bekamen 15 Unterschriften auf unseren U-Listen ("Frauenrechte in Ägypten", "Schikanen gegen iranische Filmschaffende"). Unser Stellenangebot "AI-Multiplikator im Kurs" wurde leider nicht angenommen.

3.6 Filmvorführung "The Green Wave" am Gymnasium Bad Aibling (18. April)

War in gewisser Hinsicht eine (notwendige) Ergänzung unseres Infoabends in Miesbach, denn der Film zeigt nicht den "lächelnden Iran", sondern den demokratischen Widerstand im Sommer 2009 – und dessen brutale Niederschlagung. Der Regisseur Ali Samadi Ahadi ist uns übrigens schon vor einigen Jahren über den Weg gelaufen, denn er hatte zusammen mit Oliver Stoltz, Sohn des damaligen FDP-Vorsitzenden im Landkreis Miesbach, den Film "Lost Children" gemacht, zu dessen Besprechung uns die Gymnasien Miesbach und Tegernsee eingeladen hatten. Ahadi arbeitet v.a. mit Verfremdungseffekten: Mangels dokumentarischer Aufnahmen schildert er Horrorgeschichten mit Zeichentrick, aber lustiger werden sie dadurch auch nicht.

Ein P-Seminar am dortigen Gymnasium hatte uns eingeladen, zur Menschenrechtslage im Lande Stellung zu nehmen. Wir haben vorher brav bei der Rosenheimer Gruppe angefragt, um nicht in Revierkämpfe verwickelt zu werden, aber die ließ uns den Vortritt. Auf dem Podium saßen dann zwei Schüler, eine Iranerin und der Gruppensprecher, der einige Mühe hatte, das Interesse des zahlreichen Publikums (immerhin ca. 80 Lehrer(innen), Schüler(innen) und Eltern) auf die Themen zu lenken, auf die er sich vorbereitet hatte. Fragen, auf die keiner am Podium eine Antwort wusste, blieben nicht aus, für unsere Wissenslücken aber wurden wir nicht zur Verantwortung gezogen oder den (im Film als Schlägertruppe auftretenden) Motorradmilizen der Bassidsch ausgeliefert. Am Infostand, wo wir aus gegebenem Anlass noch einmal die U-Liste "Schikanen gegen iranische Filmemacher" ausgelegt hatten, erhielten wir 36 Unterschriften und wurden für Nasr 20 Briefe los. Noch am späten Abend bedankte sich ein Mitglied des P-Seminars für unsere Mitwirkung. Ob diese Mitwirkung für das Publikum über den Film hinaus eine Bereicherung war, sei dahingestellt, für mich war es eine!

3.7 Jahresversammlung in Neu-Ulm (27. – 28. Mai)

Wir waren nach längerer Absenz wieder einmal auf der AI-Jahresversammlung vertreten. Unsere Delegierte schien die Gabe der Ubiquität zu besitzen, denn sie scheint an vielen Orten gleichzeitig gewesen zu sein. Beeindruckt hat sie der Auftritt der Partnersektion aus Ghana und der Flashmob zum Thema Waffenkontrollvertrag.

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3.8 Infostand in Miesbach (30. Juni)

"Steht der Sommer bald ins Land, ist in Miesbach Infostand", würde ein Held der Lyrik dichten und einen gequälten Aufschrei beim Leser hervorrufen. Da dieser Infostand immer um den 26. Juni, dem "Tag zur Unterstützung der Opfer der Folter" stattfindet, hat der "gequälte Aufschrei" in der Wirklichkeit eine andere Dimension. Diesmal war eines der Themen der Protest gegen die Fortdauer von Folter durch Polizei und Geheimdienste in Ägypten. Darüber hinaus ging es wieder einmal um Straflosigkeit in der DR Kongo.

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Der "große Renner" aber war die Kampagne "Hände hoch für Waffenkontrolle". Es gab zwar schon griffiger Kampagnenslogans, aber das Thema interessierte die Leute, auch weil zu der Zeit die UNO über Waffenkontrolle diskutierte. An uns und den Miesbachern lag es nicht, dass die Verhandlungen elendiglich scheiterten, denn wir konnten immerhin 36 Postkarten verteilen. Als Deko hatten wir eine großflächige AI-Zeitungs-annonce aufgehängt, die unter dem Motto "Alles muss raus" die Exportschlager der deutschen Waffenindustrie anpries und als Ergänzung einen Korb mit Spielzeugwaffen hingestellt, den wir mit der Aufschrift "Diese Waffen sind exporttauglich" bestückten.

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Die Berichte der Standbesatzung waren (überwiegend) positiv. Zwischen einem Kriegsteilnehmer an Weltkrieg 2 und einem Hauptmann, der in Afghanistan gedient hatte, entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch, ein(e) Passant(in) lobte unser Engagement, und eine Frau gab (scherzhaft) ihrer Sorge Ausdruck, mit ihrer Unterschrift eine Waschmaschine bestellt zu haben. Es fiel uns auf, dass eher ältere Leute zu einem Gespräch bereit waren. Ob bei ihnen die Vergangenheit präsenter ist? Die jungen Erwachsenen waren eher mit Existenzsicherung/Einkaufen beschäftigt: "Sie sehen doch, dass ich in Eile bin." Gelernt haben wir zwei Dinge: Die Leute, und wer würde ihnen das verdenken, geben ungern persönliche Daten preis, sodass wir in Zukunft auf Telefonnummer und Mailadresse besser verzichten sollten. Und: "Allzuviel ist ungesund", d.h. wir sollten uns auf ein Thema beschränken. Der Protest nach Ägypten und in den Kongo fiel eher verhalten aus.

3.9 Infoabend: "Traumatisierte Flüchtlinge im Exil" (10. Juli)

Wir sind jetzt als Gruppe soweit, dass wir unsere eigenen Referenten "produzieren". Maximiliane Brandmaier war früher Mitglied unserer Gruppe und hat ihre Diplomarbeit über traumatisierte Flüchtlinge geschrieben. Dank eines eindrucksvollen Plakates und gezielter Einladungen, die leider weitgehend ihr Ziel verfehlten, kamen 26 Besucher(innen), darunter mindestens vier, die nicht zu unseren Stammgästen gehörten.

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Die Referentin bemühte sich mit Erfolg, die Fachsprache der Diplomarbeit zu entschärfen und streute immer wieder Auszüge aus ihren Interviews ein, die das breite Spektrum der Flucht- und Aufenthaltserfahrungen abdeckten. Da gab es den Flüchtling, der aufgegeben hatte – "Ich läge als Toter tagelang in meiner Wohnung, und niemand würde es merken." -, da gab es aber auch Ansätze von Wirklichkeitsbewältigung, die Hoffnung machten – "Was ich durchgemacht habe, kann keine Therapie auslöschen, aber ich kann lernen, damit zurecht zu kommen". Die intensive Diskussion ging weitgehend um die Situation der Asylbewerber in Miesbach, die (bisher) keine Akzeptanzprobleme haben, recht gute Kontakte zu Sportvereinen, Kirchen und zum Netzwerk Integration haben, die aber vereinzelt auch schon in der Psychiatrie in Agatharied gelandet sind. Wie schrieb schon Bert Brecht? "Frag' nicht, was hat man aus mir gemacht? Frage, was habe ich gemacht aus dem, was man aus mir gemacht hat?"

3.10 Gruppensitzung in Hausham (20. Juli)

Aus der Rückschau ist nicht mehr so recht auszumachen, welcher Geist uns geritten hat, als wir bei dieser AI-Sitzung nach den üblichen zwei Stunden Planung, Aufgabenverteilung und Terminschlachtung zum gemütlichen/kulinarischen Teil übergingen. Vielleicht war es die Aussicht auf die lange Sommerpause (gut möglich), vielleicht das Jubiläum im fernen Oktober (eher unwahrscheinlich) – jedenfalls wurde es eine der ausgelassensten Sitzungen der Gruppengeschichte, die den Sprecher veranlasste, noch am gleichen Abend ein Zweitprotokoll zu erstellen, um die schlimmsten "Auswüchse" festzuhalten. Da wurden Personen verwechselt, die keine zwei Meter entfernt standen, da wurde über die Landkreisprominenz gelästert, nach Rezepten gegen Alpträume gefragt, ein heiliger Schwur auf Netzabstinenz geleistet, von Heiratsschwindlern im Netz berichtet, die Frage aufgeworfen, ob Folter und Todesstrafe mit einer Veranstaltung unter dem Motto "Sommerzauber" vereinbar seien und beharrlich moniert, dass immer noch nicht die Nachspeise aufgetragen sei. Nur die Gastgeber schienen etwas bedrückt zu sein. Sie dachten an die Berge von Geschirr und ihre kaputte Spülmaschine.

Wir waren unser zwölfe, aber das neue Mitglied wird sich gefragt haben, ob das nicht die Sitzung des Elferrates eines Karnevalsvereins gewesen ist.

3.11 Ausflug auf den Wendelstein (22. Juli)

Der Verein feiert weiter. Anneliese Lintzmeyer hatte uns zu ihrer begehrten Tour "Auf und Rund um den Wendelstein" eingeladen und uns eine Menge über Steine, Fauna, Flora, Erdgeschichte, Gletscher und Gipfelstürmer erzählt. Sie wusste alles, nur nicht wie man den Nebel vertreiben kann, der uns nur verließ, als wir in die Höhle hinunterstiegen. Nach einer zünftigen Brotzeit ging es talwärts, bahnmäßig. Wären wir doch zu Fuß gegangen wie Familie Wiegert, dann wären wir nach 100 Metern in der Sonne marschiert! Als wir nämlich an der Talstation einen nostalgischen Blick zum Gipfel warfen, segelte gerade das letzte Wölkchen ins Weltall und ein makellos blauer Himmel streckte uns die Zunge heraus. Wir werden dem Hl. Petrus einen Protestbrief schreiben – mit AI-Briefkopf, versteht sich!

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Etwas benebelt

3.12 Geburtstagsfeier (21. September)

Schließlich mussten wir uns von unseren aufreibenden Juliveranstaltungen erholen. Der Wunsch des Gruppensprechers, er möchte 40 und AI im Landkreis Miesbach dafür 70 sein, konnte leider nicht erfüllt werden. Aber mit seinen neuen gefederten Teleskopstecken wird er jetzt dem Felix Baumgartner entgegenspringen.

3.13 Infostand in Holzkirchen (13. Oktober)

Es wurde Zeit, wieder loszulegen. Und wie wir loslegten! Wir nahmen den Marktplatz von Holzkirchen im Sturm. Das Foto trügt: Es zeigt die Ruhe vor dem Sturm.

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Das Thema war dankbar, wenn auch nicht sehr erfreulich: Todesstrafe in Asien (Japan, Indien, Singapur) – im Gegensatz zu Westafrika leider im Aufwind. Wir waren sehr günstig platziert und traten zum ersten Mal mit unserem neuen AI-Banner auf. Auf den drei Petitionslisten kamen 180 (in Worten: einhundertachtzig) Unterschriften zusammen. Manchmal standen die Leute Schlange, nicht wegen der Sonderangebote, sondern um unterschreiben zu können. Ein Gruppenmitglied mit Infostanderfahrung meinte dazu: "Das war ein schöner Moment." Und wir kamen mit vielen Leuten ins Gespräch. Eine Japanerin erzählte uns , dass es in Japan keine öffentliche Diskussion über die Todesstrafe gäbe, Eltern erklärte ihren Kindern, wie wir es besser nicht hätten tun können, dass die Todesstrafe eine Verletzung des Rechts auf Leben sei, ein junger Mann unterschrieb und verteidigte vehement das Verbot der Abtreibung auch bei Vergewaltigung, und mehrere Leute fragten uns, warum wir die USA nicht auf unserer Liste hätten. Wir konnten guten Gewissens versichern, dass die auch schon dran waren und auch wieder drankommen würden. Obama würde jetzt nur noch schnell die Waffengesetze verschärfen und dann die Todesstrafe abschaffen. (Haha!)

Bei diesem "Ansturm" konnten wir es leicht verschmerzen, dass eine Frau ihre Unterschrift mit der Bemerkung verweigerte: "Die werden es schon verdient haben."

3.14 Festabend zum 40-jährigen Bestehen von Amnesty International im Landkreis Miesbach (20. Oktober)

Schon der Name des Abends, der umständlich wie der Titel einer AI-Kampagne daherkam, war Programm: Wir wollten richtig auf die Pauke hauen. Stimmt – eine Pauke war auch dabei beim Martina-Eisenreich-Quartett, das sich, getreu dem Sprichwort "Der Starke ist am mächtigsten zu fünft" auch noch Andreas Hinterseher, ein "Gewächs" des Gymnasiums Miesbach, geholt hatte. Der "Merkur" gab der Begeisterung des Publikums poetischen Ausdruck: "Eruptives Schlagwerk ließ den Saal vibrieren, dazwischen wob Martina Eisenreich mit ihrer Geige satte Melodien."

Doch alles der Reihe nach. Wir trafen im Vorfeld auf eine Bürgermeisterin, Frau Pongratz, die sich mit einem "Selbstverständlich, Herr Weigl" bereit erklärte, das Grußwort zu sprechen (und das obwohl gleichzeitig der CSU-Parteitag stattfand), auf eine Schulleiterin, Frau Tojek-Rieth, die uns, ohne auch nur eine Sekunde Bedenkzeit zu erbeten, in ihre brandneue Aula ließ und auf einen Hausmeister, Herrn Kirchberger, der uns in jeder Hinsicht unter die Arme griff und selber Hand anlegte. Dank gebührte auch Herrn Weigl jun. für die Überwachung der Technik und Frau Jooß, die mit ihrem Textprojekt "Menschenrechte" für die Dekoration des Saales sorgte.

Entsprechend groß war der Optimismus, der uns bei der Bestuhlung antrieb. Wir stellten 160 Stühle auf und hielten noch 30 im Rückhalt. Dann kamen - zwischen 80 und 90 Zuhörer(innen), aber was für welche: Frau Pongratz mit Ehemann, fünf Stadträte, Ex-AI'ler und fast die ganze AI-Gruppe, der Bibelkreis und andere unentwegte Sympathisanten. Das "Gelbe Blatt" schoss ein eindrucksvolles Mannschaftsfoto (diesmal ganz ohne Nebel), das Bild des "Merkurs" verteilte die begrenzte Zahl geschickt über den ganzen Raum. Die

80 Leute, die uns abgingen, waren vermutlich beim Konzert der Rainbow Gospel Voices, die wir letztes Jahr geliebt, aber dieses Jahr gefürchtet haben.

Die Stimmung hat sich aber schnell gebessert, als Frau Pongratz ihr engagiertes Grußwort gesprochen hatte und uns mit einem wunderschönen Zitat von Albert Einstein – "Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen, die böse sind, sondern von denen, die das Böse zulassen." – eine großzügige Spende der Stadt

überreichte. Wir lasen einige Texte aus der Vereinsgeschichte und aus "Spuren im Land", die wir anlässlich der 40 Jahre AI neu verlegt hatten, und teilten schließlich dem Publikum noch mit, "wie wir lernten, kein Gutmensch zu sein". Wir räumen offen ein, dass die Texte besser waren, als unser Vortragsstil, aber was Virtuosität anbelangte, hatten wir ja die Musik im Hintergrund.

Als wir die 190 Stühle wieder aufräumten, waren wir einhellig der Meinung, dass es ein gelungener Festabend war, auch wenn uns bei unseren Erwartungen (Besuch, Spenden) etwas mehr Bodenhaftung gut getan hätte.

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Ein imposanter Aufmarsch

3.15 Ausstellung: "40 Jahre AI im Landkreis Miesbach in der Stadtbücherei (12. Oktober - 10. November)

Auf einem Aufruf zur Teilnahme an einem Spendenlauf, eins der wenigen Sachen, die wir noch nie gemacht haben und auf den die Gruppenmitglieder, die auf dem Altenteil hocken, auch in Zukunft verzichten werden, heißt es "Menschenrechte brauchen Ausdauer". Schon recht, aber sie brauchen auch ein Archiv. Sonst wären wir bei unserer diesjährigen Ausstellung ganz schön auf dem Trockendock gesessen. So aber haben wir mit spitzen Fingern in weißen Handschuhen die vergilbten Dokumente aus unseren AI-Folianten geholt und eine respektable Retrospektive auf 40 Jahre Vereinsgeschichte zusammengestellt. Unsere bewährten Hänger Thomas Fischer und Siegi Komm haben zusätzlich in mühevoller Kleinarbeit eine bunte Leiste aus Titelblättern der Amnesty Journale angebracht, die die zehn Schautafeln wie ein Bänderfries in einer romanischen Kirche verband.

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Auf eine Vernissage hatten wir wegen des Festabends bewusst verzichtet, boten aber an den Donnerstags- und Samstagsvormittagen eine Führung durch die Ausstellung an. Das Angebot wurde mit unterschiedlichem Interesse wahrgenommen. An einem Vormittag folgten gleich zehn Leute unserer Einladung bzw. Nötigung, an einem anderen Vormittag konnten wir die ermutigende Äußerung hören: "Nein, danke. hatte schon letzte Woche kein Interesse." Dafür standen wir beinahe jeden Tag im Veranstaltungskalender des "Merkurs". Dank gebührt natürlich auch der Stadtbücherei und der Stadt Miesbach, die uns mit solchen Ausstellungen nicht im Freien stehen lassen.

Wir haben keine Körbe von Rückmeldungen erhalten, aber diejenigen, die etwas gesagt haben, waren voller Bewunderung für das, was wir im Laufe der 40 Jahre auf die Beine gestellt haben. Und ohne alle Bescheidenheit ist anzumerken, dass diese Bewunderung auch von der Gruppe selbst geteilt wurde.

3.16 VHS-Vortrag: Tadschikistan – Land des Wassers (7. November)

Unser Treuepartner, die VHS Miesbach, hatte uns eingeladen, eine Abendveranstaltung zum Thema "Tadschikistan – Land des Wassers" mit zu tragen. Dem kamen wir gerne nach, da man uns zugestand, wir dürften fünf Minuten über die Menschenrechtssituation im Lande berichten – in einem Land, das wir, ehrlich gesagt, zunächst auf der Karte suchen mussten. Man glaubt gar nicht, was man in fünf Minuten alles unterbringen kann, wenn man von einer rührigen Zentralasien Ko-Gruppe mit Material beliefert wird: Gewalt gegen Frauen und Mädchen, Beschränkung der Meinungsfreiheit, Folter in Polizeigewahrsam und Gefängnissen sind die Knackpunkte. Da wir in diesem Jahresbericht auch einige kritische Bemerkungen über die bayrische Polizei losließen, ist es an der Zeit, die Relationen etwas zurechtzurücken. "In Tadschikistan hat man mehr Angst vor der Polizei als vor dem Verbrechen." Das ist bei uns nicht der Fall – nicht einmal in Rosenheim.

Wenn man nach diesen fünf Minuten geglaubt hat, man könne sich jetzt als AI'ler behaglich zurücklehnen, hatte man sich getäuscht. Auch in der folgenden Präsentation gab es Berührungspunkte mit der Menschenrechtsproblematik, z.B. als man auf die faulen Tricks zu sprechen kam, mit denen der Diktator Rachmon seinen Untertanen das Geld abpresst, das er für die Verwirklichung seines Staudammprojektes braucht. Und außerdem haben es die beiden Referenten verstanden, uns durch wohl dosierten Medieneinsatz und ergreifende Interviews ein fernes Land sehr nahe zu bringen. "Uns", das waren immerhin 20 Leute, fast die Hälfte AI-Mitglieder.

3.17 Ökumenischer Gottesdienst in der Apostelkirche in Miesbach (24. November)

Das Vorbereitungsteam von Pfarrer Sergel, Diakon Blüm und Mitglieder der Christenfraktion in unserer Gruppe (Helga Geh, Seppi Weiher, Hedi Schmid) hatte sich einiges einfallen lassen, um den Abschluss unserer Festivitäten "Mit Gott" zu feiern. Wir konnten darstellen, wie wir uns als Gruppe entwickelt haben, wem wir Dank schulden, was wir erreicht haben und was es noch zu tun gibt. Deborah Wiegert hatte eine Kerze gefertigt, deren Schönheit nach einer spektakulären Stacheldrahtdurchschneideaktion erst richtig zum Vorschein kam. Pfarrer Sergel griff diese Aktion in seiner Ansprache auf und gab dem Gottesdienst das Thema vor: Von der Eingrenzung zur Befreiung durch die Macht des Wortes Gottes. Das Hoffnungslied zweier Südamerikaner im mitreißenden Tangorhythmus leitete zu einer Kerzenaktion über, die Osternachtsstimmung aufkommen ließ. Und als im Schlusslied plötzlich die 40 Jahre auftauchten, wenn auch in einem der Situation nicht gerade entsprechenden Zusammenhang (" … sei über vierzig Jahre im Himmel, bevor der Teufel merkt, du bist schon tot."), war sogar ein direkter Bezug auf unser "Jubiläum" geschaffen.

Besucht wurde der Gottesdienst von etwa 40 Leuten, musikalisch begleitet und durchdrungen wurde er von Andrea Wehrmann und Gertraud Bommer und beschlossen wurde er im Stehcafé. Wir konnten 23 Briefe an Präsident Monti/Italien verteilen, in denen er zur Untersuchung einer Flüchtlingstragödie im Mittelmeer aufgefordert wurde und für die Aktion zugunsten der iranischen Journalistin Nasrin Sotoudeh gingen uns sogar die U-Listen aus. Wir danken allen, die am Gottesdienst in irgendeiner Form teilgenommen haben – selbstverständlich auch dem Fotografen, der ursprünglich nicht vorgesehen war. (!)

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3.18 Adventszauber (9. Dezember)

Schon seit Jahrzehnten sind wir auf den diversen Miesbacher Weihnachtsmärkten vertreten und dürfen uns rühmen, mit unseren Waren das Angebot zu bereichern – um es einmal vorsichtig auszudrücken. "Unsere Waren" ist natürlich stark zu relativieren: Wir sind die Einsammler und Verkäufer, verlässliche Lieferanten sind und waren die Berufsschule Miesbach, der Missionskreis Fischbachau, Frau Schmalhofer-Jacobi, Frau Schreiber, Frau van de Kooij (+), Herr Haller, Herr Schmucker, denen wir wieder herzlich danken. Wir haben zwar wieder die Erfahrung gemacht, dass die Marktbesucher lieber anderswo ein Glas Glühwein schlürften, bei uns ein paar Socken kauften, um unsere Prunkstücke aber einen respektvollen Bogen machten. Die mussten wir weitgehend selber kaufen. Dennoch gelang es uns, das Vorjahrsergebnis leicht zu übertreffen.

3.19 Weihnachtsschaukasten

Man kann zum Abriss des Sundheimers stehen wie man will, wir verloren dabei "unseren" Schaukasten, genauer gesagt den Schaukasten "Vereine", den uns die Stadt seit den Tagen von Frau Hebestreit kostenlos zur Verfügung gestellt hatte. Unseren Dank müssen wir verdoppeln, denn sie räumte uns postwendend ein Fenster in der Fußgängerpassage des Stadtplatzes ein, den wir mit einer Fotostrecke mit "Bildern aus dem (un)Heiligen Land" dem Zeiten- und Jahreslauf entsprechend einweihten. Wir möchten ihnen die Bilder von den Zerstörungen in Südisrael und dem Gazastreifen ersparen und drucken nur das letzte Bild der Serie ab.

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Frauen in Gaza feiern den Waffenstillstand

Nicht ersparen aber wollen wir Ihnen, wie sich zwei Israelis die Zukunft vorstellen. Der Geograf Oren Yiftachel fordert eine "Neugründung Israels" als ein Staatswesen, das den Siedlungsbau einstellen, die Besatzung beenden und das Land zwischen Meer und Jordan gerecht aufteilen muss. Naftali Bennett, der "Moses reloaded" (SZ), will das Westjordanland zu 60% annektieren und auf dem restlichen Areal unter israelischer Aufsicht einen Tummelplatz für staatenlose Palästinenser einrichten. In den Wahlen im Januar hat Bennetts Partei gute Chancen, zweitstärkste Kraft zu werden. Dann: Fröhliche Weihnachten! Ganz so schlimm kam es im Januar 2013 dann doch nicht. Bennetts Partei durfte als Vierte nicht aufs Siegertreppchen, und wenn's läuft wie im Sport, steht zu hoffen, dass er bald wieder vergessen ist.

Beim Stichwort Öffentlichkeitsarbeit dürfen wir natürlich die Ortseingangsschilder von Miesbach nicht vergessen, die einen Monat lang mit dem ai-Kürzel die Autofahrer verunsicherten.

4. Fälle und Kampagnen

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Da der Tätigkeitsbericht bedrohlich auf die Dimensionen eines Ken Follett Schinkens zusteuert, seien unsere Schreibtisch- und Sammlertätigkeiten in Kurzform geschildert.

4.1 Briefaktion Nordkorea (Februar):

Im Januar sollen Häftlinge amnestiert worden sein. Ihre Zahl blieb unbekannt. Bei geschätzten 200 000 dürfte die Auswahl etwas schwierig gewesen sein. Unser Brief an den nordkoreanischen UN-Botschafter in Genf prangerte die unmenschlichen Haftbedingungen in den Arbeitslagern an. Das einzige bekannte Foto aus einem Straflager zeigt die verschwundene Familie Oh im Lager Yodok. Man kann sicher sein, dass sie vor dem Fototermin noch tüchtig abgefüttert worden sind – so wie Hänsel und Gretel.

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4.2 Protest gegen Militärgerichtsverfahren an Zivilisten in Ägypten (März)

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Wir sammelten 43 Unterschriften, 30 davon allein im Weltladen. Prominentestes Opfer war der Blogger Maikel Nabil Sanad. Er studiert jetzt in Deutschland und wir hoffen, ihn 2013 nach Miesbach locken zu können – ohne Mitwirkung der Militärpolizei versteht sich.

4.3 Solidaritätsaktion für die Frauenorganisationen in Jemen (Frauentag)

Das ist das Land, wo die netten Familienfotos herkommen, auf denen der (Ur)Opa neben der (Ur)Enkelin sitzt. Das Mädchen sieht traurig aus, denn der (Ur)Opa ist ihr Ehemann. Wir sammelten 42 Unterschriften, darunter waren sechs Stadträte.

4.4 Petition nach Aserbaidschan (Mai)

Im Land gibt es gravierende Verstöße gegen die Meinungsfreiheit und gewaltsame Angriffe auf Blogger, Journalisten und Demonstranten. Obwohl wir mit unseren 22 Unterschriften nicht allzu viel Unmut produziert haben dürften, landete der deutsche Beitrag zum Eurovision Song Contest lediglich auf Platz 8. Die Aserbaidschaner allerdings gaben uns 0 Punkte.

4.5 Unterschriftsliste für einen "robusten" Waffenkontrollvertrag (Juli)

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Weltweit kamen 620 000 Unterschriften zusammen, 62 510 aus Deutschland. In Miesbach haben elf Stadträte aller Parteien unterschrieben. Trotzdem ist die Konferenz schmählich gescheitert. Die Politik will nicht, was die Bürger wollen. Zum Trost das eindrucksvolle AI-Kampagnenplakat.

Und zum März 2013 hin sammeln wir wieder. Da ist die nächste Konferenz.

4.6 Gerechtigkeit für Opfer von Sexualverbrechen in Kolumbien (November)

4.7 Kampagne gegen die Todesstrafe

Wir begrüßten im Juli, dass Benin/Westafrika ein UN-Protokoll unterschrieben hat, das auf Abschaffung der Todesstrafe abzielt, wir protestierten gegen die Berg- und Talfahrt in Gambia/Westafrika, wo im August neun Gefangene hingerichtet wurden, was einem 27-jähriges Hinrichtungsmoratorium ein jähes Ende setzte, und wo der Präsident erst nach geballten internationalen Protesten davon abließ, die verbliebenen 38 Kandidaten exekutieren zu lassen. Richtig durchgeatmet aber haben wir im Mai dieses Jahres: Nach jahrelangen Protesten kam in Nigeria Patrick Okoroafor frei, der als 16-Jähriger zum Tode verurteilt und nach 17 Jahren Haft entlassen wurde.

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Die Zahlen von 2011: 21 Staaten vollstreckten Todesurteilen, in 63 Staaten wurden welche verhängt.

4.8 Unser Fall: Abolfazl Abedini Nasr/Iran

Wir schrieben zwei Briefe an den Justizminister und an den Generalsekretär des Obersten Rates der Menschenrechte. Die Herren geruhten nicht zu antworten. Muss ein Ganztagesjob sein: die Justiz zu beugen und die Menschenrechte zu ignorieren.

5. Briefe gegen das Vergessen und sonstige IT-Erlebnisse

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Unsere Monatsaktion, bei der Sie drei vorgefertigte Briefe mit Hintergrundinformation erhalten/bzw. erhalten würden (Papierfraktion Tendenz fallend), oder die Sie von unserer Homepage abrufen können/könnten (Mailfraktion – Tendenz steigend) erreicht derzeit einen Personenkreis von ca. 90 Personen. Zuwachs natürlich erwünscht! Wir bemühen uns, Sie über den Fortgang der "Fälle" auf dem Laufenden zu halten. Heuer erreichte uns beispielsweise eine Rückmeldung aus Mexiko, wo Rosina Valentina Cantú, ein Vergewaltigungsopfer aus dem Jahre 2005, vor dem Interamerikanischen Gerichtshof ein Urteil erzwang, das Mexiko verpflichtet, die Verbrechen von Militärs vor Zivilgerichten zu verhandeln. Zu danken ist in diesem Zusammenhang Rachel Bull und Irene Scherm, die mit ihren Übersetzungen ihr früheres Engagement bei AI-Miesbach aus der Ferne fortsetzen.

Zum ersten Mal wurden wir auch aufgefordert, einen Protest in den Iran per Twitter loszulassen. Ob die das "Gezwitscher" eher hören, bleibt dahingestellt.

Schlechte Erfahrungen haben wir mit Flickr gemacht, genauer gesagt mit der Flickr-Kompetenz der AI-Zent-rale in Berlin. Flickr ist, wenn Sie es (wie ich) nicht wissen sollten, ein Fotoverteilungssystem, mit dem man Fotos in alle Welt verschicken kann. Wir waren aufgefordert worden, Solidaritätsfotos für die Stadt Bodo im Nigerdelta/Nigeria, die von einer Ölkatastrophe bedroht ist, zu schießen, doch aus Berlin kam auf Anfrage die Meldung, dass die Aktion so nicht durchführbar sei. Unser IT-Beauftragter meinte dazu – etwas frustriert:

"Seitdem existieren im Web Fotos von uns, die keiner sehen kann, besonders nicht die Opfer in Nigeria, wie ursprünglich geplant. Manchmal ist es mühsam, modern sein zu wollen."

Die (ewig gestrigen) IT-Skeptiker in der Gruppe rieben sich die Hände.

Die Hände gerieben haben wir uns auch, als wir Ende Mai die Monatsbriefe in der katholischen Kirche zählten. Wir hatten einen Brief für den Priester Nguyen Van Ly/ Vietnam ausgelegt, der inzwischen den Status eines Drehtürengefangenen besitzt. Von den zehn Briefen waren nur noch drei übrig. Ein neuer Rekord! Hoffentlich hat es auch dem Priester geholfen!

6. Die Finanzen

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Diesen Abschnitt können wir besonders knapp halten. Nicht weil wir knapp bei Kasse sind, sondern weil wir wieder problemlos unseren Jahresbeitrag von 2300,- Euro zusammenbrachten. Wir sind zwar nicht so reich, dass wir Steinbrück zu einem Referat einladen oder für die Regierung das Betreuungsgeld übernehmen könnten, aber wir haben nicht zu klagen. Durch Eigenleistung, mit zwei Sammelbüchsen in einer Holzkirchner Buchhandlung, aber v.a. durch die hartnäckige Großzügigkeit unserer Spender(innen) und Förder(innen) schrieben wir tiefschwarze Zahlen. Wir danken von Herzen – und würden das gerne auch wieder nächstes Jahr tun.

7. Die Gruppe

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Dank dreier Neuzugänge, eine davon mit Einzelmitgliedsvergangenheit, haben wir eine dramatische Verjüngungskur durchgemacht. Ob sich als Folge die ältere Generation (gelegentlich) wohlverdiente Verschnaufpausen gönnen oder sich gar bequem zurücklehnen wird, werden wir sehen. Wenn Sie mitmachen wollen, sind Sie herzlich eingeladen, ganz gleich ob sie das Durchschnittsalter der Gruppe heben oder senken. Von uns gegangen ist Uta Peter, die über den Arbeitskreis Asyl zu Amnesty gestoßen ist und ein wichtiges Bindeglied zur evangelischen Kirchengemeinde darstellte. Der Herr gebe ihr die ewige Ruhe!

8. Ausblick

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Nach den Kraftakten der beiden letzten Jahre – 50 Jahre Amnesty International (2011), 40 Jahre AI im Landkreis Miesbach (2012) – werden wir heuer kleinere Semmeln backen, wenn es denn die Umstände zulassen. Geplant sind, wie erwähnt, der Infoabend mit Ali Samadi Ahadi, eine Ausstellung über die Geschichte der Frauenbewegung im Iran zum Frauentag am 8. März und eine Musikveranstaltung in Zusammenarbeit mit der WeyHalla in Weyarn. Außerdem möchten wir einen zweiten Einzelfall übernehmen. Ob da noch viel Zeit zum Verschnaufen bleibt?

Danke für Ihre Geduld. Was jetzt noch kommt, ist Geschichte.

Spuren im Land (13): "Es war doch schon fast vorbei."

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Es war am 4. Mai 1945. Drei Tage zuvor war es dem amtierenden Bürgermeister von Miesbach, Carl Feichtner, gelungen, den Stadtkommandanten Oberstleutnant Barbarino von seinem Vorhaben abzubringen, "Miesbach bis zum Letzten" zu verteidigen, war die Schlierachbrücke durch den mutigen Einsatz Miesbacher Bürger vor der Sprengung durch die SS bewahrt worden, war eine nächtliche Werwolfaktion nur daran gescheitert, "weil der Werwolfführer wegen totaler Betrunkenheit aktionsunfähig war". Bevor die Stadt am 2. Mai den Amerikanern kampflos übergeben werden konnte, waren noch bange Minuten zu überstehen: Die Amerikaner wurden beim Einmarsch beschossen, und vom Stadelberg her schlugen noch einige Artilleriegranaten ein und rissen einer Frau die Lunge auf. Der amerikanische Befehlshaber konnte nur mit Mühe davon abgehalten werden, "Luftunterstützung" anzufordern. Was den Miesbacher Stadtpfarrer Trasberger bewogen hat, in seinem Einmarschbericht vom 30. Juli 1945 von einem "ruhigen und reibungslosen Einmarsch" zu sprechen, bleibt ein Rätsel.

Allerdings nimmt der Stadtpfarrer kein Blatt vor den Mund, als er auf die ersten Wochen der Besatzungszeit zu sprechen kam:

"Wegen der drohenden Stellungnahme der SS hatte Miesbach wochenlang eine recht harte Besatzung wie wohl kein Ort der Umgebung, hauptsächlich durch Neger und Gaullisten, auszuhalten. Es wurde ein paar Wochen lang reichlich geplündert, in manchen Häusern die Einrichtungsgegenstände demoliert, gestohlen, geraubt, bei Tag auf offener Straße Uhren, Ringe usw. abgenommen; bis heute ist die Besatzung noch recht groß, viele Familien sind außerhalb ihrer Wohnungen recht dürftig untergebracht. In einigen Fällen hat man auch von schweren sittlichen Vergewaltigungen, sogar von Kindern, gehört."

Der Bürgermeister scheint wiederholt bei der Militärregierung vorstellig geworden zu sein, wurde aber mit dem Vorwurf abgewiesen, "dass das Leid, welches hier zu erdulden ist, nur einen kleinen Bruchteil dessen ausmache, was deutscherseits in den eroberten Ländern jahrelang verbrochen wurde". Aber wer Recht hat, ist nicht immer gerechtfertigt.

"Neger und Gaullisten" kommen in Aufsätzen über diese Zeit immer paarweise vor. Ihr 10-tägiger Aufenthalt in der Gegend ist weitgehend negativ besetzt, um es einmal vorsichtig auszudrücken. Wenn sie nicht auf "Freinacht" in Miesbach waren, lagerten sie auf der Pfarrerwiese in Müller am Baum, heute ein friedlicher Brotzeitplatz für Touristen. Damit sind wir bei unserer Geschichte angelangt.

Am Nachmittag des 4. Mai 1945 radelte der 21-jährige Toni Schweiger von Miesbach nach Müller am Baum. Er hatte für seine Großmutter Einkäufe getätigt. Auf dem Gepäckträger saß seine Freundin Maria. Beim Jackernbauer waren Amerikaner stationiert. Da sich Toni nicht ordnungsgemäß ausweisen konnte, forderten sie ihn auf, sich durch ein bayrisches Lied/einen Jodler "freizukaufen". Toni, ein begabter Musikant, sang das Bayrischzeller Lied und die beiden durften weiterfahren – bis sie in Müller am Baum auf die Franzosen stießen. Bei denen kam er nicht mehr so glimpflich davon. Toni war kurze Zeit bei der Waffen-SS gewesen, war aber aus gesundheitlichen Gründen (und auf eigenes Betreiben) wieder ausgemustert worden. Den alten Ausweis der Waffen-SS hatte er dabei, nicht aber den Ausmusterungsbescheid. Sein zweites Unglück war, dass er auf einen Franzosen aus Toulouse stieß, dessen Vater von der SS umgebracht worden war.

Maria durfte gehen und sollte ihn nicht wiedersehen. Toni wurde in der Papierfabrik eingesperrt und noch einmal gegen vier Uhr nachts gesehen, wie er abgeführt wurde. Oberhalb der ehemaligen Kiesgrube im Wald von Wall wurde er erschossen. Nach drei Tagen fanden ihn spielende Kinder, mit Ästen zugedeckt und die Hosentaschen nach außen gekehrt. Als Tonis Mutter die Nachricht bekam, fing sie laut zu schreien an, und auch später durfte man seien Namen nicht erwähnen, ohne dass sie in Tränen ausbrach.

Die Bergung der Leiche gestaltete sich schwierig, denn damals herrschte bereits Ausgangssperre. Man besorgte ein Pferd, hob den leeren Sarg hinauf und setzte die vierjährige Nichte Erika auf den Sarg, um leichter durch die Militärkontrollen zu kommen. Die Bergung der Leiche hat man ihr erspart und sie vorher bei einem Bauernhof abgesetzt.

Eine Untersuchung des "Vorfalls" hat es nie gegeben, bei einem späteren Besuch am Tatort hat man noch die Schusslöcher im Baum gesehen, und im Jahre 1947 hat man unterhalb des Tatortes ein Marterl aufgestellt, das von der Nichte Erika bis heute liebevoll gepflegt wird. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass das Marterl später einem Autofahrer das Leben gerettet hat, denn wenn ihn der Stein nicht abgebremst hätte, wäre er gegen einen Baum gefahren.

Der Standort des Marterls ist nicht leicht auszumachen, und irgendwie passt das zur (Nicht)Erwähnung des "Vorfalls" in der einschlägigen Literatur. In Michael Gasteigers "Heimatbuch", lange Jahre das Standardwerk über Miesbach, kommt der "Vorfall" nicht vor. Das ist für Gasteiger bezeichnend, denn schon die Nazizeit kam bei ihm kaum vor, aber dafür hat er sechs Seiten für die Räteregierung von 1919. Pfarrer Trasberger spricht in seinem Bericht von "einem oder zwei toten Soldaten am Ortseingang/Tölzerstraße", lässt aber offen, "ob es Amerikaner oder SS waren". Am deutlichsten wird noch Pfarrer Isenmann aus Wall, der in seinem Einmarschbericht vom 17. Juli 1945 schreibt:

"Im Pfarrwald wurde wenige Tage später (nach dem Fliegerangriff der Amerikaner um den 30. April) ein Soldat völlig ausgeplündert erhängt aufgefunden. Wie die Bevölkerung von Müller am Baum erzählte, haben ihn dort durchziehende Franzosen aufgegriffen und mit fortgenommen."

Es spricht einiges dafür und anderes dagegen, dass es sich hier um Toni Schweiger handelte. Der Pfarrer nennt keine Namen, und das mit den "durchziehenden Franzosen" scheint auch nicht ganz zu stimmen. Umso genauer aber ist er bei Sachverhalten, die ihn selber betreffen. Als er von Plünderern im Pfarrhaus spricht, vergisst er nicht zu erwähnen, dass "sie den Messwein suchten und fanden und alles mitnahmen – 27 Flaschen".

Den Diebstahl des Messweins kann man verzeihen, die Ermordung von Toni Schweiger nicht – trotz der Verbrechen, die "deutscherseits" begangen wurden.

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Wir danken unseren Informantinnen Elfriede Brandmaier und Erika Hagleitner (beide geb. Schweiger).

Kontaktadressen und Kontonummer

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Fritz Weigl (Gruppensprecher)
Wallenburger Str. 28d
83714 Miesbach
Tel. 08025 3895
Fax 08025 998030
Email : Fritz.Weigl@gmx.de

Bernard Brown
Carl-Weinberger-Str. 5
83607 Holzkirchen
Tel. 08024 3502
Mail: bernard.brown@web.de

Homepage: www.amnesty-miesbach.de

Bank für Sozialwirtschaft (BfS) Köln, BLZ 370 205 00 Konto-Nr. 80 90 100, Gruppe 1431 (Gruppennummer unbedingt mit angeben)

Wir danken für Ihr Interesse und Ihre Unterstützung.

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